Die Rehabilitation des Christus Gottes. Dieter Potzel
Namens Christus.
Schauplatz der Novelle „Der Großinquisitor“ ist die spanische Stadt Sevilla im 16. Jahrhundert, in der die Scheiterhaufen der Kirche loderten und die Gesellschaft sich an den Hinrichtungen der „Ketzer“ unter Anleitung des Großinquisitors ergötzte.
In diese Zeit hinein lässt Dostojewski Christus wieder erscheinen. Das Volk erkennt Christus und liegt Ihm zu Füßen – so lange, bis der greise Großinquisitor Ihn verhaften lässt. Am Abend zuvor hatte der Großinquisitor vor der ganzen höfischen Gesellschaft und allen Bürgern Sevillas bereits hundert „Ketzer“ auf einmal verbrannt – „ad majorem Dei gloriam“, das heißt „zur höheren Ehre Gottes“. Dostojewski schildert, wie der mächtige Kirchenmann um Mitternacht die Zelle aufsucht, in der Christus gefangen gehalten wird, und Ihn in Monologen anklagt:
Er bleibt am Eingang stehen und sieht Ihm lange – ein bis zwei Minuten lang – ins Gesicht. Endlich tritt er leise näher, stellt den Leuchter auf den Tisch und sagt zu Ihm: „Bist Du es? Ja?“ Aber ohne eine Antwort abzuwarten, fügt er schnell hinzu: „Antworte nicht, schweig! Und was könntest Du auch sagen? Ich weiß recht wohl, was Du sagen willst. Aber Du hast kein Recht, dem, was Du früher gesagt hast, auch nur ein Wort hinzuzufügen.
Warum bist Du denn hergekommen, uns zu stören? Denn dazu bist Du gekommen, und Du weißt es selber. Weißt Du aber auch, was morgen geschehen wird? Ich weiß nicht, wer Du bist, und will auch gar nicht wissen, ob Du es wirklich bist oder ob Du nur Seine Gestalt angenommen hast; aber gleich morgen werde ich Dich verurteilen und als den schlimmsten aller Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrennen; und dasselbe Volk, das heute Deine Füße geküsst hat, wird morgen schon auf einen Wink von meiner Hand hin zum Scheiterhaufen stürzen, um dort die Kohlen zu schüren, weißt Du das?“
Nach dieser Drohung klagt der Großinquisitor Christus an:
„Hast Du nicht damals so oft gesagt: »Ich will euch frei machen!«? Nun, jetzt hast Du sie gesehen, die freien Menschen! (…) Ja, dieses Werk hat uns viel Mühe gekostet,“ fügte er gleich hinzu, indem er Ihn streng anblickte, „aber wir haben es zu Ende geführt, endlich, in Deinem Namen. Fünfzehn Jahrhunderte lang haben wir uns mit dieser Freiheit abgequält, aber jetzt sind wir damit fertig, fertig für alle Zeiten.
Du glaubst nicht, dass wir damit fertig geworden sind für alle Zeiten? Du siehst mich mit Deinen sanften Augen an und würdigst mich nicht einmal Deines Unwillens? So wisse: Jetzt, gerade heute, sind die Menschen mehr denn je davon überzeugt, sie wären frei, ganz frei; und dabei haben sie selber uns ihre Freiheit dargebracht und sie uns gehorsam zu Füßen gelegt. Das war unser Werk.“
Der Großinquisitor gesteht offen die Verdrehung der Lehre des Jesus von Nazareth ein und setzt seine Anklage fort:
„Und dann werden wir auch ihren Turm zu Ende bauen; denn zu Ende bauen wird ihn der, der die Menschen satt macht; satt machen aber werden nur wir sie, in Deinem Namen – denn, so wollen wir es dann sagen und lügen, dass es in Deinem Namen geschehe.
Niemals, zu keiner Zeit, werden sie ohne uns satt werden. Keine Wissenschaft wird ihnen Brot geben, solange sie frei bleiben, und das Ende wird sein, dass sie uns ihre Freiheit zu Füßen legen und zu uns sagen: Knechtet uns lieber, aber macht uns satt!’
Sie werden schließlich selber einsehen, dass die Freiheit und das Brot – beide zusammen – nicht denkbar sind, denn niemals werden die Menschen das Brot miteinander zu teilen verstehen.“
„Wir werden sie abermals betrügen“
Unverhohlen gesteht der Großinquisitor den Betrug an der Menschheit ein. Dostojewski lässt den greisen Kardinal sprechen:
„Und sie werden uns anstaunen und uns für Götter halten, weil wir, die wir uns an ihre Spitze stellen, uns bereit erklärt haben, die Freiheit, vor der sie zurückgeschreckt sind, auf uns zu nehmen und über sie zu herrschen – so entsetzlich wird es für sie geworden sein, frei zu sein. Wir aber werden sagen, wir seien Dir gehorsam und herrschten in Deinem Namen. Wir werden sie abermals betrügen, denn Dich werden wir nicht mehr zu uns einlassen.“
Der Großinquisitor spricht weiter:
„Aber nur der bemächtigt sich der Freiheit der Menschen, der ihr Gewissen beruhigt. Mit dem Brote ward Dir die unbestrittene Macht über die Menschen geboten: Gibst Du Brot, so werden Dich die Menschen anbeten, denn am Brote zweifelt niemand. Wenn aber zu gleicher Zeit einer sich ihrer Gewissen bemächtigt, ohne dass sie darum wüssten – o glaube mir, dann lässt er sogar Dein Brot im Stich und folgt demjenigen nach, der sein Gewissen beruhigt.“
Der Großinquisitor klagt Christus an, dass Er den Menschen das Gewissen vertiefte, statt es zum Schweigen zu bringen. Er spricht:
„Das ist die Wahrheit, aber was tatest Du? Statt das Gewissen zu beherrschen, hast Du es nur noch tiefer gemacht. Oder hast Du vergessen, dass Ruhe, dass der Tod sogar dem Menschen lieber ist als die freie Wahl zwischen Gut und Böse? Nichts ist verführerischer für den Menschen als die Freiheit seines Gewissens; nichts aber peinigt ihn auch mehr.
Statt nun dem Menschen ein für allemal feste Grundlagen zur Beruhigung seines Gewissens zu geben, wiesest du ihm alles zu, was es Ungewöhnliches, Rätselhaftes und Unbestimmtes gibt, alles, was über die Kräfte der Menschen hinausging, und handeltest ganz wie einer, der die Menschen nicht liebt, Du, der Du doch gekommen warst, um das eigene Leben für sie hinzugeben! Statt die Freiheit der Menschen in Deine Gewalt zu bringen, hast Du sie noch vermehrt und hast die Seele des Menschen für allezeit mit ihren Qualen belastet.
Dein Wunsch war die freie Liebe des Menschen; frei sollte er Dir nachfolgen, entzückt und bezaubert von Dir. Statt sich nach den alten harten Gesetzen zu richten, sollte der Mensch von nun an selbst mit freiem Herzen entscheiden, was gut, was böse sei, mit Deinem Beispiel vor der Seele. (…)
Es gibt drei Gewalten, drei, nicht mehr, auf Erden, die imstande sind, für ewig das Gewissen dieser schwächlichen Rebellen zu besiegen und zu fesseln, zu ihrem Glück.
Und diese drei Gewalten sind: das Wunder, das Geheimnis und die Autorität. Du hast die eine und die andere und auch die dritte von Dir gewiesen und den Menschen also ein Beispiel gegeben.“
Mit diesen Worten beschreibt Dostojewski die Grundfesten der Kirche: Das Wunder, das Geheimnis und die Autorität, die auf den vom Großinquisitor verlangten festen Satzungen und harten Gesetzen basiert, den unveränderbaren Dogmen.
„Wir haben Deine Tat verbessert“
Weiter spricht der Großinquisitor über die Macht der Wunder und der Zauberei, die den Kulten zugrunde liegt und er wirft Christus vor, dass Er diese verwarf. Der Großinquisitor setzt seinen Monolog fort:
„Du wusstest wohl, dass Deine Tat in den Büchern der Menschen aufbewahrt werden und bis ans Ende der Zeiten und bis an die letzten Grenzen der Erde gelangen würde, und Deine Hoffnung war, auch der Mensch werde, indem er Deinem Beispiel folgte, in der Gemeinschaft mit Gott bleiben und des Wunders nicht bedürfen.
Aber Du wusstest nicht, dass der Mensch, sobald er das Wunder ablehnt, zugleich auch Gott ablehnt; denn der Mensch sucht nicht so sehr Gott, als das Wunder. Und da der Mensch nicht imstande ist, ohne Wunder auszukommen, so wird er sich neue Wunder schaffen, eigene Wunder, und wird an die Wunder von Zauberern und an die Hexenkünste alter Weiber glauben, mag er auch hundertmal ein Rebell, ein Ketzer und ein Atheist sein.
Du bist nicht vom Kreuz herabgestiegen, als sie Dir – indem sie Dir die Kleider vom Leibe rissen und Dich verhöhnten – zuriefen: »Steig vom Kreuz herab, und wir werden glauben, dass Du der Sohn Gottes bist.« Du bist nicht herabgestiegen, weil Du wiederum die Menschen nicht durch ein Wunder knechten wolltest und einen freien Glauben wünschtest, keinen Wunderglauben. Du wünschtest eine freie Liebe und nicht das sklavische Entzücken der Unfreien über