Liebe und Tod im Grenzland. Ruth Malten

Liebe und Tod im Grenzland - Ruth Malten


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überwiegend Fotos von Siegen, von lachenden Soldaten, von den tapferen deutschen Helden. Paul hatten diese Bilder stolz gemacht. Er dachte, auch mein Bruder ist einer von diesen lachenden, siegenden, tapferen Helden.

      Der Brief hat ihn im tiefsten Inneren aufgewühlt. Nur seinem Freund Johannes hat er davon erzählt, ihn aber auch vergattert, beiden Elternpaaren gegenüber nicht darüber zu reden. „Das bleibt unter uns. Nichts wird besser, wenn wir unsere Eltern damit belasten“, hatte Paul gesagt.

      Sie bekamen durch ihr tägliches Leben mit, dass es schlecht stand um Deutschland, zu wenig Nahrung, zu wenig Heizmaterial. Gustav hatte Mühe, seine Kunden zu beliefern. Die Kunden waren in der Klemme, das Geld für die weiter und weiter steigenden Preise aufzutreiben. Gustav blieb eisern, wenn es um pünktliche Bezahlung der von ihm gelieferten Ware ging und bezahlte seinerseits pünktlich. Am nächsten Tag wäre der Preis meist höher.

      Hermine kochte ein, was sich einkochen ließ. Möhren wurden in einem großen Tonkrug in Sand gelegt, wo sie sich lange hielten, Weißkohl geraffelt und in einem noch größeren Tongefäß mit Salz und Gewürzen zu Sauerkraut geschichtet. Eier vom Kunden, statt Bargeld erhalten, legte sie in einem weiteren Tongefäß in Wasserglas, wo sie monatelang frisch blieben. Kartoffeln lagerten auf einem mit Säcken verdunkelten Holzgestell. Die Regale waren gefüllt mit eingeweckten Früchten, die meisten ohne Zucker, der Mangelware war. Hin und wieder erhielt Gustav Zucker als Bezahlung von einem Kunden, der Beziehungen zu einem Zuckerlieferanten hatte. Es wurde getauscht, versteckt, schwarz gehandelt. Wer keine Beziehungen oder Waren zum Tauschen hatte, hungerte.

      Paul, der auf einem Heimweg von der Schule mit Johannes darüber sprach, sagte: „Traurig, dass Moral und Anstand auf der Strecke bleiben, wenn es ums Essen und Trinken geht. Wer seinen Vorteil sucht, betrügt ja eigentlich die anderen, die solche Vorteile nicht haben. Wenn die vorhandenen Lebensmittel gerecht auf alle verteilt werden müssen, sind eigentlich die, die mogeln, unsozial.“ Johannes überlegt eine Weile, dann sagt er: „Diese edlen Prinzipien sind wohl außer Kraft, wenn du als Vater eine Familie ernähren musst. Du hast dann die Wahl, entweder deine Kinder erkranken oder verhungern oder du lässt ‚Fünfe gerade sein‘, wie meine Mutter sagen würde, um zusammen mit deinen Kindern zu überleben.“ Johannes schätzte diese Geradlinigkeit seines Freundes, spürte aber auch, wie oft er damit gegenüber der unbarmherzigen Kriegswirklichkeit in Gewissensnot geriet.

      In der Nacht des 23. August 1918 erleidet Hermine einen Erstickungsanfall. Gustav ruft den Arzt. Hermine erhält eine Spritze und ein Atem-Spray. Am Morgen erzählt sie Gustav, sie habe im Schlaf Arthur erbärmlich um Hilfe schreien gehört und sei von diesen Hilfeschreien aufgewacht.

      In der gleichen Nacht, kurz vor Ende des Krieges während der großen Westoffensive, wird Arthur durch einen Artillerie-Einschlag verschüttet. Er schreit nach seiner Mutter, wieder und wieder, und wird von seinen Kameraden ausgegraben. Wegen eines Lungenrisses kann er kaum noch atmen. Sanitäter bringen ihn ins Lazarett nach G., eine ehemalige Schule. Er ist hochgradig traumatisiert, zittert ständig am ganzen Körper und hat grauenvolle Angstzustände. Eine erneute Kriegsverwendung kommt nicht in Betracht. Für Arthur ist der Krieg zu Ende.

      Hermine bricht bei der Nachricht über die Verletzungen ihres Sohnes zusammen. Sie ist tagelang nicht ansprechbar. Bei Eintreffen der Nachricht liegt Arthurs Kriegsverletzung bereits eine Woche zurück. Sie und Gustav erkennen bestürzt, dass Hermines Asthma-Anfall und Arthurs Kriegsverletzung in der gleichen Nacht geschahen.

      Sie sind vom Lazarett gebeten worden, Arthur vorläufig nicht zu besuchen, er brauche absolute Ruhe.

      Im November 1918 dankt der Kaiser ab und geht ins Exil. Der Krieg ist zu Ende.

      „Hör dir das an“, sagt Gustav zu Hermine, hält die Zeitung in der Hand und beginnt vorzulesen:

      „Der Krieg hat 1.300 Milliarden Goldmark gekostet.

      8,5 Millionen Soldaten verloren ihr Leben auf den Schlachtfeldern.

      7,7 Millionen Soldaten werden vermisst.

      Ganze Landstriche sind verwüstet.

      Die meisten europäischen Volkswirtschaften sind ruiniert.“

      Gustav lässt die Zeitung sinken. „Man möchte vor Zorn und Wut schreien“, zischt er durch die Zähne, springt auf, läuft zum Fenster und stiert ins Leere. Seine zitternden Hände hat er in beiden Hosentaschen vergraben.

      Tiefhängende graue Wolken ziehen in Schwaden eilend über das Land. Der Regen trieft in schräg verlaufenden Bindfäden über die Fensterscheibe. An der Wäscheleine zwischen den beiden Klopfstangen hängen Regentropfen wie an einer Perlenschnur. Ronja hat sich in die Hundehütte verkrochen. Nur die Spitzen ihrer Vorderpfoten lugen aus der dunklen Höhle.

      „Die heimkehrenden deutschen Soldaten wurden nicht als Helden mit Blumenkränzen geschmückt“, sagt Hermine leise hinter seinem Rücken, hält sich beide Hände vor das Gesicht und weint. Sie weint endlos, als könne sie niemals mehr damit aufhören. Als sie die Hände vom Gesicht nimmt, ist ihr Antlitz gerötet und nass. Jeder Hauch von Hoffnung und Lebensfreude ist aus ihrer Miene gewichen.

      Die Heimkehrer waren unwillkommen. Ihre übermenschlichen Leistungen in schlammigen, dreckigen Erdlöchern, ihre Verletzungen, ihre Invalidität und der Tod der Vielen wurden nicht honoriert. Die Daheimgebliebenen waren mit Überleben beschäftigt.

      Wohin mit den kranken, kriegsverletzten oder auch gesund gebliebenen Kriegsheimkehrern? Deren Not und Ungewissheit erforderten eine Lösung. Das Problem ließ sich auf Dauer nicht verdrängen.

      Deutschland war kein Kaiserreich mehr. Die Republik sah sich vor der Mammut-Aufgabe, die Scherben aufzukehren und etwas Neues aufzubauen.

      Die Bedingungen des Versailler Vertrages waren so hart und einengend, dass die Zeit nach dem Krieg zu wenig Hoffnung Anlass bot.

      Gustavs Betrieb hatte überlebt. Sein Warenangebot hatte er erheblich verkleinern müssen, da er von den Bezugsquellen abgeschnitten war.

      Durch den im Versailler Vertrag neu entstandenen Polnischen Korridor, der Ostpreußen von Westpreußen und dem übrigen Deutschland abschnitt, ergaben sich weitere Schwierigkeiten. Ostpreußen war nun rundherum von Polen umgeben. Ware aus dem westlichen Deutschland musste auf dem Landweg zweimal die polnische Grenze passieren. Das Gleiche galt, wenn er Ware aus Ostpreußen nach Deutschland liefern wollte. Kleinere und größere Grenzschikanen, Verzögerungen, unausgesprochene Schmiergeldwünsche verzögerten und verteuerten Lieferungen. Die britische Seeblockade war nach dem Krieg weiterhin in Kraft.

      Das Problem der ins Irreale gestiegenen und steigenden Preise bestand nach wie vor. Die Errechnung eines Preises fand täglich aufgrund des veränderten Dollarkurses statt. Lebensmittel kaufte Hermine vor 12 Uhr. Nach 12 Uhr konnten die Preise schon wieder gestiegen sein.

      Im Sommer 1919 wurde Arthur als geheilt aus dem Lazarett in G. entlassen. Er hatte nach wie vor erhebliche Beschwerden beim Atmen. Sie blieben bis an das Ende seiner Tage, nur wenig abgemildert, bestehen. Das Zittern und die Angstzustände wurden mit Medikamenten behandelt. Die Medikamente dämpften seine noch fünf Jahre zuvor große Arbeitsfreude. Er war müde, schlapp und kraftlos. Innerhalb der nächsten drei Jahre kehrte ein Teil seiner früheren Energie zurück. Der Vater ermöglichte ihm, sofort nach seiner Rückkehr wieder im Betrieb mitzuarbeiten, soweit er wollte und konnte. ‚Arbeit ist vielleicht die beste Medizin‘, hoffte Gustav. Anfangs reichte die Kraft nur für kurze Zeiträume im Büro, später auch wieder für leichtere Verrichtungen am Lager. Er erholte sich niemals mehr ganz, wurde nie mehr der alte.

      Sein Klassenkamerad Siegfried, der Patriot, starb im August 1918 bei der Westoffensive in Frankreich. Sein Großvater fiel bei dieser Nachricht in tiefe Schwermut und war nicht mehr arbeitsfähig. Er fühlte sich schuldig am Tode seines Enkels. „Ich habe ihn ja erst richtig heiß gemacht“, sagte er. Seine Gedanken kreisten nur noch um Siegfrieds Tod und seine, des Großvaters, Schuld.

      Wolfgang, Arthurs Freund und Klassenkamerad, hatte den Krieg überlebt, war aber zum Leidwesen seiner Eltern völlig verschlossen zurückgekehrt. Seine frühere heitere Lebensfreude war dahin.

      Arthur hatte erlebt,


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