Chronik von Eden. D.J. Franzen

Chronik von Eden - D.J. Franzen


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untersagt sei.

      Martin wischte mit sich etwas Blut von seiner Oberlippe und nickte.

      »Wo würde ich mich am liebsten verstecken, wenn die Welt untergeht? Im Keller, wo sonst.«

      *

      Wenige Augenblicke später stand Martin wie eine Statue in der Tür zum Heizungskeller. Das leise Surren einer Heizungs- und Belüftungsanlage hallte von den Wänden wider. Am Ende der Treppe führten zwei Gänge nach links und rechts, tiefer in den Keller hinein. Martin zitterte und auf seiner Oberlippe bildeten sich feine Schweißperlen.

      Der Junge war der erste lebende Mensch, dem er nach seinem Erwachen begegnet war. Er musste ihm folgen, wenn er erfahren wollte, was geschehen war. Aber ein Wächter, mit dem Martin niemals gerechnet hätte, bewachte die Treppe. Geduldig auf Beute lauernd hing er auf Höhe der dritten Stufe von der Decke.

      Eine Spinne.

      Wenn Martin etwas hasste, dann waren es die diese kleinen, haarigen Monster auf acht Beinen. Und dieses Exemplar hier, war ein besonders dickes. Sie schwang leicht an ihrem Faden hin und her und schien ihn dabei zu verspotten. Wie war der Junge an ihr vorbeigekommen? Hatte er durch den Luftzug seiner Bewegung dieses Monster dazu gebracht, aus ihrem Netz zu kommen und sich auf die Lauer zu legen?

      Martin holte zitternd Luft.

      »Okay. Ich tue dir nichts, wenn du mich auch in Ruhe lässt.«

      Mit Beinen, die nicht zu seinem Körper gehörten, drückte Martin sich rücklings an das Geländer. Vorsichtig betrat er die erste Stufe. Sein Atem kam in harten Stößen und Schweiß brannte in seinen Augen. Dann erreichte er die dritte Stufe und stand Auge in Auge mit der Spinne. Sein Atem verstärkte ihr Schwingen. Mit jedem Atemzug kam sie näher an sein Gesicht. Martin wollte die nächste Stufe betreten, aber der Befehl an seine Beine ging auf dem Weg durch seine Nervenbahnen verloren. Mit grausiger Faszination bemerkte Martin, wie die Spinne sich an ihrem Faden lässig in seine Richtung drehte. Der kalte Glanz der Neonröhren spiegelte sich in ihren Augen. Ein weiterer Atemzug ließ die feinen Haare auf ihrem Körper erzittern, gab ihr nochmals einen Schwung und unaufhaltsam kam sie mit jeder Amplitude ihrer Schwingung seinem Gesicht näher. Ein unartikulierter Laut kroch in Martins Hals hoch. Das Zittern erreichte seinen ganzen Körper. Gleich würde dieses handtellergroße Ungeheuer in seinem Gesicht landen, sich mit seinen Beinen an seinen Wangen festklammern und –

      »Kommst du endlich?«

      Mit einem entsetztem Aufschrei fuhr Martin herum. Seine Beine verhedderten sich im Riemen der Maschinenpistole. Laut polternd fiel Martin die letzen Stufen der Treppe hinunter.

      Unten angekommen rappelte er sich auf, tastete mit hastigen Bewegungen seinen Körper ab.

      »IstsiewegistsieirgendwoanmirsiehstdudasVieh?«

      »Maximilian ist kein Vieh.«

      Schwer atmend schaute Martin die Treppe herauf. Die Spinne hing an Ort und Stelle. Dann wandte er sich zu der Stimme um. Der blonde Junge blickte ihm grinsend ins Gesicht. Martin besann sich auf dessen Alter und versuchte, erwachsen zu klingen.

      »Wenn du es sagst. Ich finde aber trotzdem, dass es ein Ungeheuer ist. Eine Vogelspinne ist kein Haustier, sondern eine giftige Waffe auf acht Beinen.«

      Der Junge schüttelte den Kopf und das Grinsen verschwand aus seinem Gesicht.

      »Wenn Max dich gebissen hätte, wäre es nicht schlimmer als ein Bienen- oder Wespenstich geworden.«

      »Und woher willst das wissen, du kleiner Klugscheißer?«

      »Max ist keine asiatische Vogelspinne. Bei denen kann ein Biss in manchen Fällen zu Muskelkrämpfen führen.« Der Junge wandte sich von Martin ab. »Und wenn hier einer ein Klugscheißer ist, dann doch wohl du. Vogelspinnen bauen keine Netze und können deshalb auch nicht an Fäden von der Decke baumeln.«

      Martin blickte dem Jungen mit offenem Mund hinterher.

      »He«, rief Martin. Der Junge blieb an der Ecke stehen und drehte sich zu Martin um.

      »Ich heiße Tom. Und du bist Martin Martinsen.«

      »Woher weißt du meinen Namen?«

      »Was glaubst du, wer die ganze Zeit nach dir gesehen hat, seit sich hier alle gegenseitig umgebracht haben?«

      Tom griff in seine Hosentasche und holte ein gigantisches Schlüsselbund hervor. Martin schüttelte ungläubig den Kopf. Der Junge holte Luft, als wolle er noch etwas hinzufügen, als er plötzlich erstarrte und den Kopf zur Seite neigte. Sein Blick wandte sich nach innen und wieder bemerkte Martin, dass die Augen des Jungen sich verdunkelten. Martin hatte plötzlich das Gefühl in einem dicken Sirup zu liegen. Seine Wahrnehmung veränderte sich. Eine Staubfluse am Boden wuchs zur Größe eines Dornenbuschs, das leise Surren der Maschinen schwoll zu einem dumpfen Grollen heran. Martin bemerkte, das Toms linker Arm eine Prothese war. Ihm wurde schwindelig. Ein merkwürdiges, knisterndes Geräusch wurde allmählich lauter und drängender. Es klang entfernt nach Speck, der in einer Pfanne brutzelte. Martin wollte sich an den Kopf fassen, wollte sich davon überzeugen, dass er noch er selber war, als der Moment verflog.

      Tom blickte besorgt auf.

      »Martin. An deiner Stelle würde ich jetzt mitkommen.«

      Martin rappelte sich schwankend auf und versuchte sich zu orientieren. Der Gang schien Wellen zu schlagen und der Boden fühlte sich an, wie das Deck eine Schiffs auf hoher See.

      »Was?«

      »Ein Unwetter zieht auf und es wird dunkel. SIE kommen. SIE kommen immer, wenn es dunkel wird.«

      »Wer sind SIE?«

      »SIE?« Ein leichtes Lächeln legte sich auf Toms Züge, erreichte aber seine Augen nicht. Er fasste mit seiner gesunden Hand nach Martins Arm. »Wenn du schon Angst vor einer ausgestopften Vogelspinne hast, möchtest du die Knirscher bestimmt nicht kennen lernen.«

      Ein Gefühl der Hilflosigkeit stieg in Martin auf. Die Welt war für ihn innerhalb eines Augenblicks zu einem Ort geworden, in dem er sich ohne fremde Hilfe nicht mehr zurecht fand. Er blickte in Toms Augen und sah darin eine Härte, die nicht in die Augen eines Kindes gehörte. Martin nickte ergeben und ließ sich von Tom in die Tiefen des Kellers führen.

      Und das Knistern und Knirschen wurde immer lauter.

      *

      Martin hastete hinter Tom durch ein Labyrinth aus schmalen Gängen. Graue Türen zogen an ihm vorbei, dann ging es durch einen Maschinenraum. Das Tosen einer Anlage, ob Heizung oder Klima, vermochte er nicht zu erkennen, unterdrückte das Knistern und Knirschen. Martin fragte sich, wie groß die Schule sein mochte und machte eine entsprechende Bemerkung.

      »Dies ist keine Schule«, sagte Tom, während er eine der Türen öffnete und Martin in einen dunklen Gang lotste, an dessen Ende eine Treppe nach unten führte. »Wir sind hier in einem Teil der Sporthochschule Köln.«

      Martin legte Tom eine Hand auf die Schulter.

      »Warte bitte. Ich kann nicht mehr.«

      Er stützte seine Hände auf die Knie und atmete schwer. Seine Beine zitterten und sein Blick verschwamm. Ungeduldig trat Tom von einem Fuß auf den anderen. Das Knirschen und Knistern war zu einem ständigen Begleiter der beiden geworden. Martin kam ein Gedanke.

      »Du sagtest vorhin, ich würde die ... Knirscher nicht kennen lernen wollen, wenn ich vor einer ausgestopften Spinne Angst hätte. Was meintest du damit?«

      Ein Lächeln huschte über Toms Gesicht und Martin bemerkte zum ersten Mal einen Anflug kindlichen Vergnügens in seinen Augen.

      »Ich sagte doch schon, das Vogelspinnen keine Netze bauen. Sie sind Jäger.«

      »Aber warum dann dieses Monster an der Treppe?«

      »Abschreckung. Machen viele Amazonasstämme heute noch. Sie stecken die Köpfe ihrer Feinde auf Pfähle und markieren somit die Grenzen ihres Stammesgebiets.«

      Das


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