Hässliche Modetranse. Arielle Rippegather
aus den schon benannten Gründen des persönlichen Ehrgeizes, auf eine Hauptschule zu gehen. Die Klasse an sich war echt cool. Es gab vier 5. Klassen. Ich glaube rückblickend, die beste erwischt zu haben. Sie war bunt, voller Künstler und die Lehrer waren echt toll. Den krassen Gegensatz dazu bildete die Parallelklasse. Sie war bevölkert von bulligen, primitiven Kerlen mit genau einem Weltbild und Scheuklappen für andere Wege. Der Krieg begann und sollte die nächsten sechs Jahre andauern. Das tägliche Programm bestand daraus, dass sie vor mir auf den Boden spuckten und „Schwuchtel“ skandierten. Ich bekam im Laufe der Zeit Todesangst. Ich fürchtete körperliche Angriffe, mied sogar das Jungenklo aus Angst dort von ihnen angegriffen zu werden.
Meine wilden Mädchen – uns konnte keiner was!
Zum Glück gab es meine Freundinnen. Ich kam bei Mädchen schon immer gut an. In der Clique, mit der ich meistens unterwegs war, waren auch einige kampferprobte Amazonen, die durchaus in der Lage waren die Primitivos der Parallelklasse auf den Topf zu setzen.
Allerdings gab es ein Stück meines täglichen Weges, den ich alleine bewältigen musste. Und zwar fuhr ich mit einer anderen Buslinie als die Mädchen, versuchte so oft wie möglich das Fahrrad zu nehmen, um dieser Falle zu entkommen. Trotzdem zeigte mir das Schicksal eine lange Nase. Ich saß vorne im Bus, also nicht bei den Coolen auf der Rückbank. Einer von besagten Coolen holte mich eines Tages nach hinten in die „Business Class“ und haute mir was auf die Glocke. Da ging etwas in mir kaputt. Es war nicht der körperliche Schmerz, es war meine Seele, die zutiefst erschüttert war. Verprügelt zu werden wegen nichts, das ist nicht nachvollziehbar. Ich heulte zwei Wochen durch. Ich suchte mir fortan noch akribischer Wege, den Brutalos auszuweichen. Warum ich die Lehrer und meine Eltern nicht einweihte? Vielleicht, weil ich es alleine schaffen wollte. Ich wollte sie nicht belasten und irgendwie wollte ich auch kein Opfer sein. Ich rappelte mich also hoch und dann knallte ich völlig durch.
Mein Look wurde zur Rebellion an die Hater und zeigte:
Ich bin hier nicht das Opfer!
Sie nannten mich Schwuchtel, gut, dann sollten sie auch Schwuchtel bekommen. Ich machte mich zurecht und sah aus wie Bill von Tokio Hotel. Schwarze Haare, bis zur Decke toupiert, schwarze Augen und geschminkt. Und nein, ich konnte damals noch nicht schminken, war mir aber egal. Ich wollte in keine Norm passen, wollte einfach rausstechen. Die Hassattacken wurden größer, aber ich konnte nicht anders. Ich gebe mich nicht auf, verbiege mich nicht für andere. Ich bin ich. Wenn ich heute diese Fotos von damals betrachte, dann denke ich: Oh mein Gott! Schrecklich! Ein bisschen stolz bin ich aber auch, denn ich habe mich gewehrt.
Ich war vierzehn und hatte meine erste Depression. Meine Eltern erkannten das nicht. Sechs Wochen schloss ich mich nur in meinem Zimmer ein. Ich fühlte mich unwohl, weinte fast nur. Eigentlich wäre es damals schon Zeit für einen Psychologen gewesen. Ich versteckte meinen Zustand vor meinen Eltern. Ich schauspielerte schon damals ganz gut. Sie stellten keine Fragen mehr. Es war schlicht und ergreifend auch nicht verbreitet, dieses Krankheitsbild. Depression war etwas, weswegen man „sich nicht anstellen sollte“. Das Glück im Unglück war, dass ich viele soziale Kontakte hatte. Meine Clique in Oberhausen, die aus bunten Menschen bestand, die geschminkt waren, künstlerisch veranlagt. Ich verbrachte die Wochenenden in Oberhausen bei ihnen, war also nie auf mich selbst zurückgeworfen. Und doch ließ ich mich immer mal für eine Woche krankschreiben. Ich hatte Bauchschmerzen, in Wirklichkeit Depressionen und absolut keine Kraft, in die Schule zu gehen. Meine Energie wurde davon aufgezehrt, täglich etwas darzustellen, ein Bild zu vermitteln und dafür Gegenwind und Ablehnung zu bekommen. Das erschöpfte mich zusehends. Jugendliche drücken sich ja auch meist noch nicht so konkret aus, belassen die Beschreibung ihres seelischen Zustandes bei ein paar oberflächlichen Äußerungen. Klar, ich hätte mich bei meinen Mädels in der Schule ausheulen können, aber ich tat es nicht.
Stattdessen wurde ich immer lauter. Ich übertönte meinen Zustand. Ich wurde gewissermaßen unerträglich in meiner Extrovertiertheit. Ich war lustig und unterhielt die Leute. Bist du laut und stark, überlebst du. So lautete die schlichte Gleichung. Ja, ich überlebte. Aber ich machte so viel Lärm, dass ich meine innere Stimme überhörte. Viele Leute wundern sich, dass ich als Kind noch nicht merkte, transgender zu sein. Ja, das ist richtig und wohl meiner extrovertierten Art geschuldet. Ich war zum Beispiel in der Theater AG. An eine Begebenheit erinnere ich mich nur zu gut und noch heute macht sie mich unglaublich stolz. Wir hatten eine Aufführung und normalerweise benahmen sich auch alle, wenn jemand auf der Bühne stand. Bei mir war das natürlich nicht der Fall. Ich stand auf der Bühne und hörte jemanden aus der hinteren Reihe in der Mensa „Schwuchtel“ schreien. Das machte mich sauer. Also griff ich kurzerhand nach meiner Wasserflasche, ging während der Aufführung von der Bühne und schüttete dem Typ das Wasser über den Kopf. Meine Lehrerin kam hinterher zu mir und sagte mir, dass sie es super gefunden habe, dass ich den Kerl in seine Schranken gewiesen hatte. Eine Teilschuld gebe ich mir auch. Ich holte mir keine Hilfe, wuppte das alles alleine.
Einen Trost im lebensfeindlichen Alltag gab es für mich dann doch noch. Und zwar prägten mich zwei Frauen ganz besonders, Sarah Connor und Jeanette Biedermann. Ich wollte schon immer so sein wie sie. Zum einen ist das eine tolle Frau. Ein Mal traf ich sie persönlich. Außerdem kommentierte sie mein Outing-Foto mit „du bist wunderschön“. Das bedeutet mir viel, weil ich mich im Alltag öfter super hässlich finde. Ich wollte schon damals unbewusst immer so aussehen wie die beiden. Dies begriff ich aber erst Jahre später. Sie gaben mir Kraft und ich konnte mich, wenn ich ihre Musik hörte oder Interviews schaute, aus meiner schlimmen Welt wegträumen. Es hört sich krass an, aber hätte ich diese Personen und ihre Musik nicht gehabt, hätte ich meinen schlimmen Alltag nicht überstanden. Deshalb bedeuten sie mir heute noch viel. Irgendwie sehe ich nach meinen Operationen auch mittlerweile wie eine Mischung der beiden aus – woran das wohl liegen mag. Zum anderen ist das Jeanette Biedermann, zu der ich mehr Kontakt hatte als zu Sarah Connor.
Ich mit meiner unbewussten Inspiration und größtem Vorbild Sarah Connor.
Sarah Connor:
Mein Kraftgeber in dieser ganzen Zeit voller Mobbing.
Zurück zu Jeanette: Ich schwänzte ab und an die Schule und fuhr zum Flughafen. Dort traf ich mich mit einer Fangruppe. Das war meine persönliche Auszeit. Wir warteten auf sie, voller Vorfreude. Jeanette Biedermann nahm sich immer eine Viertelstunde Zeit, um mit uns zu plaudern, für Fotos zu posieren. Es war immer sehr nett. Ich fuhr zu jedem Konzert. Sie ist eine Konstante in meinem Leben, begleitet mich schon seit meiner Kindheit. Wir sprachen in der Zeit am Flughafen nicht nur über Belangloses. Sie hörte zu, nahm sich Zeit. Und so kam es, dass ich auch von meinen Problemen in der Schule erzählte. Für Jeanette Biedermann waren das ein paar Minuten, für uns war es ein völliges Abschalten. Es war eine eigene Welt. Diese Treffen und die Konzerte gaben mir Kraft, den Alltag zu überleben. Ja, im übertragenen Sinn hat sie mir das Leben gerettet. Sie weiß gar nicht, wie wichtig sie für mich war.
Ich fand ein Foto aus jener Zeit wieder, da war ich Vierzehn. Meine Güte, das ist so lange her. Übrigens war in meiner ersten WG in Berlin eine Frau, die ebenfalls Jeanette-Fan war. Wie hatten uns von diversen Konzerten gekannt.
Es gab eine Phase, da hatte sich Jeanette Biedermann die Haare ganz blond gefärbt. Das war in und ich tat es ihr nach. Schon damals hat mein Unterbewusstsein offenbar schon laut gerufen, doch mein Verstand schlief noch. Rückblickend weiß ich, warum sie mich so inspirierte.