Chronik von Eden. D.J. Franzen
er Einen oder Zwei über den Durst getrunken hatte.
Sein Blick glitt in den Flur hinaus. Ein Fleisch gewordenes Gemälde von Hieronymus Bosch erwartete ihn hier. Ärzte, Pfleger, Schwestern und Patienten lagen mit verdrehten Gliedmaßen auf dem grünen Linoleum des Bodens. Die Wände waren mit Einschusslöchern übersät und über allem lag das unverwechselbare Parfüm des Todes. Drei Schritte entfernt lag ein Uniformierter. Martin blinzelte verwirrt. Trug der nicht einen Schutzanzug? Merkwürdig nur, dass der Tote keine Maske angelegt hatte. Auf jeden Fall hielt er eine Waffe in der Hand und hatte Ersatzmagazine an seinem Gürtel. Was immer hier passiert war, eine Waffe war in einer Situation wie dieser ein Geschenk Gottes. Martin ging vorsichtig zu der Leiche. Um den Gurt der Waffe zu lösen musste er den Toten drehen. Ein Blick den Flur hinauf und hinab. Niemand zu sehen oder zu hören. Martin fasste die Leiche unter den Schultern, wuchtete sie ächzend an ... und ein jodelndes Stöhnen aus dem Mund des Toten zerriss die Stille.
Martin schrie erschrocken auf, robbte auf dem Hintern rückwärts von der Leiche weg. Sein Herzschlag raste, feiner Schweiß stand auf seiner Stirn und seine Arme zitterten. Die Leiche blieb ruhig liegen. Martin erinnerte sich, irgendwann ein Gerücht aufgeschnappt zu haben das besagte, dass ein Toter, der lange genug liegt, in seinen Därmen jede Menge Gase sammelt. Diese Gase kommen nicht an der erschlafften Zunge vorbei, die wie eine Sperre im Hals eines Toten liegt. Bewegt man eine Leiche, liegt es im Bereich des Möglichen, dass sich diese Gase lautstark ihren Weg nah draußen suchen.
Martin beobachtete den Toten genau.
Hatte er sich nicht gerade bewegt, war da nicht so ein beinahe unmerkliches Zucken der Finger zu sehen gewesen?
Martin atmete tief durch. Seine Angst hatte ihm einen Streich gespielt. Der Tote lag regungslos auf dem Boden vor ihm, wie es sich für einen anständigen Leichnam gehörte. Vorsichtig kroch er zurück zu dem reglos daliegenden Körper, jederzeit bereit, aufzuspringen und abzuhauen, sollte der Tote vielleicht doch auf die Idee kommen, nachzusehen, wer da seine Ruhe störte. Mit zitternden Fingern nahm Martin alles an sich, was ihm brauchbar erschien. Die Waffe, die Magazine und in einer Tasche des Toten fand er einen Schokoriegel. Heißhungrig riss Martin das Papier von diesem Riegel göttlichen Ambrosia. Ein lustvolles Stöhnen quetschte sich zwischen seinen kauenden Zähnen hindurch. Die Schokolade machte Martin auf das laute Grummeln in seinem Bauch aufmerksam. Gierig durchsuchte er die anderen Taschen des Toten und fand nichts mehr. Dann sah er zwei Schritte entfernt eine Dose Cola liegen. Auf allen Vieren robbte er auf den glänzenden Schatz zu. Ein Griff, ein Zischen und Martin erlebte eine ungeahnte Reanimation seiner Geschmacksnerven. Noch nie hatte etwas so gut geschmeckt, wie diese billige, warme Limonade. Die süße und klebrige Flüssigkeit rauschte durch seinen Hals und ein schmales Rinnsal lief an seinem Bart herunter. Martin setzte die Dose erst ab, als nichts mehr herauskam. Schwankend kniete er auf dem Boden. Das Grummeln in seinem Bauch wurde lauter und lauter. Martin riss die Augen auf. Seine Wangen blähten sich und ein lautstarkes Rülpsen donnerte über den Flur der Toten. Martin ließ sich vornüber auf seine Hände fallen. Nur für den Fall, das sein Magen die ungewohnte Ladung per Expresslift zurückschicken würde.
Lange Zeit hockte er einfach nur da. Seine Haare hingen ihm in fettigen Strähnen ins Gesicht. Dann begannen seine Schultern unkontrolliert zu zucken. Ein leises Kichern drang durch den Vorhang aus Haaren, wurde lauter und lauter. Ein hysterisches Lachen brach aus Martin heraus.
»ICH LEBE! HABT IHR GEHÖRT? ICH LEBE UND ICH WERDE WEITERLEBEN!«
Das Echo seines Schreis hallte über den Flur. Die Toten nahmen den Ausbruch gelassen zur Kenntnis.
Schön für dich, alter Junge.
Kapitel IV - Draußen
Martin stand in der Eingangshalle des Gebäudes und starrte aus der Glastüre in die Dämmerung hinaus. Es hatte angefangen zu regnen. In der Scheibe spiegelte sich das Chaos, das hinter ihm herrschte. Eine Reflektion seiner Gefühle.
Dieses Gebäude war kein Krankenhaus, wie Martin zuerst geglaubt hatte. Es war eine Schule, die man in Windeseile in ein Feldlazarett verwandelt hatte. Wo früher Kinder über die Flure gehastet waren, stapelten sich jetzt leere Munitionskisten. Tüten gefriergetrockneter Nahrungsmittel und Trinkwasserbehälter lagen verstreut zwischen Leichen. Vor dem Gebäude war das Kinderlachen befestigten Schützenstellungen gewichen. In den Klassenzimmern hatte man notdürftige OP-Säle und Laboratorien eingerichtet. Im ehemaligen Lehrerzimmer hatte Martin eine Art Kommandozentrale entdeckt. Dort hatte er ein dumpfes Brummen und Rattern gehört. Bei seinem vorsichtigen Blick aus dem Fenster hatte er einen militärischen Notstromgenerator entdeckt, der an einen großen Tank angeschlossen war. Eines von den Ungetümen, die mehrere Tage ein Haus wie dieses mit Energie versorgen konnten. So wie der Generator geklungen hatte, würde er aber nicht mehr lange durchhalten. Mit einem dumpfen Gefühl der Hoffnungslosigkeit war Martin aus dem Lehrerzimmer gegangen. Die Vitrine mit den Pokalen der Schulmannschaft lag zertrümmert am Boden der Eingangshalle. Zwischen den Scherben lagen selbst gemalte Bilder von Kindern neben Patronenhülsen und fallen gelassenen Ausrüstungsgegenständen. Hier eine Feldflasche, dort ein Feldbesteck.
Martin atmete zitternd tief durch und starrte in den Regen. Er versuchte das, was ihm das Chaos in seinem Rücken sagen wollte, irgendwie zu verstehen. Was war geschehen? Wie lange war er weg gewesen? Er legte seine Stirn gegen die Eingangstür. Seine Augen brannten. Entweder war die Menschheit tatsächlich untergegangen, oder es hatte eine Evakuierung gegeben.
Und ihn hatte man vergessen.
Aber warum war er hier?
Wer hatte ihn betäubt und warum?
Die Stimmen aus der Dunkelheit kamen Martin in Erinnerung. Langsam hob er seine Arme und besah sich die Einstiche an den Ellenbeugen.
Hatte man ihn als Versuchskaninchen missbraucht? Martin verdrängte mit einer bewussten Anstrengung diesen dunklen Gedanken, der ihn mit seiner zersetzenden Kraft lähmen wollte. Wenn das wirklich so gewesen wäre, dann würde er jetzt bestimmt nicht hier herumlaufen. Und vom Jammern würde er weder Antworten bekommen, noch würde sich sein knurrender Magen beruhigen.
Er musste zuerst an sich denken. Der Rest der Welt konnte ihm jetzt scheißegal sein. Nur sein knurrender Magen und seine eigene Haut waren ab jetzt wichtig. Mit einer trotzigen Geste wischte er sich über das Gesicht. Zuerst müsste er ...
In der Glasscheibe spiegelte sich eine Bewegung. Martin fuhr herum, riss die Waffe hoch und blickte in das blasse Gesicht eines Jungen. Die Sekunden dehnten sich wie zähflüssiges Glas, während Martin und der Junge sich einander taxierten und zu entscheiden versuchten, ob der jeweils andere eine Gefahr darstellte. Der Junge sah sauber und gesund aus. Seine Kleidung hätte eine Wäsche vertragen können, doch unter den gegebenen Umständen erschien Martin die Erscheinung von beruhigender Normalität. Er ließ die Waffe sinken.
»Hi.«
Keine Reaktion. Der Junge starrte ihn an. In seinem Blick lag keine Angst, eher Misstrauen. Martin schätzte sein Alter auf zehn Jahre. Langsam streckte er dem Jungen eine Hand entgegen.
»Ich dachte, hier würde keiner mehr leben. Ich heiße Martin. Und du?«
Der Junge wich einen Schritt zurück. Ein Lichtreflex tanzte auf seinem blonden Haar.
»Ich tue dir nichts. Du brauchst keine Angst vor mir zu haben.«
Der Junge runzelte die Stirn, als würde er angestrengt auf etwas lauschen, das Martin nicht hören konnte. Für einen Augenblick glaubte er zu sehen, dass sich die Augen des Jungen verdunkelten. Kälte ging von dem Kind aus. Martin taumelte und griff sich an den Kopf. Er verzog das Gesicht und stöhnte leise auf. Blut tröpfelte aus seiner Nase. Dann verflog der Augenblick. Martin blies den angestauten Atem durch seine gespitzten Lippen und hob den Blick.
Der Junge war weg.
»Na Klasse«, murmelte er in die Stille.
»Der erste Mensch, der mir in diesem Irrenhaus begegnet, ist Copperfield Junior.«
Er schaute sich um. Wohin war der Kleine verschwunden? Ein leises Knarren gab ihm die Antwort. Direkt unter der nach oben führenden Treppe