Menschenversuch. Monika Landau

Menschenversuch - Monika Landau


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an seinen Füßen. Mühsam klopft er den Staub ab und sucht den Weg zur Stadt. Unter einer Brücke kniet er sich in den Schlamm, um aus dem Rinnsal zu trinken und schläft trotz des Verkehrslärms über seinem Kopf ein. Erst gegen Ende der Nacht macht er sich wieder auf.

      Später, nun schon in den Ausläufern der Berge, ziehen die demütigenden Stationen dieses Wegs noch einmal an ihm vorbei: An Nadias Türschild steht ein fremder Name und niemand öffnet. Als er beim Hauskontrolleur nach einem Schlüssel für seine Mansarde fragen will, stößt er auf ein neues Gesicht in der Uniform der Partei und macht kehrt – auch sein Name ist verschwunden. Die alte Frau im Lebensmittelladen erkennt ihn, gibt ihm Brot und Wurst, obwohl er nicht bezahlen kann – doch in ihren verschreckten Augen spiegelt sich sein Zustand. Weit außerhalb des Zentrums fahren Lastwagen voll grölender, fahnenschwingender Anhänger des Regimes an ihm vorbei; in einem von ihnen sieht er Reinhart. Für eine Sekunde treffen sich ihre Augen, doch der Sohn blickt über ihn weg, als gäbe es ihn gar nicht.

      Schließlich landet er im Herbstsommerwald, in dem die Bäche ausgetrocknet sind und das Wild ihn beäugt. Melancholisch zieht er sein Fazit: »Die Sprache ist mein einziger Anzug.« Er schläft im Dickicht, Ameisen laufen über sein Gesicht, die Hände, und er filtert seinen Hunger durch Reste von Waldbeeren. Wozu das alles noch, fragt er sich müde. Nach Tagen und am Ende seiner Kräfte findet er den einsam gelegenen Bergbauernhof; das altersschwache Holzhaus widersteht kaum noch den Jahreszeiten. Die beiden Alten nehmen ihn freundlich auf und geben ihm die kleine Kammer unter dem Dach. Wie ein Toter schläft er ein.

      Am anderen Morgen holt ihn der Bauer zur Heuernte; ein Wettersturz kündigt sich an. Zwar fühlt sich der Autor noch schwach, doch eine unerklärliche Energie scheint in ihm zu wachsen. Sein Land, die politische Welt, Unterdrückung und Folter verschwimmen vor der bewegungslos drückenden Hitze, die das Atmen erschwert. In großen Kiepen muss das getrocknete Gras der Berghänge zum Haus getragen und dort im Dachboden verstaut werden. Dabei sieht er, dass in dem kleinen Anbau eine magere Kuh und zwei Ziegen leben. Mit äußerster Anstrengung steigt er die Hänge auf und ab; nicht selten zucken Sterne vor seinen Augen und er muss sich hinsetzten, um wieder Kraft zu sammeln.

      So vergeht der Tag und am Abend, als schon das Gewittergrollen zu hören ist, zwingt er sich zum Essen – trotz Übelkeit und Kopfschmerzen vor Schwäche. Die Gastgeber bleiben wortkarg, fragen ihn nicht aus und scheinen zufrieden. Beim Löffeln aus dem Suppentopf in der Tischmitte tropfen dem alten Bauern die Reste aus dem Bart, seine rechte Hand hat nur noch drei Finger. Und seine Frau – das müde gewordene Gesicht noch faltiger als der Rock und die Schürze – schlürft so laut, dass beide sein Angebot, gegen Kost und Logis eine Weile zu helfen, zunächst nicht verstehen. Doch dann stimmen sie zu. Seinen ohnmächtigen Schlaf können dann selbst Donnerschläge nicht aufbrechen und auch die Träume vergehen spurlos. Als er im Frühdämmern erwacht, rauscht draußen der Regen und so schläft er weiter, unendlich lange, wie es ihm vorkommt.

      Aber mit der Rückkehr seiner Kraft erwachen auch wieder die Gedanken an das Andere: Zensur, Unterdrückung in der Redaktion, Überwachung. Was dann folgte: die vergebliche Flugblattaktion, Nadias Schreie und die Folter im Gefängnis scheint ihm so konsequent wie bitter als Zerstörung seines früheren Lebens. Denn obwohl er an der Quelle saß und genug Informationen über das Regime und die Dialektik seiner Vernichtungsstrategien hatte, machte er sich Illusionen über Möglichkeiten des individuellen Widerstands. Doch diese Einsicht ändert nun nichts mehr. Unter allerhand Gerümpel findet der Autor Packpapier und bittet den Bauern um Bleistift und Kerze. So hockt er – kein Nachtmensch zwar, aber irgendwie zeitlos diesmal – auf der alten Matratze und skizziert seinen ausweglosen Dialog mit der Realität.

      Dabei rechnet er auch mit der Staatskirche ab. Vermutlich könnte sich ja das Regime ohne die religiösen Bauchredner nicht lange halten: sie machen dem Volk weis, von den Göttern auserwählt zu sein und schon deshalb über das Pack der Ausländer und Andersgläubigen zu triumphieren. Ist Glauben an Gott, an Götter überhaupt ein Ausweg? Oder die weltabgewandte Lyrik des Eremiten? Soll er das Schreiben, vielleicht sogar das Denken aufgeben, um irgendwo unbehelligt zu leben – und sei es in dieser Kate im Gebirge? Soll er in ein anderes Land gehen, dessen Sprache er nicht beherrscht? Auch das wäre gleichbedeutend mit dem Verzicht auf Schreiben.

      Vor seinen Augen flimmern die Utopien einer besseren Welt, wie sie Philosophen, Theologen, Dichter und manchmal auch Sozialwissenschaftler ausgemalt haben – Bilder, die keine grausame Praxis zu ändern vermochten. Und es erscheinen Revolutionäre, die solche Änderungen erzwingen wollten und sich – wie die Tupamaros – in jahrelangen Kämpfen aufgerieben haben. Denn auch sie konnten weder kollektiven Egoismus, noch die – von Machthabern aller Schattierungen gezüchtete – Dummheit der Massen aufbrechen; wie im antiken Bild des Sisyphos fielen diese Bewegungen schließlich immer wieder in sich zusammen. Soll man also resignieren?

      Der Autor fasst einen Entschluss. Noch in dieser Nacht beginnt er mit dem Erzählen einer Geschichte wie der eigenen: von Illusionen, Erfolgen, Niederlagen – und von der so unerklärlichen wie zähen Kraft zum Weitermachen. Wie bei Sisyphos in der Antike. Wie Sisyphos: eine Überlebensfrage.

      Göttliche Träume unterscheiden sich von denen der Menschen. Menschen befreien sich durch Träume von der Realität, geben dem unterdrückten Unterbewussten Spielraum, sich auszutoben, damit es nicht verrückt spielt und zu stark in das Ich eingreift. Träume von Menschen spiegeln nicht die Realität wider, sondern sind die bizarre Schattenwelt des Erlebten, der Hades in dem die Triebe verbannt vegetieren.

      Göttliche Träume sind die zweite Wirklichkeit, die Kopie des Seins, und sie verlaufen in alle Zeitrichtungen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind eins im Traum der Götter. Es bedarf nur eines göttlichen Gedankens und Träume sind Realität oder Wirklichkeit mutiert zum Traum. Göttliche Träume verbrauchen soviel Energie wie ein realer Schöpfungsakt. Nur im Traum oder in der Ekstase sind die Menschen den Göttern nahe, vereinigen sich göttliche und menschliche Gedanken.

      Alpha war in einen abgrundtiefen Schlaf versunken. Ihr Geist verlangte nach Ruhe, ließ keine schöpferischen Träume zu. Auch der leblose Planet schlief, vom göttlichen Geist umhüllt. Noch waren die Elemente nicht vom Hauch des Lebens infiziert. Irgendwann regte sich dann Alphas Geist wieder. Zuerst träumte sie von ihrer Liebe und deren Verlust, von den Jahren der Mühe. Inspiriert von dem wärmenden Planeten tauchten neue Bilder auf, setzten sich Stück um Stück zusammen. Alphas Traumkraft nahm langsam von dem Planeten Besitz. Die tosenden Elemente auf der Oberfläche, die aus den Explosionswolken einer Supernova kondensiert waren, hatten sich beruhigt. Sie träumte die von ihr einst geschaffenen Gesetze der Biologie, Chemie und Physik. Und dann entwich ihr ein undurchdachter Gedanke. So zündete sie die Biogenese, die Flamme des Lebens, ohne die Folgen zu erkennen.

      Sie erwachte kurz. Zum ersten Mal fielen ihr die Widersprüche in sich selbst auf. Sie hatte all dies ausgedacht, konserviert, und war gleichermaßen nie bereit gewesen, ihrer Schöpfung freien Lauf zu gönnen. Wozu hatte sie das Theoriegebäude geschaffen? Nur für sich selbst? Ihre Zweifel verflogen wieder. Ihr Traum holte sie ein. Sie sah noch einmal dieser ungeheuren Entwicklung zu. Aus dem unkontrollierten chemischen Rauschen des Urozeans, der Ursuppe, umgeben von stinkender Urathmosphäre aus Wasserstoff, Methan, Ammoniak, Schwefelwasserstoff, Kohlendioxid und ein wenig Sauerstoff, erwuchsen die Urzellen, danach die Vielzeller und Kleinstlebewesen. Physik vermählte sich mit Chemie und Biologie, entwickelte die Pflanzen und Tiergattungen und letztendlich den Menschen.

      Diese zweibeinigen Wesen hatten sich, mit einem Urinstinkt und mit Bewusstsein ausgestattet, aufgebäumt und über die Natur gestellt. Sie gründeten Stämme und Staaten, entdeckten Naturgesetze für ihren Eigenbedarf und wandten sie an. Große Philosophen, Priester, Krieger, Wissenschaftler und Künstler kamen und gingen. Auf allen Kontinenten brodelte der menschliche Geist. Sumerer und Hebräer, Ägypter und Hunnen, Minoer und Mykener, Römer und Franken, Inkas und Azteken, Chinesen und andere Völker entwickelten Musik und Architektur, Malerei und Bildhauerei, Schauspiel und die Schrift. Aber sie erfanden auch Krieg aller Art und immer wirksamere Vernichtungsstrategien. Kulturen eroberten den Planeten und verfielen in Hinterhöfen menschlichen Unvermögens.

      Wissenschaftler


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