Stoner McTavish - Schatten. Sarah Dreher
wurde sie angenehm überrascht.
»Die haben hier Hummer!«
»Nicht ganz«, sagte Gwen und tippte mit ihrem Finger auf die Karte. »Hummah.«
»Das stört mich nicht. Es geht bergauf.«
Ein blassgesichtiger Mann mittleren Alters mit stumpfstahlgrauem Haar und einem ausgebeulten, farblosen Anzug setzte sich an einen Fenstertisch schräg gegenüber.
»Siehst du«, sagte Stoner, »in dieser Stadt sind selbst die Menschen grau.«
»Sollte dir plötzlich auffallen, dass ich die Farbe verliere, musst du mich hier ganz schnell rausbringen.«
Steve-zu-Diensten kam mit ihren Drinks zurück und zog einen Zettel aus der Gesäßtasche, der wie ein alter Wäscherei-Abholschein aussah. »Ihr Mädels wollt bestellen?«
»Frauen«, verbesserte Stoner. »Ich nehme den Hummer, gekocht.«
»Gebacken oder frittiert?«
»Gekocht.«
»Die Kartoffeln«, sagte der junge Mann. »Er wird mit Kartoffeln serviert, gebacken oder frittiert?«
»Gebacken.«
»Sour Cream oder Haus-Dressing?«
»Wie ist das Haus-Dressing?«
Er zuckte die Achseln.
»Ist es grau?«
»Ein bisschen.«
»Nur Butter, danke. Und einen gemischten Salat.«
»Nicht gemischt. Nur Krautsalat.«
»Ist der grau?«
»Ein bisschen.«
»Vergessen wir den Salat.«
»Ist Beilage, gehört dazu.«
Stoner seufzte. »Gut, ich muss also den Salat nehmen. Wenn ich einwillige, bekomme ich dann einen Kaffee? Schwarz?«
»Aber klar.« Er ritzte die Bestellung in seinen Wäschereizettel und wandte sich Gwen zu.
»Ich nehm das Gleiche.«
Der Junge lachte in sich hinein. »Mädchen haben keinen eigenen Willen.«
Stoner machte eine Bewegung, um aufzustehen. Gwen stoppte sie mit einem warnenden Blick.
»Sie machen Urlaub?«, fragte Steve.
»Ja«, sagte Gwen aufgeschlossen.
»Seltsame Jahreszeit.«
»Wir wollten die Spartarife der Zwischensaison in der Herberge zum Ostwind auskosten«, sagte Stoner.
Gwen stieß sie an. »Castleton scheint ein nettes Städtchen zu sein.«
Der Junge schnitt eine Grimasse. »Es lutscht einen aus.«
»Ja, das tut es«, stimmte Gwen zu. »Ein wenig.« Sie lächelte ihn charmant an. »Wo sind die ganzen Einwohner?«
»Treiben sich herum.«
»Verstehe. Wovon leben denn die Leute?«
»Fischen. Sich herumtreiben.« Er wollte gehen.
»Uns ist da etwas aufgefallen, was wie ein riesiges Gut aussieht«, hielt Gwen ihn auf. »Draußen auf den Klippen. Wissen Sie, wer da wohnt?«
Steves Blick verengte sich. »Warum wollen Sie das wissen?«
»Reine Neugier.«
»Niemand wohnt da. Das ist ’ne Klapsmühle.«
»Exklusiv?«
»Oh ja«, sagte er. »Reichlich exklusiv. Sie müssten mal die dicken Kutschen sehen, die einige dieser irren Typen fahren. Schätze, reiche Leute haben ’nen Haufen Probleme, wa?«
»Genau wie alle anderen, schätz ich«, sagte Gwen.
»Ich sag Ihnen was«, fuhr er fort, »wenn ich den Zaster hätte, den einige dieser Herrschaften einsacken, würd ich mich nicht mit so ’ner Bude abgeben. Ich würde nach L.A. abzischen und mir ’n geiles Brett fischen.«
»Sie angeln gerne?«, fragte Stoner kultiviert.
Er starrte sie verblüfft an.
»Ich glaube«, erläuterte Gwen, »dieser Gentleman spricht über das Surfen.«
»’n Brett, ’nen Ghettoblaster, ’n 4x4 und ’n Sixpack abziehen, sich ’n Hintern anbrutzeln lassen und den Bienen nachsummen.«
»Übersetzung?«, bat Stoner.
»Er möchte gerne«, sagte Gwen, »ein Surfbrett, einen Radiorecorder, ein Fahrzeug mit 4-Rad-Antrieb und ein Paket mit sechs Flaschen Bier haben. Er möchte außerdem seine Tage mit Sonnenbaden und Mädchenhinterherschauen verbringen.«
»Das hab ich doch gesagt«, warf Steve ein.
»Meine Freundin ist gerade erst in diesem Land eingetroffen«, sagte Gwen. »Ihre Eltern waren Missionare in China.«
»Echt cool«, sagte Steve. Er trat einen Schritt näher an Gwen heran. »Und was machen Sie?«
»Sie ist Lehrerin.«
Steve wich zurück. »Mist.«
»Vorübergehend«, erklärte Gwen rasch. »Ich versuche, da rauszukommen. Auf Dauer … äh …«
»Lutscht es einen aus?«, sprang Steve hilfreich ein.
»Lutscht es einen aus. Vielleicht kann ich da draußen in … wie, sagten Sie, hieß es doch gleich?«
»Schattenhain.«
Gwen nickte. »Schattenhain. Was halten Sie vom Personal dort?«
»Nichts«, sagte er abrupt. Sein Gesicht wurde abweisend.
»Merkwürdig, nicht wahr? Ein abgelegenes Städtchen wie Castleton, man sollte meinen, dass sie sich mit den Einheimischen verstehen …«
»Nicht merkwürdiger, als hier seinen Urlaub zu verbringen.« Er machte auf dem Absatz kehrt und ging hinüber, um die Bestellung des grauen Mannes aufzunehmen.
Stoner sah ihm nach. »Kann es sein, dass du seinen Regionalstolz verletzt hast?«
»Nein«, sagte Gwen. »Ich denke eher, ich hab einen Nerv getroffen.« Sie beugte sich über den Tisch. »Merke für die Zukunft: Wenn wir von Heranwachsenden Auskünfte bekommen wollen, erzähl ihnen nicht, dass ich Lehrerin bin. Heranwachsende und Lehrer sind natürliche Feinde.«
»Mit Sicherheit wurde er nur so zugeknöpft, weil du ihn nach Schattenhain gefragt hast. Glaubst du, das hat etwas zu bedeuten?«
»Vielleicht – vielleicht auch nicht. Ich sollte drüber nachdenken.«
Stoner grinste. »Südstaatler reden wie Viehzüchter, denen außer ihren Viechern alles egal ist.«
»Yankees haben überhaupt keine Viechah! Geht’s dir gut?«
»Phantastisch.« Sie starrte in ihren Drink. »Gwen, ist es sehr schlimm für dich, deinen Urlaub so verbringen zu müssen?«
»Wie, so?«
»So auf der Suche nach verlorenen Krankenschwestern.«
»Würden wir uns nicht damit beschäftigen, müsste ich mich eben mit der hiesigen Geschichte befassen. Ich hab mich schon immer gefragt, was machen die meisten Leute eigentlich im Urlaub?«
»Keine Ahnung«, sagte Stoner, »aber ich bin sicher, sie machen es nicht in Castleton, Maine.«
»Warum nicht? Es hat Umland, eine gewisse Stimmung und Hummah.«
»Vermutlich grauen Hummah.«
Gwen lehnte sich zurück und nippte an ihrem Drink. »Erzähl mal, wie hast du rausbekommen, dass du lesbisch bist?«