Liebe und Tod im Grenzland. Ruth Malten

Liebe und Tod im Grenzland - Ruth Malten


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Die Menschen am Bahnhof umschwärmten ihre Helden. Auf den Händen trugen sie uns. In einer Woge von Stolz und Glück schwelgte unser Volk.“

      Siegfrieds Augen strahlen, als sei er selbst dabei gewesen, er springt auf, während er gewichtig und begeistert die Worte seines Großvaters wiedergibt, sein Gesicht glüht wie im Fieber. Seine Mitschüler haben aufgehört, durcheinander zu reden und ihm stattdessen mit wachem Verstand vornübergeneigt zugehört. Manche bemerken nicht, dass sie mit offenem Mund schniefen und ihnen die Nase läuft.

      „Siegfried, erzähl mal, wie es damals zur deutschen Kriegserklärung an die Franzosen kam“, fordert ihn Lehrer Friedmann auf. „Die Emser Depesche“, und was beinhaltete sie, hakt Friedmann nach? „In verkürzter Form die Forderung Frankreichs, das Haus Habsburg solle für alle Zeiten den Anspruch auf den Spanischen Thron aufgeben. Die verkürzte Form provozierte Frankreich, das daraufhin Deutschland den Krieg erklärte.“

      „Und wie reagierten die Deutschen?“ Friedmann sah Arthur an: „Begeistert. Eine nationale Begeisterung lag in der Luft. Alle wollten mitmachen“, sagte Arthur. Friedmann hätte seine Schüler gern immer so geistesgegenwärtig wie an diesem Tag. Nachdenklich durchschreitet er den Mittelgang des Klassenzimmers, die Hände auf dem Rücken, den Kopf gesenkt, begleitet von den gebannten Blicken seiner Schüler. Auf seinem Rückweg sagt er bedacht, wie zu sich selbst, seine graumelierte wuchtige Haartolle in der Stirn: „Stellt euch vor, Österreich-Ungarn erklärt Serbien wegen der Todesschüsse in Sarajewo den Krieg. Was könnte passieren?“

      Der lange, schlaksige, blondgewellte Hans ist der ‚Profi‘, und die unumstrittene Nummer Eins innerhalb der Klasse in Geschichte und Politik. Auch privat ein ernsthafter Wühler, lässt er nichts auf sich beruhen, was er nicht begriffen hat und liest alles, was ihm zu verstehen hilft. Durch seinen Großvater, Geschichtslehrer an einer Realschule, hat er einen vortrefflichen Gesprächspartner, was ihm zu einem Wissensvorsprung verhilft. Er meldet sich: „Nach dem Dreibund zwischen Österreich-Ungarn, Italien und Deutschland von 1882 ist Deutschland zu Waffenhilfe verpflichtet. Außerdem gibt es einen Vertrag zur Waffenhilfe zwischen Serbien und Russland aufgrund des Balkan-Bundes.“ Friedmann forscht weiter: „Deutschland beteiligt sich an dem Krieg gegen Serbien, was könnte weiter geschehen?“

      „Russland könnte nach dem Eintritt Deutschlands aufgrund des nicht erneuerten Neutralitätsvertrages von 1890 in den Krieg gegen Deutschland eintreten. Da es außerdem ein deutsch-französisches Neutralitäts-Abkommen gibt, wären auch die Franzosen auf der Gegenseite dabei. Durch den Dreibund zu gegenseitiger Neutralität und Waffenhilfe verpflichtet, wären die Italiener auf der Seite der Deutschen. Über die britisch-französische Marine-Konvention sowie die Entente Cordiale die Briten auf der Gegenseite. Letztere verpflichtet beide gegenseitig zu Waffenhilfe.“ Hans hat sich in Rage geredet, und er ist außer Puste.

      „Mann, Streber“, ist von Uwe zu hören, allerdings mehr anerkennend als abwertend, aber auch mit dem Unterton: ‚Wer soll sich das alles merken können?‘ Hans kennt das schon. Er zieht beide Schultern hoch, seine Stirn in Querfalten, legt seinen Kopf schief, schaut Uwe grinsend an und sagt: „Tja, Mann, nur kein Neid.“

      Friedmann kann ein stillvergnügtes Schmunzeln nicht unterdrücken. Er muss bei einem Schüler wie Hans seinen Stoff sauber vorbereiten, sonst geht er unter. Guter Ansporn. Macht aber Freude. Mit halbwegs gestrenger Lehrermiene fährt er fort:

      „Das sind einige wesentliche europäische Bündnisse. Das Ganze ist nicht ungefährlich. Es könnte zu einem Domino-Effekt kommen. Winfried, was ist ein Domino-Effekt?“

      „Ein Stein fällt um und reißt den nächsten mit, der nächste den übernächsten und so weiter, bis keiner mehr steht. Es kommt zu einer Bewegung, die sich verselbständigt und kaum aufgehalten werden kann“, sagt Winfried, der bei seinem letzten Halbsatz zögert, weil ihm einfällt, dass man das Ganze abbremsen könnte, wenn an einer Stelle rechtzeitig etwas eingeschoben würde, was den Fortgang der Fallbewegung stoppt.

      Siegfried meldet sich wieder, die Mitschüler wollen hören, was er zu sagen hat, und ihre Köpfe drehen sich zu ihm hin.

      „Das mit den Abkommen ist reine Theorie. Sie werden nicht akut werden, da die Deutschen, wenn es zum Schwur kommt, an der Seite Österreich-Ungarns die Serben in wenigen Wochen weghauen werden. So wie 1870/71 die Franzosen. Ist doch völlig klar! Ich kann mir nicht vorstellen, dass das hier einer anders sieht, oder?“ Zunächst herrscht verunsichertes Schweigen, dann setzt ein allgemeines Gemurmel ein, das sich schnell wieder zu dem anfänglichen, lautstarken Stimmengewirr steigert.

      Siegfried ist von dem, was sein Großvater ihm von 70/71 erzählt hat, für eine argumentative Diskussion gut gerüstet, fühlt sich stark und strotzt vor verbaler Kampfeslust. Mit gestraffter Brust ragt er auf und schaut in die Runde wie ein Sieger. „Das können wir sogleich klären“, sagt Friedmann, „wer von euch würde in den Krieg gehen, wenn es dazu käme?“ Alle Zeigefinger springen jetzt ohne Zögern nach oben bis auf die von Arthur und Wolfgang. „Kein Nationalgefühl!“, ist zu hören, „Feiglinge!“, ruft Siegfried leidenschaftlich. „Vaterlandslose Gesellen“, lässt sich Ortfried vernehmen, grinst aber in einer Weise, die das Gesagte als witzige Provokation, weniger als ernst zu nehmenden Diskussionsbeitrag definiert. „Na, na“, ist deshalb Friedmanns einziger Kommentar, begleitet von einem Kopfschütteln, andeutend, hier sei die Grenze des guten Geschmacks erreicht. Arthur und Wolfgang schauen sich um, sehen die große Einheitlichkeit der einen Meinung und heben nun ebenfalls widerstrebend die Hände. Ihrer beider Rücken sind tief über ihre Pulte gebeugt, die Augen selbstunsicher, mehr zweifelnd als zustimmend von unten aufwärts gerichtet, als schämten sie sich, und tauschen verstohlenen einen schnellen einvernehmlichen Blick aus.

      Nach dem Unterricht diskutieren die Schüler, die Jacken über die Schulter geworfen oder um die Taille gebunden, die Büchertaschen zwischen die Beine geklemmt, auf dem Schulhof weiter. „Noch gibt es keine Kriegserklärung“, sagt einer. Ein anderer: „Aber wenn, bin ich dabei, logisch und Ehrensache!“

      Arthur und Wolfgang erwägen auf dem Nachhauseweg weiter das Pro und Contra. „Ich denk’ da an meine Mutter“, sagt Arthur, „ich glaub’, sie käme nicht mehr in Schlaf, wenn ich in einen Krieg zöge.“ Wolfgang, den Kopf zwischen den hochgezogenen Schultern und bedrückter Miene hört seinem Freund zu. „Hast recht“, entgegnet er, vor sich auf den Weg schauend, seine Tasche unter einen Arm geklemmt und mit beiden Händen festhaltend, „die Mütter sitzen zu Hause und grübeln. Weil sie nicht wissen, was Sache ist, malen sie sich das Schlimmste aus und quälen sich. Vor allem, weil sie nichts tun können, außer vielleicht Socken stricken und Päckchen packen.“

      „Wenn ich mir meinen jüngeren Bruder vorstelle oder meine kleine Schwester, denen ginge es auch nicht besser“, sagt Arthur. „Vielleicht haben die jungen Helden an der Front sogar Spaß, während ihre Mütter zu Hause weinen“, spinnt Wolfgang den Gedanken fort. „Spaß kann ich mir im Krieg nicht vorstellen. Hier sterben Menschen. Und wer mitmacht, muss schießen. Schießen oder erschossen werden, heißt dann die Losung. Du machst dir die Hände schmutzig, ob dir das gefällt oder nicht“, wendet Arthur grübelnd ein. Beide sind sehr nachdenklich geworden.

      In den nächsten Tagen ist in den Zeitungen zu lesen, dass Kaiser Wilhelm II. in völliger Fehleinschätzung des europäischen Bündnissystems Österreich-Ungarn ermuntert, gegen Serbien vorzugehen. Daraufhin macht Serbien mobil, Österreich-Ungarn teilmobil. Russland beginnt mit Kriegsvorbereitungen und unterstützt die Serben. Beide gehören der panslawischen Bewegung an. Österreich-Ungarn erklärt Serbien den Krieg.

      Am 31.07.1914 hört man die Jungen mit den Extra-Blättern: „Das Deutsche Reich erklärt die allgemeine Mobilmachung und den allgemeinen Kriegszustand.“

      Die Kriegsbegeisterung in Deutschland wie auch in den anderen europäischen Staaten kennt keine Grenzen , ist in den Gazetten zu lesen.

      Auch in Allensteins Straßen ist etwas zu spüren von dieser Hochstimmung. Männer in Gruppen, wild mit den Armen gestikulierend, politisieren stimmgewaltig und leidenschaftlich. Frauen auf dem Marktpatz, die Einkaufstaschen zwischen den Füßen, halten auf ihrem Heimweg inne, reden wie berauscht, nachdrücklich und mit hoher Stimme, zuweilen alle gleichzeitig und lauter


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