Chronik von Eden. D.J. Franzen
sollen Leichenfleddern?«
Martin grinste.
»Nein. Wir gehen Einkaufen.«
*
Eine Stunde später suchten Martin und die Kinder in der Autoschlange immer noch nach dem dringend benötigten Proviant und warmer Kleidung. Entweder hatte die Panik die Flüchtigen derartig überrascht, dass niemand etwas Brauchbares mitgenommen hatte, oder sie waren zu spät gekommen. Aber andererseits ... wer sollte ihnen zuvorgekommen sein?
Martin warf eine Autotür zu und hieb der Faust auf das Dach des Wagens, den er gerade durchsucht hatte. So kamen sie nicht weiter. Er blickte in den dämmerigen Himmel und schätzte, dass es bald richtig dunkel werden würde. Dann müssten sie irgendwo Unterschlupf finden, bevor die Knirscher, wer oder was auch immer diese Wesen waren, wieder auf der Bildfläche erschienen. Suchend blickte er sich um.
Die Autobahn wirkte auf ihn, wie die Arterie eines starken Rauchers. Die Fahrspuren beider Richtungen waren vollkommen verstopft. Offenbar war die Situation derart schlimm gewesen, dass die Polizei beide Fahrtrichtungen zur Flucht freigegeben hatte. Nur weg aus Köln. Das war der einzige Gedanke der Flüchtlinge gewesen.
Zum Glück hatten sie bisher keine Leichen gefunden, wofür Martin sehr dankbar war.
Er bemerkte, wie Karl und Kurt auf ihn zukamen und biss sich auf das Wangenfutter, um ein Auflachen zu verhindern. Die Jungen hatten zwei lange Mäntel gefunden, in denen sie wie zwei kleinwüchsige Mönche auf Pilgerreise daherstapften. Beide hatten sich Abschleppseile als Gürtel um die Hüften geknotet, damit sie die Mäntel etwas höher raffen konnten und beim Gehen nicht ständig stolperten. Er nickte ihnen aufmunternd zu. Hauptsache die beiden waren warm angezogen.
Er beugte sich zu dem kleinen Bündel herunter, dass sie schweigsam vor ihm auf den Boden legten, und sein Lächeln verschwand. Ihre Ausbeute an Kleidung und Proviant war erschreckend mager. Zwei Flaschen abgestandenes Mineralwasser, eine Handvoll Schokoriegel und eine Taschenlampe. Mit einer resignierten Geste rieb Martin sich über das Gesicht. So kamen sie nicht weiter. Schritte näherten sich und er schaute auf. Melanie kam zwischen den Autos auf sie zu. Ihr Gesicht war gerötet und sie winkte heftig.
»Tom, Gabi und Mel haben einen Bauernhof gesehen«, sagte Kurt. Melanie erreichte die drei. Sie nahm Martin bei der Hand und schloss die Augen.
»Bitte nicht«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Kurt hat es mir schon gesagt. Ja, vielleicht sind wir da vorerst in Sicherheit und können in Ruhe weitersehen.«
Martin bemerkte einen Anflug von Enttäuschung in Melanies Gesicht. Also konnte sie seine Gedanken auch lesen, wenn er sich nicht bewusst darauf konzentrierte, ihr etwas mitzuteilen? Interessant. Er hob in einer entschuldigenden Geste die Schultern an.
»Sorry, aber ich muss mich erst mit dem Gedanken an eure Fähigkeiten anfreunden.«
Martin bemerkte aus dem Augenwinkel, dass Karl die Augen geschlossen hielt. Er war stumm, aber nicht taub. Fungierte er Melanie als Simultandolmetscher für Sprache in Gedanken? Er wusste nichts über Telepathie und jetzt war der denkbar ungünstigste Zeitpunkt, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Trotzdem, in Zukunft würde er etwas vorsichtiger mit seinen Gedanken sein. Man konnte ja nie wissen. Melanie blinzelte ihm verschwörerisch zu und Martin folgte ihr, als plötzlich Gabis Schrei über die verlassene Autobahn gellte und Karl unartikulierte Laute ausstieß.
»Ischer«, rief er. Sein Finger deutete in die ungefähre Richtung, aus der Gabis Schrei erklungen war. »Ie Ischer gommen!«
Martin rannte los. Er wusste auch, ohne Gedanken lesen zu können, was der Junge meinte. Er hörte bereits das leise Rascheln, Knistern und Knirschen in seinem Kopf.
*
Sandra saß in der Küche des Bauernhofs. Ihre Finger zerlegten mit schlafwandlerischer Sicherheit ihre Sig-Sauer P225. Ihr Blick fiel auf die Reservemagazine. Zum Glück waren sie ebenfalls für dieses Modell ausgelegt, das im Gegensatz zu ihrem modifizierten Schwesterstück, der P226, nur über einen einreihigen Ladestreifen verfügte. Sie hätte gerne die P226 gehabt. Fünfzehn, statt acht Schuss pro Magazin konnten in brenzligen Situationen einen gewaltigen Unterschied ausmachen. Aber dafür lag ihr die Waffe hier besser in der Hand. Sie hatte einen schmaleren Griff und war leichter. Reinigen, ölen ... die notwendigen Handgriffe hatten für Sandra etwas von einer Zen-Übung an sich. Ihr Körper arbeitete, während ihr Geist abtauchte. Frank. Was war aus ihm geworden? Eine dumme Frage. Köln war abgebrannt. Frank würde nicht mehr sein, als ein Häufchen Asche, das im Wind in alle Himmelsrichtungen trieb. Blieben die Kinder. Sie sah vor ihrem geistigen Auge erneut den Zombie in der Kirche, hörte den Schrei von Jonas, und erlebte immer und immer wieder, wie der Kopf der Kreatur zerbarst.
Das war ich, hatte Jonas gesagt.
Sie hatte aber keine Waffe bei den Kindern finden können. Wie kam Jonas dann darauf, dass er den Zombie so effektvoll erledigt haben könnte?
Schwere Schritte holten sie ins Hier und Jetzt zurück. Pfarrer Stark betrat die Küche. Ächzend und schnaufend zog er seine schwere Schutzweste aus. Er trug darunter doch tatsächlich seine dunkle Dienstkleidung, wie Sandra mit einem kurzen Blick und einem feinem Lächeln feststellte. Mit einem Schlag wurde ihr die Unwirklichkeit der Situation bewusst. Vor weniger als vierundzwanzig Stunden hatte sie noch in der verlassenen Notstation in Köln-Deutz gesessen. Dann war Frank gekommen, sie hatten den Notruf der Kinder aufgefangen, waren vor den Zombies davongelaufen, hatten Pfarrer Stark gefunden, waren wieder vor den Untoten geflüchtet, und jetzt lag Köln hinter ihnen in Schutt und Asche. Desinfiziert ... Sie stöhnte kurz auf. Und jetzt saß sie hier. Mit den Kindern und dem Pfarrer, und sie reinigte eine Schusswaffe, weil es die einzige Hoffnung auf ein Überleben in dieser neuen Welt war. Und nichts lief mehr so, wie sie es mal geplant hatte. Ihr Leben und diese neue Welt glichen einer kaputten Spieluhr, die nur noch sporadisch, und äußerst sinnlos, einen Ton von sich gab. Eine Spieluhr mit einer ganzen Reihe grausiger Ballerinenfiguren, deren abgehacktes Zucken den Tod und Schlimmeres bedeutete. Sandra atmete tief durch, verdrängte die aufkommende Depression und den Schock. Zwei natürliche Reaktionen auf das Erlebte, die sie aber lähmten, würde sie ihnen nachgeben. Und Stillstand bedeutete in dieser Welt den Tod. Darin glich sie der alten Welt.
»Die Kinder?«, fragte sie und hoffte, dass ihre Stimme fester klang als sie sich in ihrem Hals anfühlte.
»Schlafen. Ich habe sie im oberen Schlafzimmer untergebracht.« Stark ließ sich kraftlos auf den Stuhl plumpsen. »Sie haben etwas gegessen und getrunken. Gönnen wir ihnen ein wenig Ruhe.«
Sandra nickte nur, während ihre Finger wie selbstständige Fortsätze ihres Körpers die Waffe zusammenbauten. Ihr Blick glitt immer wieder prüfend aus dem Fenster. Stark beobachtete sie schweigend. Als sie mit ihrer Waffe fertig war, nahm sie sich die Patronen und die Reservemagazine vor. Nach und nach füllte sie die Streifen auf. Als auch das erledigt war, lehnte sie sich zurück und sah aus dem Fenster.
»Möchtest du reden?«, fragte Stark.
»Ich wüsste nicht worüber.«
»Über das, was dich bedrückt?«
»Es gibt nichts, was mich im Moment bedrückt, Herr Pfarrer.«
Stark seufzte.
»Könnten wir das mit dem Pfarrer weglassen? Patrick reicht auch, finde ich.«
Sandra sah ihn mit einem undefinierbaren Blick an.
»Auf einmal so zutraulich, Herr Pfarrer? Wir werden doch angesichts der gegebenen Umstände nicht plötzlich wankelmütig, oder?«
Patricks Nasenflügel bebten kurz. Ob vor unterdrückter Wut oder Heiterkeit, hätte Sandra nicht zu sagen vermocht.
»Wie meinst du das?«
»So wie ich es sagte. Ich weiß, dass Sie wissen, dass ich etwas über Sie weiß, dass Ihnen in Ihrer Vergangenheit heftig zu schaffen gemacht hat. Deswegen frage ich Sie ja, ob sie nicht plötzlich wankelmütig werden, im Angesichts des jüngsten Gerichts.«
Sie grinste