Prostatakrebs-Kompass. Dr. med. Ludwig Manfred Jacob
sondern sich einfach von der fehlenden externen Androgenzufuhr (bei Androgenentzugstherapie) unabhängig gemacht haben. Neue Medikamente wie Abirateron und Enzalutamid haben hier ihren Ansatzpunkt. Andererseits wird deutlich, wie jeder extreme Eingriff zu einer Gegenregulation führt. Je niedriger die Androgenspiegel im Blut auf Dauer sind, desto mehr wird die Entwicklung der „scheinbar“ androgenunabhängigen, aggressiveren Karzinome forciert.
Neuroendokrine Differenzierung im Prostatakarzinom
Bonkhoff und Fixemer (2004) beschreiben die neuroendokrine Differenzierung im Prostatakarzinom als einen unerkannten und therapierefraktären Phänotyp: Neuroendokrine Zellen (Marker: Chromogranin A; ChrA) sind primär Androgen-insensitiv, da sie keinen AR tragen. Zudem sind neuroendokrine Tumorzellen gegen konventionelle Strahlentherapie resistent. Die Hauptmasse der ChrA-positiven Tumorzellen ist daher potentiell unsterblich und somit therapierefraktär. Einzelerfahrungen weisen darauf hin, dass transurethrale Hyperthermie und Hochdosis-Vitamin-C-Infusionen gegen ChrA-positive Tumorzellen wirksam sind.
Das Ausmaß der neuroendokrinen Differenzierung (messbar an der ChrA-Expression) nimmt im Rahmen der Tumorprogression und der Entstehung der Androgenresistenz kontinuierlich zu. Die höchsten ChrA-Expressionsraten und Serumwerte finden sich bei Patienten mit klinisch Androgen-insensitiven Karzinomen. Neuroendokrine Krebszellen haben eine langsame Proliferation, nähren jedoch durch Wachstumsfaktoren exokrine Tumoren in der Umgebung. Neuroendokrine Karzinome können sich unter Hormonblockade nach mehreren Jahren entwickeln, sind besonders aggressiv und gehen nicht mit einem wesentlichen PSA-Anstieg einher. Unter Hormonblockade können sich auch aus ehemals PSA-positiven Karzinomzellen neuroendokrine Karzinomzellen entwickeln.
In der Tabelle sind die unterschiedlichen Krebszelltypen mit den Kriterien Marker, Hormonstatus, Prognose und Therapie übersichtlich zusammengefasst (s. Tab. 1).
Tab. 1: Grobeinteilung der Prostatakarzinomzelltypen
Krebszelltyp | Marker | Hormonstatus | Prognose | Therapie |
Hormonsensitiv | Ähnlichkeiten mit sekretorischem Zelltyp des gesunden Prostataepithels (Zytokeratinmuster, PSA-Produktion, Androgenrezeptor) | androgenabhängig | Gut (in Abhängigkeit von GleasonScore und Metastasierung) | Stadienabhängig: active surveillance/watchful waiting, Prostatektomie, Bestrahlung, Hormonblockade |
Stammzellartig | Ähnlichkeiten mit Basalzellen des gesunden Prostataepithels (Expression von z. B. erbB-2, erbB-3, HER2-neu, EGFR und Bcl-2) | Scheinbar androgenunabhängig; starke Hypersensitivität und/oder Überexpression des Androgenrezeptors; Eigensynthese von Androgenen | Schlecht | Operation Off Label |
Neuroendokrin | Chromogranin A | Echt androgen- unabhängig | Schlecht | Operation |
3.5.2 Bedeutung der Östrogene für die Kanzerogenese
Einfluss des Östrogenspiegels
Auch wenn das Prostatakarzinom ein androgenabhängiger Tumor ist, ist die Bedeutung der Östrogene vielfach dokumentiert (Bosland, 2000). Ihre Kanzerogenität auf die Prostata ist im Tiermodell an Ratten belegt. Dabei potenzieren sie die kanzerogenen Eigenschaften des Testosterons: Ratten entwickeln unter Langzeitbehandlung mit Testosteron und Estradiol oder Diethylstilbestrol in 100 % der Fälle ein Prostatakarzinom (Bosland et al., 1995).
Epidemiologische Studien legen einen direkten Zusammenhang zwischen dem Östrogenspiegel und dem Prostatakrebsrisiko nahe. Schwarze US-Amerikaner haben höhere Serum-Estradiol-Werte als Amerikaner kaukasischer Abstammung und mit einer Inzidenz von 181 pro 100.000 Einwohnern eine fast doppelt so hohe Inzidenz von Prostatakarzinomen (Rohrmann et al., 2007). Im Gegensatz dazu haben Japaner sowohl besonders niedrige Östrogenspiegel im Blut als auch eine besonders niedrige Prostatakarzinom-Inzidenz (6,7 pro 100.000) (De Jong et al., 1991). Die bereits erwähnte Untersuchung an einer Kohorte von 17.049 Männern ergab keinen Zusammenhang zwischen Estradiol-Blutspiegeln und einem Prostatakarzinom (Severi et al., 2006). Entscheidend dürften daher nicht nur die Blutspiegel, sondern die individuellen Verhältnisse von Androgenen, Östrogenen, alimentär aufgenommenen Phytoöstrogenen und Rezeptorensituation sein. Beim älteren Mann, bei dem auch das Prostatakrebsrisiko stark zunimmt, verschiebt sich physiologischerweise das Gleichgewicht von Androgenen und Östrogenen um bis zu 40 % zugunsten der Östrogene (Ho et al., 2006a).
Einfluss der Biotransformation – Giftung von Östrogenen zu Kanzerogenen
Phase-1-Enzyme der Cytochrom-P450-Superfamilie transformieren Östrogene zu 2-Hydroxy- und 4-Hydroxy-Catechol-Östrogenen und ihren (Semi-)Chinonen, welche zu den potenten genotoxischen Kanzerogenen zählen. Semichinone entfalten ihre Genotoxizität durch ihren Radikalcharakter und verursachen zusätzlichen oxidativen Stress (Cavalieri et al., 2000; Jefcoate et al., 2000), Chinone reagieren mit DNA-Basen zu DNA-Addukten. Durch Phase-2-Enzyme wie beispielsweise die Catechol-O-Methyltransferase (COMT) werden diese genotoxischen Östrogen-Metaboliten entgiftet. Das Phase-2-Enzym Glutathion-S-Transferase entgiftet Chinone, fängt Semichinon- und weitere freie Radikale ab und begrenzt dadurch das Ausmaß der oxidativen Zellschäden.
Eine Reihe experimenteller Befunde belegt, dass die individuelle Enzymausstattung, insbesondere das Gleichgewicht von Phase-1- zu Phase-2-Enzymen, für die Pathogenese von Tumoren entscheidend ist. Dieses Enzymgleichgewicht wird einerseits auf genetischer Ebene reguliert (Expression), kann andererseits aber auch über die Nahrung beeinflusst werden (Aktivität). Daher sind für die Chemoprävention Pflanzenstoffe wichtig, welche Phase-2-Enzyme aktivieren und Phase-1-Enzyme hemmen. Diese Effekte sind für Flavonoide bereits bekannt und wurden ebenfalls für Granatapfel-Polyphenole vermutet und z. T. nachgewiesen.
Zwei unterschiedliche Östrogenrezeptoren
Die Wirkung von Östrogenen wird über die beiden Östrogenrezeptoren ER-alpha und ERbeta vermittelt. Bis Mitte der 1990er Jahre war lediglich ER-alpha bekannt, bis 1996 Jan-Ǻke Gustafsson den ER-beta entdeckte, der sich in Struktur, Wirkung und Gewebsverteilung deutlich von ER-alpha unterscheidet.
In der Leber und Gebärmutter überwiegt ER-alpha; in Knochen, Darm, Gefäßwänden sowie der Prostata ER-beta. In Mammae, Ovarien und Gehirn sind beide Subtypen in etwa gleichgewichtig. Die Östrogenrezeptoren gehören zu der Klasse der nukleären Hormonrezeptoren und besitzen sechs Domänen (A-F). Deutliche Unterschiede zwischen den beiden Subtypen ER-alpha und ER-beta liegen in der A/B-Domäne (ligandenunabhängige transkriptionelle Aktivierungsfunktion) und der F-Domäne (Liganden-Bindungsdomäne) (Kuiper et al., 1996), was zu sehr unterschiedlichen biologischen Effekten führt. Während das endogene Estradiol und Estron an beide Rezeptoren etwa gleichermaßen binden, haben pflanzliche Phytoöstrogene in der Regel zu ER-beta die höhere Affinität.
Auch innerhalb der Prostata unterscheiden sich die Expressionsmuster in den Gewebstypen und die biologischen Funktionen der ER-Subtypen deutlich. Im sekretorischen Epithel überwiegt ER-beta, während ER-alpha vor allem im Stroma und in geringerem Maße in der Basalzellschicht exprimiert wird. Im Stroma bewirken Östrogene über ER-alpha die Freisetzung von Wachstumsfaktoren, welche zu einer Proliferation des Epithels führen (Imamov et al., 2005). So kommen dem ER-alpha wachstums- und proliferationsfördernde Aufgaben zu, während der ER-beta proliferationshemmende