Stoner McTavish - Grauer Zauber. Sarah Dreher
würde ihn bald sehen, ihren Alten, und sie würden wieder zur Sonne aufsteigen, emporgehoben von den Geistern der Winde, um zwischen den Wolkenleuten zu spielen. Wieder würden sie sich paaren und streiten. Sie hatte die Paarungen vermisst, aber die Streitereien hatten ihr noch mehr gefehlt.
Der Wind-Fluss trug sie über Indianerland, über zusammengedrängte Lehmhütten und kleine, aus zwei Räumen bestehende Farmhäuser, über Wohnwagen-Abstellplätze und etwas abseits stehende hogans, über uralte Ruinen. Er trug sie über Pfirsichpflanzungen und dunkelgrüne Reihen von Hopimais. Über die misshandelten Windungen des San Juan River, die scharfen Biegungen und tief eingeschnittenen Schluchten des Colorado. Über die Abraumhalden der Uranminen, die die furchtbare Graue Krankheit brachten. Über die schwarzgefiederten Kernkraftwerke, die die heiligen Vier Ecken entweihten.
Ihr Herz fühlte ein Ziehen, und sie wandte ihre Aufmerksamkeit nach Süden. Neugierig flog sie langsam über das Dorf-das-seinen-Namen-vergessen-hat, vorbei an dem rauen Schiefer der Long Mesa, vorbei an der Dineh-Rinne und am Big Tewa, über dem die Sonne aufgeht. Die Handelsstation von Spirit Weils lag noch in der Nachmittagshitze. Ihre empfindlichen Ohren nahmen den grölenden Fernseher aus Larch Begays Texaco-Tankstelle wahr.
Alles schien wie immer.
Sie zog einen Bogen nach Westen über die Farbige Wüste, auf der Suche nach … sie war nicht sicher, wonach. Ihre Augen nahmen eine schwache Bewegung im Schatten eines Felsens wahr. Klapperschlange. Eine Delikatesse, aber sie hatte nicht mehr oft Hunger. Glück gehabt, Bruder Schlange, wohl unvorsichtig geworden in der Hitze. Sie stieß einen Schrei aus, um ihn in seine Grenzen zu weisen, und zog einen noch größeren Kreis.
Als sie wieder die alte Stadt überflog, erspähte sie etwas, das ihr vorher entgangen war. Ein Zweibein, eine alte Indianerin. Sie hatte noch nie eine so alte Frau gesehen. Älter als die Zedern. Älter als die verfallene Stadt. Vielleicht sogar älter als die Long Mesa.
Zweibein schaute nach Süden, wartete.
Adlerin glitt etwas näher heran. Vorsicht, es könnte eine Falle sein, warnte ihre Erfahrung. Vielleicht ist das alte Zweibein auf der Jagd nach schönen, frischen Federn für ihre Gebetsstäbe.
Ein leichtes Schaudern durchfuhr sie. In einer Zeremonie geopfert zu werden mag eine Ehre sein, ein Vergnügen ist es jedenfalls nicht.
Die Neugier nagte an ihrem Misstrauen. Sie kreiste noch einmal.
Zweibein sah auf. Ihre Blicke trafen sich.
»Ya-ta-hey, Großmutter Kwahu.« Zweibein sandte ihr Gedanken zu.
»Ya-ta-hey, Großmutter.« Adlerin erwiderte den Navajo-Gruß, hielt aber sicheren Abstand.
»Etwas wird hier geschehen«, sandte Zweibein. »Fühlst du es?«
»Alles, was ich dieser Tage fühle, ist der Winter in meinen Knochen. Ich halte einen Zwiegesang mit Masau seit der Zeit des Saatmondes.«
Zweibein brummte Zustimmung. »Dies hier wird mein letzter Kampf und meine Heimkehr.«
»Kampf?« Großmutter Kwahu schwebte in die Höhe und ließ sich auf einem Windstoß wieder hinabgleiten. »Alte Frau, dein Verstand ist schon heimgekehrt. Ein Sack voll morscher Knochen, wie du es bist, gibt einen armseligen Speer zum Kampf.«
»So oder so«, sagte Zweibein, »vielleicht hat diese alte Welt doch noch eine Überraschung für dich auf Lager.«
»Oder noch eine Enttäuschung für dich.« Adlerin wandte sich zum Aufbruch.
Die alte Frau hob eine Hand zum Abschied. »Wenn du deinen Freund Masau siehst, sag ihm, dass Siyamtiwa zu ihm kommen wird, wenn das hier vorbei ist.«
Sie schnaubte entrüstet. »Der Wächter der Unterwelt nimmt von abgerissenen Indianerinnen keine Anordnungen entgegen.«
»Der Wächter der Unterwelt ist Siyamtiwa noch nicht begegnet.«
Großmutter Adlerin schlug mit ihren arthritischen Flügeln und zog eine Schau ab, indem sie an einem Sonnenstrahl hochflog.
Der Austausch von Beleidigungen hatte sie verjüngt. Vielleicht lässt mich Masau doch noch ein Weilchen länger bleiben, dachte sie und schlug einen Salto. Ich würde gerne noch einen letzten Kampf erleben.
In ihrer Aufregung übersah sie beinahe den Lieferwagen, der in einer Staubwolke die Reservationsgrenze überquerte.
***
Sie spürte es ungefähr ab dem Moment, als sie an dem von Kugeln durchlöcherten Schild vorbeifuhren, das den Rand der Navajo-Reservation kennzeichnete:
KEIN ALKOHOL
KEINE SCHUSSWAFFEN
HIER GILT STAMMESGESETZ
ANWEISUNGEN DER STAMMESPOLIZEI SIND ZU BEFOLGEN
Eine merkwürdige, gebündelte Ruhelosigkeit, als ob all ihre Nervenimpulse sich in ihrem Magen sammelten.
Es war wahrscheinlich eine verspätete Reaktion auf den Flug, sieben Stunden ›Sardine spezial‹, eingezwängt in einen Sitz, der offenbar für Schoßtiere konstruiert war.
Oder es lag an der Luft, ausgedörrt wie in einem Wäschetrockner.
Oder am Licht, das jetzt durch die schrägstehende Abendsonne aufdringlich golden war.
Oder an der Art, wie der Wind den Staub aufwirbelte und tanzen ließ.
Oder vielleicht an der Landschaft, der endlosen Leere, dem Boden, der sich auf beiden Seiten der Straße erstreckte, so kahl, als ob eine Flutwelle darübergefegt wäre und das Land freigeschrubbt hätte von Salbeigestrüpp und Bäumen und Büschen und allen anderen Lebensformen, die hier noch zu existieren versuchten.
Nach Westen hin erstreckten sich niedrige Hügel aus gepresstem Ton und Schiefer, voll purpurner Schatten, aufgefaltet, von tiefen Rinnen durchschnitten, dabei weich wie Schlagsahne. Im Osten Berge. Im Norden die Silhouetten von Mesas, die sich vor dem Himmel abzeichneten.
Ein kleines Blockhaus, achteckig, mit dem Eingang nach Osten, stand im Schatten eines einzelnen Felsens. Ein Blechschornstein ragte aus dem Lehmdach. Eine ausgefranste Decke hing über der Tür. In der Nähe pickte ein Rabe nach etwas Unsichtbarem.
»Hogan«, erklärte Stell, »ein Navajo-Haus. Wahrscheinlich leer. Sie gehen im Sommer mit den Schafen in die Canyons. Navajo machen herrliche Teppiche, wisst ihr. Sie weben und färben die Wolle selbst. Nördlich und westlich von hier, entlang der Straße zum Grand Canyon, könnt ihr sie an der Fahrbahn sitzen und weben sehen. Stellen ihre Webstühle mitten in die knallende Sonne, Bäume gibt’s da ja kaum. Von Zeit zu Zeit baut mal einer der Männer seiner Frau einen Schirm, der die Sonne abhält, aber solche Männer sind selten. Was beweist, dass die Völker sich ähnlicher sind, als wir oft denken.«
Sie waren jetzt tief in der Wüste, hatten die asphaltierte Straße längst hinter sich gelassen, runter von der Navajo Route 15, auf festgefahrenen Sand und Erde. Der Himmel dehnte sich über ihnen und um sie herum, nahm kein Ende. In weiter Entfernung stand eine Windmühle, reglos. Ein Wolkenfetzen hing in der blauen Luft wie ein verschmierter Fingerabdruck. Weit und breit kein Zeichen von Leben.
»Wir haben euch in der Baracke untergebracht«, sagte Stell, »es ist eng und nichts Tolles, aber ich dachte mir, eure Ruhe ist euch lieber als irgendwelche anderen Vorzüge. Wenn’s euch nicht gefällt, könnt ihr gerne ins Gästezimmer umziehen.«
»Es ist sicher genau richtig«, sagte Gwen.
Stell warf ihr einen Blick zu. »Eine Sache möchte ich noch klarstellen, bevor ein Problem daraus wird. Stoner ist für mich wie Familie, und damit bist du auch Familie. Lassen wir also unnötige Höflichkeitsformen weg.«
»Sie kann nichts dafür«, sagte Stoner, »sie ist in Georgia erzogen.«
Gwen schwieg und schaute auf ihre Hände hinunter.
»Hab ich was Falsches gesagt?«, fragte Stoner.
Gwen schüttelte den Kopf. »Ich dachte gerade an meine