Pläne sind zum Ändern da. Dorina Kasten
alles, was du willst, Mutti, er macht uns einen Freundschaftspreis.“
„Der hat doch keine Ahnung, das kann ich alles machen“, krähte ihr Vater entrüstet.
Leider nicht mehr, dachte Nora, laut sagte sie: „Er kann dir ja ein bisschen helfen.“ Sie zwinkerte ihrer Mutter zu. „Jetzt muss ich aber los. Falls ich noch was einkaufen soll bis nächsten Mittwoch, ruft mich an.“ Im Rückspiegel sah sie ihren Vater mit dem Stock in Richtung Hühnerstall humpeln.
5
Zu Hause angekommen, fütterte Nora als Erstes die Pferde. Wenn Ralf spät heimkam, war das ihre Aufgabe. Weil es nachts noch ziemlich kalt werden konnte, entschloss sie sich, die beiden Stuten von der Weide zu holen. Sie machte in der Futterkammer zwei Eimer mit Hafer fertig und kippte sie in die Krippen der beiden Boxen. Als Nächstes öffnete sie das Tor zur Koppel. Als die Pferde das Klappern hörten, kamen sie erst langsam angetrottet und wurden dann immer schneller. Auf dem Platz vor dem Stall hielten sie an und ließen sich von Nora über die Nasen streicheln. Sie schmiegte sich an die warmen Leiber und genoss den vertrauten Geruch der Tiere. Jedes ging in seine Box und machte sich über das Futter her. Die beiden Füchse gehörten Ralf. Sie waren zwar seine alten Turnierpferde, aber noch jung genug, um Fohlen zu bringen. Er war nie wirklich erfolgreich gewesen und hatte auch viel zu wenig Zeit für das Training gehabt. Irgendwann hatte er die Turnierreiterei ganz aufgegeben. Jetzt ritt er nur noch selten. Schon das Aufsteigen bereitete ihm große Mühe. Nora fand das schade, denn etwas Sport würde ihm guttun. Vielleicht konnte sie ihn auf Island dazu überreden.
Sie gähnte. Es wurde langsam dunkel. Eine Weile sah sie den Pferden noch beim Fressen zu und ging dann zum Haus zurück. Der Katzennapf vor dem Eingang war noch halbvoll. Den würde sie erst morgen früh wieder auffüllen müssen. Sie selbst hatte auch keinen Hunger. Der Kuchen vom Nachmittag reichte völlig aus.
In der Küche las sie kurz Zeitung und räumte den Geschirrspüler ein. Anschließend ging sie durch alle Zimmer und schloss die noch geöffneten Fenster. Das alte Bauernhaus war viel zu groß für sie und Ralf geworden. Als Bea noch zur Schule ging, hatten hier öfter ihre Freundinnen übernachtet und sich in allen Räumen breitgemacht, sodass Nora ihr Schlafzimmer beinahe verteidigen musste. Wenn Bea am Wochenende mal von der Uni nach Hause kam, hatte sie in fast jedem Zimmer irgendwelche Dinge fallen lassen. Überall lagen Haarklammern, Bürsten, Unterwäsche, Taschen, Schmuck oder Bücher von ihr herum. Im Gegenzug benutzte sie alle Sachen ihrer Mutter, die dann fehlten, wenn sie wieder weg war. Ralf hatte scherzhaft erklärt, sie hinterlasse ihre Duftmarke. Nora räumte entnervt hinter ihr her und fand sie einfach nur unordentlich. Jetzt musste sie manchmal feststellen, dass ihr diese gewisse Unordnung fehlte, weil sie Lebendigkeit und Dynamik bedeutete und das Gegenteil von Einsamkeit war, die sie in diesem Riesenhaus manchmal empfand. Sie verzehrte sich als Mutter sicher nicht über ein gesundes Maß hinaus nach ihrer Tochter, aber manchmal vermisste sie die Zeit, als Bea klein gewesen war. In diesen Momenten wurde ihr schmerzlich bewusst, wie lange das schon her war. Der oft geseufzte Satz ihrer Mutter fiel ihr ein: „Kinder, wo ist die Zeit geblieben?“ Mehr als einmal fragte sie sich, was wohl noch kam in ihrem eigenen Leben. War es das jetzt? Eilte ihr Zug weiter auf seinem eingefahrenen Gleis oder wurde noch eine Weiche gestellt, die in eine unbekannte Richtung wies? Aber in welche? Eine unbestimmte Sehnsucht machte sich breit in ihrer Brust und drohte, ihr die Luft zu nehmen. Verwirrt brach sie ihre Gedankengänge ab. Vielleicht sollte sie einfach zufrieden sein mit dem Leben, das sie hatte. Eine Viertelstunde später stieg Nora in die Badewanne. Das Wasser war ziemlich heiß, aber nach dem kühlen Regenwetter tat das gut. Sie hatte eine Kerze angezündet und das Radio eingeschaltet, damit es nicht so still war. Sie war nicht gern allein in dem großen Haus. Seit Beas Auszug kam das natürlich oft vor, denn Ralf wurde manchmal mitten in der Nacht zu Notfällen gerufen und musste ja auch regelmäßig am Wochenende arbeiten. Dass er, so wie heute, zur Versammlung fuhr, war seltener. Sie hätte gern mit ihm über die neuesten Ereignisse in der Galerie gesprochen, ihm ihre Sorgen hinsichtlich der Ausstellungseröffnung mitgeteilt. Aber daraus wurde, wie so oft, nun nichts. Morgen würde es neue Ereignisse, möglicherweise neue Sorgen oder auch Lösungen geben, und irgendwann verpasste man dann den Zeitpunkt, dem Partner alles, was einen bewegte, zu erzählen. Ging das nur ihnen so? Oder war das ein Problem einer langjährigen Beziehung? Früher hatten sie sich alles erzählt. Oder hatten sie damals mehr Zeit gehabt? Oder den Drang, den anderen an der noch so kleinsten Gefühlsregung teilhaben zu lassen? Sie wusste es nicht. Aber wann immer sie zur Ruhe kam, musste sie darüber nachdenken. Sie hatte das Gefühl, als rasten sie nur noch durch den Alltag, alle beide. Obwohl er angeblich das Ende seines Arbeitslebens herbeisehnte, kam es ihr vor, als ob er jede Minute bis dahin auskostete - so wie ein dem Tod Geweihter, der noch möglichst viel erleben will. Das war paradox. Er führte ellenlange Beratungsgespräche mit den Besitzern seiner Patienten, trug sich freiwillig für Wochenenddienste ein und telefonierte beim Abendbrot mit Pharmavertretern. Sie hatte versucht, mit Ralf darüber zu reden.
Er hatte ihre Gedanken belächelt und sich wieder dem Fernseher zugewandt, so als ob ihr Problem nicht existieren würde.
Aber sie konnte doch nicht alles auf die „Zeit danach“ verschieben, die Zeit von Ralfs Rentnerdasein und ihrem Sabbatical. Sie lebten schließlich jetzt! Sie musste noch einmal versuchen, mit ihm zu sprechen. Es war allerdings schwierig, mit ihm zu diskutieren, wenn er ihre Zweifel und Gedanken nicht teilte. Dann hatte er keine Lust, all das „durchzukauen“, wie er es nannte. „Das ist eben so!“, war sein Standardsatz.
Bald war ihr dreißigster Hochzeitstag. Sie würde ihn zu einem Ausflug einladen oder zum Essen. Sie stieg aus der Wanne und trocknete sich ab. Danach stand sie vor dem großen Badezimmerspiegel und ließ das Handtuch fallen. Sie betrachtete ihren Körper, als ob in dem Bild von ihr die Lösung lag. Sie hatte ihre Figur stets gemocht, schaute sich auch jetzt, mit über fünfzig, gern an. Sie war immer noch schlank, nicht allzu klein und nur wenig Grau hatte sich unter die blonden Haare gemischt. Wenn sie nicht gerade in den Vergrößerungsspiegel sah, konnte sie außer den Krähenfüßen um die braunen Augen herum nicht viele Falten im Gesicht erkennen. Über der Oberlippe prangte ein kleines, etwa fünf Millimeter großes, dunkelbraunes Muttermal. Mit etwas Fantasie konnte man es herzförmig nennen. Als ihre Hautärztin vorgeschlagen hatte, es zu entfernen, hatte sie abgelehnt. Es gehörte zu ihr, seit sie denken konnte. Sie wollte es behalten. Die Brüste, na ja, die waren nicht mehr so schön wie früher, aber das konnte man wohl auch nicht erwarten. Groß und schwer, ja, aber prall? Das war einmal.
Was sah Ralf, wenn er sie anschaute? Diese Frage schlich sich sofort ein. Wann war das überhaupt zum letzten Mal gewesen? Meist liebten sie sich im Dunkeln, wobei das Wort „meist“ schon eine Übertreibung war. Irgendwas lief hier falsch. Sie musste nur herausfinden, was. Aber war das nicht auch normal in ihrem Alter, dass die Lust aufeinander nachließ? Dreiundzwanzig Uhr war jedoch eindeutig zu spät, um solche Gedanken zu wälzen.
Nora zog ihr Nachthemd an und ging ins Bett. Irgendwann gegen Morgen wachte sie vom Motorgeräusch eines Autos auf, schlief aber sofort wieder ein.
6
Am nächsten Tag in der Galerie machte Nora sich als Erstes daran, den Zeitplan bis zur Ausstellungseröffnung zu aktualisieren. Wie oft hatte sie das in den letzten Wochen getan? Sie hatte sich mit Günther zusammengesetzt, und sie waren noch einmal alle Punkte durchgegangen. Ganz genau hatten sie überlegt, was alles in welcher Reihenfolge erledigt werden musste, damit sie am Tag der Eröffnung fertig sein würden.
„Mein Kollege aus dem Museum in Wilkendorf hat erzählt, dass sie, kurz bevor die ersten Besucher vorne hereinkamen, hinten noch Schilder angeschraubt haben. Und fertig ist die Ausstellung nach wie vor nicht. Das ist heute so Mode, Nora. Damit zeigt man in unseren Kreisen, wie wahnsinnig viel man zu tun hat.“ Günther lachte und stand auf, um das Fenster zu öffnen und um sich die Hose hochzuziehen. Das tat er neuerdings dauernd.
Kein Wunder, dachte sie, der Bauch hängt über dem Gürtel. Sie fand, dass er sich ziemlich gehenließ.
Als sie ihn kennenlernte, hatte er sich noch mehr Mühe