Träume - Spiegel der Seele, Krankheiten - Signale der Seele. Reinhold Ruthe
offen gelten, so Freud, offenbaren auch ihre Träume leichter als die Träume Erwachsener die geheimen Wünsche ihrer Seele:
Die Gedanken der Kinder, die im Traum zur Sprache gebracht werden, sind Wünsche, die in der Regel aus dem Tagesgeschehen zu erklären sind. Sie werden häufig mit intensiven Gefühlen ausgestaltet.
Auch in den Träumen Erwachsener sieht Freud die Wunscherfüllung am Werk. Sie träumen vom Trinken, weil ein nächtlicher Durstreiz sie quält. Oder sie träu- men von üppigen Mahlzeiten und vom Zuhausesein, wenn sie sich auf Expeditionen weit weg von zu Hause befinden.
Der Ratsuchende entwickelt laut Freud Widerstand gegen die Enthüllung seiner triebhaften, sexuellen Bedürfnisse.
Ich bin dagegen mit Alfred Adler der Meinung:
Die Wunscherfüllung, die es selbstverständlich im Traum gibt, ist nur eine der Möglichkeiten, nach Überlegenheit zu streben.
Das Streben nach Überlegenheit meint:
Der kleine Mensch will groß werden;
der Mensch mit Minderwertigkeitsgefühlen will stark und vollkommen werden;
der Mensch denkt und handelt zielstrebig, um Sicherheit, Erfolg, Wachstum und damit Überlegenheit zu gewinnen. Es ist ein gesundes, von Gott dem Menschen gegebenes Streben.
Dieses Streben nach Überlegenheit und Selbstentfaltung kann allerdings egoistisch entarten. Es kann zu einer unseligen Selbstverwirklichung, zu Macht- und Geltungsstreben werden. Wir sprechen dann vom Überlegenheitskomplex.
»Da jede seelische Ausdrucksform von unten nach oben, von einer Minussituation nach einer Plussituation sich bewegt, kann man auch jede seelische Ausdrucksbewegung als Wunscherfüllung ansprechen«, schreibt Adler.
Kinder wie Erwachsene sind häufig verwöhnte Menschen, die ständig danach streben, unbefriedigte Wünsche im Traum erfüllt zu bekommen.
So genannte Wunscherfüllungsträume bringen nicht in erster Linie unterdrückte Bedürfnisse zur Sprache (das kann sein), sondern artikulieren häufig unberechtigte Wünsche, die gegen das Liebesgebot verstoßen: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.
Diese unberechtigten Wünsche müssen durch ein soziales oder christliches Verhalten im Sinne der Nächstenliebe korrigiert werden.
Was Freud Wunscherfüllung nennt, charakterisiert Adler als eine Leitlinie, die aus einer Minussituation in eine Plussituation führt, den Menschen aus der Minderwertigkeit in die Überlegenheit bringt und den Träumer aus einer erlebten Unvollkommenheit in eine überideal formulierte Vollkommenheit befördert.
Lebensstil und Traum
Der Begriff des Lebensstils spielt in der therapeutischen Seelsorge eine große Rolle. Es ist eine der großen Entdeckungen Adlers, der damit den komplizierten Menschen besser verstehen will. Adler nannte seine Psychologie – im Gegensatz zu Freud – Individualpsychologie (Individuum heißt in seiner ursprünglichen Bedeutung das unteilbare Ganze).
Adler will den Menschen nicht zerteilen, sondern ihn in seiner unteilbaren Ganzheit verstehen. Der Lebensstil bedeutet für ihn:
die Lebens-Grundüberzeugungen, die ein Mensch in sich hat;
das Denkschema, mit dem der Mensch seine unbewussten Ziele ansteuert; – die Meinungen, die er über die anderen hat;
die Vorstellungen, die er von Gott, dem christlichen Glauben und dem Sinn des Lebens hat;
die private Logik, die er sich über Liebe, Arbeit, Freizeit, Genuss, Aktivität, Ehrgeiz usw. gebildet hat;
die subjektive Wahrnehmung, in der er Welt, Dinge und Menschen beurteilt;
das Bewegungsgesetz eines Menschen, das ihn zwanghaft oder mutig, pessimistisch oder optimistisch, aktiv oder passiv, entscheidungsstark oder entscheidungsschwach an die Aufgaben des Lebens herangehen lässt;
die Gangart eines Menschen, die ihn langsam oder schnell, kreativ oder einfallslos, plump oder elegant, vorurteilslos oder voreingenommen alles im Leben in Angriff nehmen lässt;
ein Programm, das sich dieser Mensch geschaffen hat, um allen Anforderungen gewachsen zu sein;
die Summe von Erfahrungen, die der Mensch schon als Kind gemacht und in sein Lebensprogramm eingebaut hat;
die schöpferische Antwort, den Herausforderungen des Lebens auf konstruktive oder neurotische Art und Weise zu begegnen; alle Umgangs- und Verhaltensmuster, mit denen er aggressiv, charmant, betrügerisch, nachgiebig, kämpferisch, abwertend oder fürsorglich die Lebensaufgaben anpackt.
Der Lebensstil ist also die Summe aller Denk-, Fühl- und Verhaltensmuster, die ein Mensch einsetzt, um den Ansprüchen des Lebens gewachsen zu sein. Der Lebensstil ist die Schablone, die der junge oder erwachsene Mensch über alle Situationen, Gegebenheiten und Ereignisse stülpt. Im Lebensstil kommt der ganze Mensch mit allen seinen Sonnen- und Schattenseiten ungeschminkt zur Sprache. Der Lebensstil ist ein getreues Spiegelbild dieser einmaligen Persönlichkeit.
Aufgabe der therapeutischen Seelsorge ist es, diesen Lebensstil mit dem Ratsuchenden herauszuarbeiten. Je klarer der Lebensstil definiert ist, desto besser kann dem Ratsuchenden geholfen werden:
seine Mängel zu erkennen,
seine Probleme zu verstehen,
seine Beziehungsstörungen einzuordnen,
seine Glaubensschwierigkeiten wahrzunehmen,
Lösungen für Konflikte anzustreben.
Der Traum ist eine Möglichkeit, den Lebensstil eines Menschen zu verstehen. Denn im Traum kommen die Muster und Lebens-Grundüberzeugungen zur Sprache, die für sein Denken, Fühlen und Handeln kennzeichnend sind.
An einem Beispiel möchten wir deutlich machen, wie der Traum den Lebensstil enthüllt. Den Traum erzählte eine achtunddreißigjährige Frau, die die Beratung aufsuchte. Zunächst beschrieb sie ihr Problem:
»Ich bin verheiratet und habe Schwierigkeiten mit meinem Mann. Immer bin ich unzufrieden. Bei den kleinsten Dingen, die nicht nach meinen Vorstellungen verlaufen, reagiere ich mit Kritik. Ich habe das Gefühl, dass ich es richtig mache, und er macht vieles falsch. Meine Unzufriedenheit ist so stark, dass ich mit der Kritik nicht aufhören kann. Ich werde unwahrscheinlich aggressiv. Als ich heiratete, wusste ich, dass ich einen großen Fehler machte, aber ich wollte den Mann nicht enttäuschen.«
Mein Traum war so:
»Ich gehe zu einem Mann in die Seelsorge. Er hat lange, schlohweiße Haare. Der Bischof hat mir den Mann empfohlen. Auf dem Weg dorthin werden meine Schritte langsamer. Ich spüre, wie ich selbst mit mir rede. ›Warum gehst du langsamer?‹ Und ich höre mich sagen: ›Er wird das Gespräch nicht bringen, was du dir vorstellst!‹ Als ich die Tür öffne, kommt mir ein Gesicht entgegen, das ich langweilig finde. Ich spüre keine Überzeugung, dass er mir helfen kann. Was er sagt, ist oberflächlich. Ich spüre, dass in mir Zorn hochkommt. Plötzlich fallen ihm seine Aufzeichnungen aus der Hand. Auf der Erde liegt alles durcheinander. Er findet nichts wieder. Da wache ich auf.«
Der Lebensstil erschließt sich durch fünf Fragen:
a) Wie sieht die Ratsuchende sich selbst?
Unzufrieden, pessimistisch,
selbstkritisch, besserwisserisch,
überheblich, fehlerorientiert.
b) Wie sieht die Ratsuchende die anderen? Wie sehen die anderen die Ratsuchende?
Die anderen genügen