Chronik von Eden. D.J. Franzen
war tot. Es war keiner mehr da, der wegen einer Zigarette Streit anfangen würde. Hinter einem Vorhang aus blauem Dunst stellte er sich vor.
»Martin Martinsen. Ehemals freier Journalist für die XXX-NEWS. Jetzt arbeitslos.«
Declans Lächeln wuchs in die Breite.
»Das Revolverblatt, mit den wöchentlichen Meldungen über Wiedergänger, Entführungen durch Außerirdische und UFO-Sichtungen?«
Martin nickte. Die Zigarette schmeckte nach alter Matratzenfüllung. Karins Rache aus dem Reich der Toten, oder eine Folge seines nahenden Turkeys?
»Dann muss das hier für Sie ein gefundenes Fressen sein, oder? Was halten sie von den Gerüchten, die man überall hört? Die Grippetoten sollen als Zombies wiederauferstehen und die Lebenden fressen«, sagte Declan. Sein Lächeln wirkte aufgesetzt und er machte eine vage Handbewegung nach draußen. Martin schüttelte den Kopf.
»Wie gesagt, ich bin arbeitslos.«
Zwei weitere Soldaten stiegen ein und blockierten den Ausstieg. Mit einem Ruck fuhr der Lastwagen an.
»Wo waren Sie als es losging?«, fragte Declan. Martin zog noch einmal kräftig an der Zigarette und schnippte den Stummel auf die Straße. Unter den derzeitigen Umständen würde er dafür wahrscheinlich keinen Strafzettel bekommen. Der Affe in seinem Nacken begann ihn langsam und gleichmäßig durchzurütteln.
»Ich war bei meiner Verlobten.«
»Und ich war auf dem Weg nach Hause. Saß im Flieger von Genf nach London.«
Declan zögerte. Dann holte er zitternd Luft.
»Der Pilot musste die Flugroute ändern. Im Korridor über dem Kanal war die Hölle los. Kurz vor dem Flughafen Charles-de-Gaulle kam dann die nächste Hiobsbotschaft. Paris wurde unter Quarantäne gestellt und desinfiziert. Was immer das auch heißen mag. Mit dem letzten Tropfen sind wir dann auf dem Köln-Bonner gelandet.«
Sehr interessant. Karin war tot. Was juckte ihn da die Lebensgeschichte eines Fremden? Vielleicht könnte sie noch leben, wenn er auf die Ausgangssperre geschissen hätte. Hatte er falsch reagiert? Martin griff in die Innentasche seiner Jacke. Dort hatte er einen kleinen Notvorrat an Nasenzucker. Er holte die kleine Phiole hervor. Declans Blick brannte auf seinem Gesicht. Martin hielt ihm die Phiole unmerklich hin, was Declan mit einem Kopfschütteln beantwortete. Martin schnippte den Deckel auf und tat so, als müsse er sich vorsichtig schnäuzen.
Eine angenehme Ruhe überkam ihn. Vorsichtig steckte er sein kleines Geheimnis wieder in die Jackentasche. Eine heisere Stimme schallte in das Innere des Armeelasters und riss Martin aus seinen Gedanken.
»Der Herr aber sprach zu Gideon: Des Volkes ist zu viel, das mit dir ist. So lass nun ausrufen vor den Ohren des Volkes und sagen: Wer blöde und verzagt ist, der kehre um. Da kehrten des Volks um Zweiundzwanzigtausend, dass nur Zehntausend übrig blieben.«
Der Laster hielt mit einem Ruck an und die Soldaten, die ihnen bisher den Ausgang versperrt hatten, sprangen raus. Martin schaute ihnen desinteressiert hinterher. Ein nackter Mann torkelte über den nassen Asphalt. Er hielt ein Schild über seinen Kopf erhoben. Ein großes Kreuz und die Worte Gehet hin und tuet Buße, ihr Sünder, prangten in blutroter Schrift auf schwarzem Hintergrund.
»Und der Herr sprach zu Gideon: Des Volks ist noch zu viel. Führe sie hinab ans Wasser, daselbst will ich sie dir prüfen. Und er führte das Volk hinab ans Wasser.«
Martin runzelte die Stirn. War das nicht eine Passage aus der Bibel? Das Buch Gideon oder so? Einer der Soldaten sprach den Propheten an. Martin konnte seine Worte nicht verstehen. Sie kamen nur als dumpfe Laute unter Maske hervor. Der Prophet reagierte nicht und schrie weiter.
»Und der Herr sprach zu Gideon: Wer mit seiner Zunge Wasser leckt, wie ein Hund, den stelle besonders. Desgleichen, wer auf seine Knie fällt zu trinken. Da war die Zahl derer, die geleckt hatten aus der Hand zum Mund, dreihundert Mann.«
Der Soldat schrie etwas, das Martin wegen der Maske aber nicht verstehen konnte. Der nackte Prediger holte Luft und der Soldat verpasste dem Mann einen Fausthieb auf den Mund. Martin zuckte zusammen. Er glaubte das Knirschen der Zähne zu hören, aber das konnte nur eine Einbildung sein. Der Irre rief weiter seine Botschaft ans Volk, jetzt aber wesentlich undeutlicher.
»Und der Herr sprach zu Gideon: Durch die dreihundert Mann will ich euch erlösen. Aber das andere Volk lass gehen.«
Das letzte Wort ging in einen erstickten Klagelaut über. Martin sah zurück auf die Straße. Der Nackte hielt sich mit beiden Händen den Schritt und sackte in die Knie. Sein Mund ein rotes O der Überraschung und des Schmerzes. Das Schild lag neben ihm im Schmutz der Straße. Einer der Soldaten zielte mit seiner Pistole und schoss. Die Schädeldecke des Propheten verschwand in einer rosa Wolke.
Martin wollte aufstehen, den Soldaten anschreien, herrschte doch schon genug Leid überall, als er ein scharfes Knacken hinter sich hörte. Er blieb ganz steif in seiner halb aufgerichteten Position. Eine Hand legte sich auf seinen Arm. Er drehte sich um. Einer der Soldaten, die im Laster geblieben waren, hielt ihm seine Pistole vor das Gesicht. Declan schüttelte leicht den Kopf.
Es dauerte einen Augenblick, bis Martin sich dieser Situation voll bewusst wurde. Declans Stimme drang dumpf durch den Vorhang aus Unglauben um sein Denken.
»Kriegsrecht.«
Kapitel II - Angenehm betäubt
Während der restlichen Fahrt schwieg Martin. Sein Denken und sein Fühlen waren in dichte Watte gepackt. Etwa so, als hätte ihm ein Zahnarzt die Doppelte Dosis Novokain direkt ins Gehirn injiziert. Das waren bei ihm die typischen Anzeichen dafür, dass er bald wieder etwas brauchte, um die Stimmen in seinem Kopf zu dämpfen. Die Intervalle wurden immer kürzer, wenn er unter Stress stand oder sich unter vielen Menschen befand. Martin tauchte erst aus seiner dumpfen Erstarrung auf, als der Laster anhielt und die Soldaten ihn und Declan Smith von der Ladefläche zogen. Erstaunt blickte er sich um.
Sie standen mitten auf den Jahnwiesen, unmittelbar vor dem Rheinenergie Stadion. Etwa ein Drittel der Rasenfläche diente als Start- und Landefläche für Hubschrauber. In unmittelbarer Nähe sah er eine bunte Mischung aus den verschiedensten Fahrzeugen. Militärische Jeeps und Laster, zwei Feuerwehrwagen, mindestens vier große Kühllaster, Einsatzfahrzeuge der Polizei und mittendrin die vollgepackten Familienkutschen von Menschen, die auf der Flucht vor der Seuche waren. Zwischen all den Autos hasteten Menschen umher. Dort wurde ein Wagen beladen, hier einer mit einer Handpumpe aufgetankt und daneben ein Motor mit farbenprächtigen Beschimpfungen dazu überredet, endlich anzuspringen. Über allem wehte ein undefinierbarer Gestank. Etwa so, wie Schweinefleisch riecht, wenn es zu lange auf dem Grill liegt.
Das Chaos hatte etwas von einem Rockfestival an sich. Aber da waren die Gesichter der Menschen. Hart, verschlossen und manch eines wirkte, als wären eben noch Tränen daran heruntergelaufen. Ein Soldat nahm Martin am Ellenbogen und zog ihn in die andere Richtung, einer behelfsmäßigen Zeltstadt entgegen.
Martin sah Kinder. Leise vor sich hin weinend oder mit erloschenem Blick in eine nicht fassbare Ferne starrend. Einige hielten ein kaputtes Spielzeug so fest in den kleinen Händen, als wäre es ein Anker in diesem Albtraum. Er sah ein Zelt, vor dem eine Gulaschkanone aufgebaut war. Nach dem zu urteilen, was der Koch den hungrigen Menschen auf die schmutzigen Teller klatschte, war es wohl nicht mehr, als heißes Wasser, das man an einer ordentlichen Portion Suppengrün und Gemüse vorbeigeschossen hatte. Ein alter Mann mit Anzug und Hut irrte suchend in den matschigen Gassen der Zeltstadt umher. Er fragte jeden in erreichbarer Nähe, ob denn niemand seine Vera gefunden hätte. Sie müsste ihre Medikamente nehmen, und ohne ihn wäre sie doch so hilflos. Ein Soldat packte den alten Mann grob an der Schulter und zog ihn weg, bevor er Martin erreichen konnte. Eine Nonne kam mit abschätzigem Blick den matschigen Weg auf ihn zu. Sie musterte erst Martin und dann Declan.
»Welche Blutgruppe haben Sie?«, fragte die Nonne Martin.
»Ich wollte nur meine Verlobte hier abgeben. Sie ...«
»Welche Blutgruppe haben Sie?«, fiel ihm die Nonne ins