Chronik von Eden. D.J. Franzen
negativ.«
»Sehr gut.«
»Hören Sie ...«
Die Nonne nickte. Martin hörte hinter sich ein metallisches Knacken. Er drehte sich langsam um. Der Soldat hatte sein Gewehr auf ihn angelegt. Declan starrte mit blassem Gesicht und großen Augen auf das Schauspiel. Martin kniff die Lippen zusammen. Der Prophet, den sie auf dem Weg hierher gesehen hatten, kam ihm in den Sinn. Der Soldat winkte mit dem Lauf des Gewehrs und Martin ging in die angegebene Richtung. Hinter sich hörte er die Nonne Declan die gleiche Frage stellen.
»Und welche Blutgruppe haben Sie?«
Karins Leiche sah er nie mehr.
*
Zwei Stunden später saß Martin auf einem notdürftig aufgestellten Bett. Man hatte ihn in ein Zimmer gebracht, das zum ehemaligen VIP-Bereich des Stadions gehörte. Eine breite Fensterfront bot ihm einen Ausblick auf das Notlager. Von hier aus konnte er den Rauch des Leichenfeuers sehen. Ob Karin schon ...
Er verdrängte den Gedanken. Er griff in seine Hosentasche und fingerte seinen Verlobungsring hervor. Gedankenverloren drehte er ihn in den Fingern. Sein Blick fiel auf die Innenseiten seiner Arme.
»Du siehst aus wie ein typischer Junkie«, murmelte er. Hier eine Ampulle Blut, dort eine Injektion. Und dann die Fragen. Endlose Fragen, die ihn einfach nur ermüdeten, weil sie nach einer Weile alle gleich klangen. Nur die Gesichter hatten ständig gewechselt.
Wie alt sind Sie?
Welche Krankheiten hatten Sie bisher?
Kinderkrankheiten?
Erbkrankheiten?
Welche Krankheiten hatten Ihre Eltern?
Ihre Großeltern?
Er hatte die ganze Zeit darauf gewartet, dass ihn endlich jemand zu dem Blutspendezelt des Roten Kreuzes brachte. Aber je länger er hin und her geschoben wurde, je mehr Fragen und Nadeln und Untersuchungen auf ihn eingestürmt waren, umso weniger hatte er noch daran geglaubt, dass er jemals dieses Zelt von innen sehen würde. Auf seine schwachen Fragen, was denn jetzt los sei und was mit ihm geschehen würde, hatte man ihm keine Antwort gegeben. Nur die Blicke, die man ihm zugeworfen hatte, die waren merkwürdig gewesen. Die Ärzte und Schwestern hatten ihn gemustert, wie man ein besonders seltenes Insekt unter dem Mikroskop betrachten mochte. Statt einem Soldaten, der ihn zum Untersuchungszelt gebracht hatte, hatte er plötzlich drei bewaffnete Begleiter bekommen. Alle trugen ABC-Schutzmasken, so dass er sie nicht unterscheiden konnte. Aber Martin hatte ihnen im Geiste die Namen Tick, Trick und Track gegeben. Karin hätte zu dieser Namensgebung bestimmt wieder etwas sagen können. Von wegen Kindsköpfigkeit und so. Aber Karin ... war nicht mehr da.
Martin ignorierte den Schmerz, der sich wie ein Eisenring um seine Brust legte. Er verdrängte jeden Gedanken an sie.
Besser so.
Sonst würde er vielleicht weinend zusammenbrechen, sich auf dem Bett zusammenkrümmen, wie ein Kind mit schlimmen Bauchschmerzen. So ein Bild des Elends wollte er niemandem bieten. Herrgottnochmal, er war ein Mann. Zeit, sich endlich wie ein solcher zu benehmen. Er holte mehrmals tief Luft. Seine Hand ballte sich um den Ring zur Faust. Der Affe in seinem Nacken kam zurück. Und er hatte seinen Bruder mitgebracht. Unruhig wippte Martin mit den Füßen, zitterte und begann zu schwitzen, als das Murmeln und Summen in seinem Kopf wieder zunahm.
Martin würde so gerne Zippeln und zappeln, sich kratzen und streicheln, seine Finger fingern und seine Knöchel knöcheln lassen ... Um sich abzulenken rief er sich noch einmal das Bild der drei Soldaten in Erinnerung.
Tick hatte in seinem Schutzanzug wie ein zu klein geratenes Michelin-Männchen gewirkt. Er war auch der aggressivste der Gruppe gewesen und hatte an der Spitze der kleinen Prozession von seinem Gewehrkolben reichlich Gebrauch gemacht, um Platz zu schaffen. Trick und Track hatten auf ihn wie zwei Kleiderschränke gewirkt, die man für die Wintermonate im Sommerhaus mit einer Plastikplane abgedeckt hatte. Die beiden hatten auch vor der Tür seines Zimmers Posten bezogen. Ob sie immer noch dort standen? Martin seufzte und beschloss es nicht auszukundschaften. Ihm war nicht nach Streit zumute. Sollten sie doch mit ihm machen, was sie wollten. Ihm egal. Karin war tot, was kümmerte es ihn, wenn der Rest der Scheißwelt vor die Hunde ging.
Der Affe in seinem Nacken rüttelte ihn für einen kurzen Moment besonders heftig durch.
Nur ein kleiner Sniff, das wäre doch machbar, oder?
Die Tür ging auf. Martin sah zwei Männer hereinkommen. Beide trugen nur Gesichtsmasken, aber keine Schutzanzüge. Einer trug einen weißen Kittel, der andere eine Uniform mit unzähligen Ordensspangen auf der Brust. Seine Augen waren rotgerändert, so als hätte er vor kurzem noch geweint. Hinter den beiden kamen Trick und Track in den Raum. Der Weißkittel stellte sich neben Martin an das Bett, als wolle er das Ergebnis jahrelanger Forschung präsentieren. Der Uniformierte mit den roten Augen musterte Martin mit unverhohlener Neugier. Seine Augen funkelten kalt. Trick und Track flankierten den Uniformierten.
Einige Augenblicke vergingen schweigend. Martin wollte gerade zu einer Frage ansetzen, als Uniform sich an den Arzt wandte.
»Ist er das?«
Ein leichter Akzent, in dem für Martins Empfinden ein Hauch Baguette und Gauloises mitschwang. Belgier? Franzose?
»Ja, mon Général. Er scheint absolut immun zu sein. Alle Tests verliefen negativ.«
Martin runzelte die Stirn. Was wurde hier gespielt? War also doch etwas an den Gerüchten, dass die NATO inzwischen das militärische Oberkommando über Köln übernommen hatte? Uniform nickte und etwas stach Martin in den Arm. Er zuckte heftig zurück. Weißkittel kannte keine Gnade und drückte ihm irgendeine klare Flüssigkeit in den Muskel seines Oberarms.
»Autsch! Verdammt was soll ...«
Martins Zunge wurde schwer. Das Zimmer verzerrte sich und die Wirklichkeit schlug Wellen. Seine Kopf summte. Er drehte sich zu dem Arzt um.
»Was hamse mirda geschpritzt?«, nuschelte Martin. Die Silben purzelten haltlos aus seinem Mund. Sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Uniform wandte sich an Trick und Track.
»Bringt ihn weg. Vielleicht ist er ein Ansatz für die Lösung.«
Die Lösung? Für was sollte er die ...
Der Gedanke ertrank, bevor Martin ihn vollenden konnte. Das Bettlaken fiel ihm entgegen. Dann kam die Dunkelheit.
Kapitel III - Erwachen
Die Welt war zeitlose Schwärze. Langsam wuchsen Geräusche und Stimmen aus dem Nichts.
»Immer noch keine Reaktion?«
Eine verschwommene Gestalt zeichnete sich hell aus dem Nichts heraus ab.
»Nein Sir. Wir haben ihm sogar eine doppelte Dosis intravenös verabreicht. Sein Immunsystem spült alle Erreger sofort wieder aus.«
Die Gestalt sah aus wie ein Astronaut.
»Wie kann das sein? Ab sofort ist dieser Mann wie ein Patient Null zu behandeln. Halten Sie ihn ruhig. Vielleicht ist er die Lösung.«
Ein Stich in den Arm.
Dann wieder zeitlose Dunkelheit.
In der Dunkelheit eine Gestalt, heller als tausend Sonnen und doch nicht blendend, heißer als es ein Mensch ertragen konnte und doch nicht verbrennend. In die zeitlose Dunkelheit kam das Gefühl von Frieden und Liebe.
Und damit die vage Ahnung einer Aufgabe.
Nach einer nicht messbaren Zeitspanne schwamm das Bewusstsein erneut an die Grenze zum Licht. Ein Name tauchte aus dem Nichts auf.
Martin.
Mit dem Namen kamen Schmerzen. Druck auf der Brust, der das Atmen erschwerte. Ein brennendes Stechen im Arm. In der Schwärze hinter seinen Lidern ein Piepsen. Ein gleichmäßiges, elektronisches Geräusch, das mit entnervender Gleichgültigkeit in sein Bewusstsein tropfte. Die