Der mondhelle Pfad. Petra Wagner
Blätter.
„Wenn sie sich bewegen, kann man die Finger unseres Sonnenkönigs sehen und Bruder Wind drückt die Blätter zur Seite, damit uns Vater Himmel von seiner Warte aus besser erkennt.“
„Wunderschön. Und dazu noch ein Tierstimmenkonzert.“
„Loranthus?“
„Hm?“
Loranthus starrte weiter auf die Tanzpaare aus Sonnenstrahlen und Walnussblättern.
Lavinia drehte sich zu ihm, stützte sich auf ihre Ellenbogen und sah ihm fest in die Augen.
„Wenn du viele Jahre Zeit hättest … würdest du gerne den Beinamen ‚Ildana‘ erlangen?“
„Der, der alles tut? Wie kommst du denn darauf, Lavinia?“
„Das ist doch klar wie ein Gebirgsbach. Du bist jetzt seit drei Monden bei uns. Du siehst dir alles an und machst alles nach, so lange, bis du es kannst. Und du kannst schon recht viel. Warum?“
„Warum?“
Loranthus visierte eine träge vorbeiziehende Schäfchenwolke an und schürzte die Lippen.
„Hm. Das ist eine gute Frage, Lavinia. Mein Vater sagte: ‚Mein Sohn, ich sende dich in das Reich der Hermunduren. Lerne ihr Leben kennen und kehre mit reichem Wissen zu mir zurück. Dann will ich dich aufnehmen in den Kreis der Händler, so, wie es mein Vater damals mit mir gemacht hat.“
„Dein Vater war auch schon einmal hier?“
„Nein. Sein Vater hat ihn damals nach Assur geschickt.“
„Aha. Und warum hat dich dein Vater ausgerechnet zu uns Hermunduren geschickt?“
„Das hat er mir nicht gesagt. Aber es hat Tradition in unserer Familie, den Sohn in ein fremdes Land zu schicken, bevor er in die Fußstapfen des Vaters tritt. Mein Großvater, zum Beispiel, war auf seiner ersten Reise den Euphrat entlang geschippert.“
„Warst du auch schon einmal in Assur und am Euphrat?“
„Ja, gemeinsam mit meinem Vater.“
„Dies ist also deine erste Reise ganz allein. So etwas wie eine Probe. Oder eher eine Initiation?“
„Ja, Initiation könnte man es nennen, wenn auch bei vollem Bewusstsein ohne irgendwelche Drogen.“
„Gut, du hast die Wünsche deines Vaters erfüllt. Aber warum gibst du dir solche Mühe?“
„Solche Mühe?“
„Ja. Viviane sagt, du bist wie ein Stier, der nur den Pflug auf Rädern bis zum Feld ziehen soll, aber auch noch über alle Felder rennt und die Scholle bricht.“
„Ich! Ein Stier! Ha, ha!“
Loranthus kniff prustend die Augen zusammen. Als er sie wieder öffnete, war die Schäfchenwolke weg. Nun hätte er seinen Kopf drehen können, war aber viel zu träge. Außerdem brauchte er seine ganze Kraft zum Luft holen. Da wurde er sehr still, fast traurig. Schließlich nickte er.
„Jetzt weiß ich, was du meinst, Lavinia. Vielleicht liegt es daran, dass ihr mich so gastfreundlich aufgenommen habt?!“
Lavinia schüttelte den Kopf.
„Wir nehmen jeden gastfreundlich auf, Loranthus. Jeder Reisende, ob alt oder jung, arm oder reich, bekommt ein Obdach. So ist es Brauch. Aber du zeigst dich viel mehr erkenntlich dafür, als du müsstest.“
Nun drehte er doch bedächtig den Kopf und lächelte Lavinia an.
„Jetzt will ich dir mal was verraten, meine kleine freundliche Gastgeberin. Früher lag ich auf meiner bequemen Ruheliege, studierte die Bücher und dachte, Kreta sei der göttlichste Ort auf der Welt. Schließlich ist es die Wiege des Zeus. Ha! Kein Wunder, dass mich Viviane mit einem Stier vergleicht! Na, jedenfalls war ich überzeugt, ihr könntet nicht schreiben, nur eure Druiden wären einer gebildeten Sprache mächtig, ihr könntet einen Stuhl nicht von einem Tisch unterscheiden und würdet den ganzen Tag in zerfetzten Fellen herumlaufen. Alle paar Tage opfert ihr einen Stier, vielleicht noch ein paar Menschen hinterher und hüpft danach wie die Wilden blutverschmiert ums Feuer.“
Lavinia kontrollierte ihre Seitenlage, faltete die Hände übereinander und legte ihr Kinn darauf. Ihre Mundwinkel zuckten.
„Und? Enttäuscht?“
Loranthus stutzte. Sie prusteten gleichzeitig los.
„Was hat sich bei dir am meisten verändert?“, wollte Lavinia wissen, als sie ihre Atmung wieder halbwegs unter Kontrolle hatte.
Loranthus wischte sich schnaufend die Augen.
„Hach, beim Zeus! Meine Einstellung natürlich, Lavinia! Euer Ehrgefühl, eure Kunstfertigkeit, euer Wissen über Kräuter, Metalle, Holz … das alles verdient meine Hochachtung. Euer astronomisches Wissen ist gigantisch. Das ist mir klar geworden, als ich vor ein paar Tagen bei Afal auf dem Geißkopf war und er mir das Observatorium erklärt hat.“
„Hast du alles verstanden, was er dir erzählt hat?“
„Zum Kalendarium? Ja, logisch! Das war einfach! Schließlich bin ich schon oft mit meinem Vater auf See gewesen! Mit Sternen kenne ich mich gut aus!“
„Aha! Ich habe mich schon immer gefragt, wie ein Seefahrer seinen Weg findet, wenn nur Wasser um ihn herum ist. Woher weiß man, wo man gerade ist und woran erkennt man, wo es hingehen soll?“
„Ganz einfach!“, rief Loranthus und sprang auf, als wäre er von imaginären Ameisen umzingelt. Ein paar hatten es scheinbar bis auf seine Arme geschafft, er fuchtelte wild in der Gegend herum. „Man misst den Winkel zwischen Zenit, Schiff und Stern mit dem Himmelskompass. Zum Schätzen geht es aber auch mit den Armen. Guck!“
Er streckte beide Hände genau über sich und erstarrte in dieser Position.
„Das ist der Zenit und dort …“ Er bewegte eine Hand langsam von der anderen weg, bis er genau auf die Sonne zeigte. “ … dort ist die Sonne. Bei der Sonne ist es etwas schwieriger, weil man ihre Deklination und Kulmination mit einrechnen muss. Ich kann das auswendig, aber es gibt dafür auch Tabellen, die man zu Rate ziehen kann. Nachts ist es einfacher. Da gibt es Fixsterne. Das heißt: Sie haben immer den selben Standpunkt. Jeder Seefahrer kennt die Sternbilder, in denen sich die Fixsterne befinden. Er muss nur das erste Lineal oder den Arm, wenn er kein Lineal hat, zum Nordstern ausrichten. Das zweite Lineal, nach Berechnung der Korrekturen siehe Listen, die ein Seefahrer auswendig kennen sollte …“
„Schon gut!“
Lavinia sprang auf, streckte ihre Hände hoch, zur Seite, wieder zurück und hopste auf der Stelle, während sie rief: „Ich verstehe nur Sonne und Fixsterne! Mehr nicht! Du brauchst dich also nicht so ins Zeug legen!“
Loranthus sackte mit hängenden Schultern wieder zurück ins Gras und kippte in die Horizontale. Lavinia plumpste daneben, ging wieder in den spitzen Armbeugewinkel und tätschelte ihm mitfühlend den schwarzen Lockenkopf.
„Nicht traurig sein, Loranthus! Ich bewundere dich ehrlich, weil du dir diese komplizierten Berechnungen alle merken kannst.“
„Ach, das ist ganz einfach! Dafür gibt es Geschichten!“, erklärte Loranthus und winkte lax ab.
„Geschichten?“ Lavinias Augen wurden ganz groß. Sie zog ein Schnutchen und tippte sich gegen die Unterlippe. „Weißt du, Loranthus, mir fällt gerade ein … Robin möchte doch so gerne in die Welt ziehen. Könntest du ihm vielleicht die Sterne beibringen? Dann würde er immer seinen Weg finden. Und wenn du einmal dabei bist … Kann ich auch mitmachen?“
Loranthus war so verblüfft, dass er in einem Ruck zu ihr herum schnappte und eine Weile brauchte, um mit dem Blinzeln aufzuhören.
„Natürlich!“, jauchzte er schließlich und strahlte übers ganze Gesicht. „Das wäre mir ein großes Vergnügen, Lavinia! Ach, was sag ich, eine Ehre! Endlich mal etwas,