Liebe und Tod im Grenzland. Ruth Malten

Liebe und Tod im Grenzland - Ruth Malten


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und einander zu haben. Beide erlebten, dass sie nur verstehen konnte, wer in der Hölle dabei war. Sie verübelten den anderen nicht, wenn sie nur staunend zuhörten, aber das Gesagte nicht einmal ansatzweise nachvollziehen konnten. Was geschehen war, konnte sich auch die lebhafteste Phantasie nicht ausmalen. Sie brauchten einander, um immer und immer wieder darüber zu reden. Es war eine Möglichkeit, einer Heilung näher zu kommen und einer Rückkehr in ein normales Leben. Aber was war im Nachkriegs-Deutschland ein normales Leben? Für sich fanden sie die Antwort: Zunächst nicht verrückt zu werden von der Wucht der unmenschlichen Bilder in ihrer Seele. Überleben als kurzfristiges Lebensziel, die nächsten Stunden, den nächsten Tag überleben ohne zu schreien, zu toben, irgendwas kaputtzuschlagen, auszurasten. Sie lebten ganz nahe an all diesen Möglichkeiten.

      Sie sprachen oft darüber, wie Siegfried von seinem Großvater erzählt hatte, dessen Kriegserlebnisse von 70/71 das wichtigste, größte Ereignis seines Lebens und des Lebens seiner Kriegskameraden gewesen war. Wer diesen Veteranen zuhörte, konnte meinen, sie hätten jahrelang einen wunderbaren Krieg heldenhaft durchlebt und am Ende ohne Verluste zum verdienten und unumstrittenen Sieg geführt. Von diesen im Verlaufe der Jahre immer phantastischer blühenden Erinnerungen mit ihren großartigen Heldentaten hatten sie gezehrt, sie, die Kämpfer aus einem Achtwochenkrieg. Ihre immer währende Kriegsbegeisterung war ein kleines, kaum sichtbares Körnchen Dünger auf dem Kriegs-Euphorie-Bazillus, sein Wachstum befördernd, der 25 Jahre später ihre Söhne, Enkel und einen ganzen Kontinent befallen sollte.

      „Es darf nie wieder Krieg geben“, sagten die, die verstanden und ihre Lehren gezogen hatten. Gustav, Hermine und ihre Kinder gehörten zu ihnen.

      9. Kapitel

       Mit Siebzehn auf eigenen Füßen

       1919

      Als Emma am nächsten Morgen erwachte, war alles anders. Nicht das Erzählen und Singen der kleinen dreijährigen Minna im Bett neben ihr, der besondere Duft des Kleinkindes. Nicht die gewohnten Geräusche, wenn Mutter in der Küche das Frühstück bereitete. Wo sonst die laut tickende weiße Telleruhr gehangen hatte, war nun ein helles Rund an der nachgedunkelten Wand. In der Luft lag noch der Duft von Elises Uralt Lavendel, das Emma ihrer Mutter zum letzten Geburtstag geschenkt hatte. Elise liebte diesen feinen unaufdringlichen Duft, den auch ihre Bettwäsche und die Handtücher ausgeströmt hatten. Sie verwandte, sparsam wie sie war, den Duft für die Wäsche, statt für sich. In der Wohnung hing zudem der Duft von gedünstetem Weißkohl, Essig und Zwiebeln vom Weißkohlsalat, den Elise für die weite Reise in die Schweiz zubereitet, in einen kleinen Sauerkrauteimer gefüllt und mit einem Deckel verschlossen hatte.

      Vollkommene Stille umgab Emma. Erst da kehrte mit voller Kraft die Erinnerung an das Geschehen des Vortages zurück. Ihre Familie war ausgezogen und abgereist, um ein neues Leben in der Schweiz zu beginnen, einem Land, in dem der Vater seiner Arbeit wie bisher in Breslau nachgehen konnte. Er hatte die Zusicherung, dort seinen alten Arbeitsplatz in einer Schuhmanufaktur vorzufinden. Das benötigte Leder für die Herstellung hochwertiger handgenähter Schuhe konnte von der Schweiz aus uneingeschränkt weltweit eingekauft werden. Im Gegensatz zur alten Heimat, wo die britische Seeblockade den internationalen Seehandel von Deutschland aus unterbunden hatte. Seine Familie würde zu essen haben.

      Emma erhob sich und schaute sich um. Die Wohnung war leer bis auf ihr Bett, die Zither und ihre Laute, die in der Zimmerecke lehnten, die Noten sowie ihre Bücher auf dem Fußboden entlang der hinteren Wand. Wie grau die Wände waren, zeigte sich nun, da dort, wo die Schränke gestanden hatten, die ursprünglich helle Farbe sichtbar wurde. An den Fensterrahmen war die Farbe stellenweise abgeblättert, das Rahmenholz Wind und Wetter ausgesetzt. Wo der alte Webteppich fehlte, sah man die Schrammen auf den Holzdielen. Wo vorher eine einfache Glaslampe von der Decke gehangen hatte, hing nun eine einsame Glühbirne an einem Elektrokabel. Hier gab es viel zu tun.

      Ohne Teppich und Gardinen hallten ihre Schritte. Emma setzte sich auf den Boden, legte die Arme um ihre Knie, den Kopf auf die Arme und glaubte einen Moment lang, ihre kleine Schwester lachen und singen zu hören. Minnie lachte und sang tatsächlich zu dieser Zeit, aber auf dem Schiff auf dem Weg von Kreuzlingen am Bodensee nach Romanshorn. Sie sang und lachte, um ihre große Verzweiflung zu übertönen. Sie hatte sich von ihrer Schwester-Mama Emma trennen müssen.

      Die Mitreisenden ließen sich anrühren von der vermeintlich glucksenden Lebensfreude dieses kleinen Mädchens.

      Nur jetzt keine Wehleidigkeit, sagte Emma zu sich selbst. Gerade beginnt für dich etwas Neues. ‚Also Ärmel hoch und das Beste draus machen‘, glaubte sie ihre Mutter Elise sagen hören. Ich kann, darf, muss von nun an alles selbst entscheiden. Bei dieser Betrachtung stockte ihr der Atem einen Moment lang. Sie holte tief Luft, raffte sich zusammen und verscheuchte mit dem frischen Luftstrom die letzten mutlosen Gedanken.

      Sie hatte ihren sicheren Arbeitsplatz als kaufmännische Angestellte sofort nach der Handelsschule gefunden und verdiente gegenwärtig mit siebzehn Jahren in einem Groß- und Außenhandelsunternehmen hochpreisiger Herren-Oberbekleidung etwas mehr als ihre berufserfahrene Mutter in deren Beruf als Friseuse.

      Die folgenden Urlaubstage nutzte Emma, um sich in ihrer ersten eigenen Wohnung im neu beginnenden Lebensabschnitt einzurichten.

      In einem Malergeschäft lieh sie aus, was ein Wohnungsanstrich erforderte: einen Quast, um mit viel Wasser die alte Farbe zu entfernen, einen Eimer weiße Farbe, Rollen, Pinsel, Schmirgelpapier für die Fenster, Grundierungslack, Klar-Lack. Und fing an, die in die Jahre gekommene Wohnung rundum zu erneuern. Sie aß zwischendurch Brot mit Senf oder mit Margarine und trank Wasser aus der Leitung. Der Herd war mit der Familie unterwegs in die Schweiz.

      Sie arbeitete nahezu ohne Pause. Diese Anstrengung beanspruchte ihre ganze Aufmerksamkeit und Kraft und half, ihre wunde Seele zu besänftigen. Sie plante bereits die nächsten Schritte: Stoffreste für neue Gardinen, eine Nähmaschine auf Raten kaufen, alte Möbel in einem Gebrauchtmöbellager ansehen. Sie brauchte fürs erste einen Tisch, einen Stuhl, einen Kleiderschrank.

      Nach fünf Tagen war die Wohnung geweißt, die Holzfensterrahmen waren glatt und glänzten in frischem Braun.

      Wieder setzte sich Emma auf den Fußboden, einen Stuhl hatte sie nach wie vor nicht, und betrachtete zufrieden ihr Werk. Rücken, Schultern, Nacken schmerzten, aber sie war stolz, alles ohne fremde Hilfe und in der geplanten Zeit bewältigt zu haben.

      Sie fand bei dem Gebrauchtmöbelhändler einen kleinen Tisch mit einem Stuhl für wenig Geld. Einen Spind aus alten Militärbeständen bemalte sie als Bauernschrank: blass-grüner Untergrund, darauf dicke Rosenblüten in blassem Alt-Rosa und Weiß, die Rosenblätter in mattem Dunkelgrün. Das Ganze wirkte antik, sehr fein abgestimmt und dezent. Emma empfand zum ersten Mal in der eigenen Wohnung einen Hauch von Glück, den sie später immer wieder spüren sollte, wenn sie eine Idee verwirklichen konnte. Schöpferfreude nannte sie das. Sie stand vor ihrem Schrank, prüfte erneut kritisch Farben und Formen, stemmte beide Hände in die Seiten, wog den Kopf hin und her, lächelte und sagte zu sich selbst: ‚Gut gemacht, Emma.‘

      Als sie zurückkam an ihren Arbeitsplatz, war dort große Aufregung. Fünf Kolleginnen und ihr engster Mitarbeiter standen beieinander und diskutierten. Zunächst waren sie und ihre Wohnung Hauptthema. „Hast du bei all deiner Streicherei mitgekriegt, was draußen in der großen Welt, besser gesagt in Deutschland, in der Zwischenzeit geschehen ist?“, fragte Wilhelm, mit dem Emma einen engeren Kontakt hatte. Er stand vor ihr, groß mit seinen breiten Schultern, ihr leicht zugeneigt, die Holzkrücke unter der linken Schulter, Ersatz für das fehlende, im Krieg verlorene linke Bein, dessen Hosenbein er mit Sicherheitsnadeln hochgesteckt hatte. Mit seinen blaugrauen Augen schaute er sie gutmütig an. Seine glatte dunkelblonde Haartolle hing ihm, wie meist, in die Stirn, seine ganze Haltung drückte Herzlichkeit aus. Seine große, fleischige Hand hielt er ihr entgegen, die Emma, wie stets, gern in der ihren fühlte. „Was ist passiert?“ Emma war neugierig geworden. Seit einer Woche war sie nicht mehr dazu gekommen, Zeitung zu lesen.

      „Der Versailler Vertrag ist unterschrieben und soll am 10.01.1920 in Kraft treten. Der amerikanische Präsident, Woodrow Wilson, hatte vor dem Aushandeln des Vertrages gesagt,


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