Chronik von Eden. D.J. Franzen

Chronik von Eden - D.J. Franzen


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als du Tom vorgeschickt hast, da ist es dir doch durch den Kopf gegangen, uns alleine zu lassen. Stimmts?«

      Martin schluckte und nickte.

      »Ja.«

      »Und? Warum hast du es dann nicht getan? Warum bist weitergegangen und hast mich auch noch nach oben gebracht?«

      Ja, genau. Warum eigentlich? Wegen Tom? Wegen Karin? Warum hatte er die Kinder nicht ihrem Schicksal überlassen? Martin hob in einer verzweifelten Geste die Hände und schüttelte den Kopf.

      »Ich weiß es nicht, Ritchie. Es ... es erschien mir einfach nicht richtig.«

      Ritchie nickte.

      »Ich weiß es jetzt. Du bist einer von uns.«

      »Einer von euch? Du meinst, einer der Spider-X-Gang?«

      »Nein. Du bist einer von uns. Du weißt es nur noch nicht. Aber das werden dir die anderen erklären müssen. Ich muss jetzt gehen. Meine Mutter wartet.«

      Martin sah hinter Ritchie eine weitere Gestalt aus dem Licht kommen. Eine Frau. Nicht besonders groß, mit langen blonden Haaren. Sie lächelte Martin zu.

      »Danke Martin.«

      »Wofür?«

      Sie legte Ritchie einen Arm um die Schultern und sah ihren Sohn mit einem strahlenden Lächeln an. Dieses Bild tat Martin im Herzen weh. Es erinnerte ihn an seine Mom.

      »Wofür danken Sie mir? Ihr Sohn stirbt, und ich kann nichts für ihn tun. Ich habe versagt. Schon wieder. Erst Karin, jetzt Ritchie ... wer ist als nächstes dran? Wäre ich nur etwas schneller gewesen, hätte ich nur ein wenig mehr Zeit oder Kraft aufgebracht ... wir hätten vor der Druckwelle ausweichen können. Der Bus wäre nicht umgekippt und Ritchie würde jetzt noch leben!«

      Martin versagte die Stimme. Es gab noch so vieles zu sagen, aber keine Worte, die auch nur annähernd seine Gefühle beschreiben könnten. Seine Knie gaben nach. Tränen schossen ihm in die Augen. Weinend hockte er im Gras und vergrub sein Gesicht in den Händen. Eine Hand streichelte seinen Kopf. Mit verschleiertem Blick schaute er auf und sah in Ritchies Gesicht.

      »Es tut mir leid, Ritchie. Es tut mir so unendlich leid, hörst du?«

      Ritchie strich ihm mit einem Finger eine Träne von der Wange.

      »Machs gut, alter Klugscheißer.«

      Das Gleißen des Lichts wurde stärker. Martin riss geblendet beide Arme vor das Gesicht. Die Gestalten von Ritchie und seiner Mutter verschwammen. Martin rappelte sich auf.

      »Ritchie?«

      Das Summen der Insekten wurde lauter.

      »Ritchie?«

      Martin spürte einen Zug, der ihm vom starken Licht wegzog. Aber er konnte doch nicht weg! Er konnte doch nicht ohne Ritchie von hier weg gehen! Der Sog wurde zu einem Zerren, das Summen zu einem drohenden Röhren. Das Licht wurde so grell, das es ihn sogar durch seine geschlossenen Augen blendete. Er verkrümmte sich, versuchte gegen diese unbekannte Macht anzukämpfen, die ihn unaufhaltsam wegzerrte und ...

      *

      ... kniete im Buswrack.

      Keuchend fiel Martin nach vorne auf die Hände. Seine Muskeln zitterten und sein Gesicht war tränennass. Die Wirklichkeit stürmte mit widersprüchlichen Eindrücken auf ihn ein. Der Boden, der mit den falschen Diamanten der Glassplitter bedeckt war, das Rumpeln in seinem Bauch, das von Hunger und Übelkeit zugleich kündete, der Gestank von verbrannter Erde und Unrat und der leblose Körper Ritchies, den er eben noch auf einer Wiese gesehen hatte.

      Ritchie?

      Martin blickte sich um und robbte auf Händen Knien zu dem Jungen. Seine Hände suchten hilflos nach einem Punkt, an dem sie den leblosen Körper gefahrlos berühren konnten.

      »Ritchie? Wach auf Ritchie, ich bin es. Martin, der alte Klugscheißer.«

      »Martin?«

      Toms Stimme?

      »Ritchie? Komm, lass den Unfug. Wir haben’s geschafft. Die haben uns nicht grillen können, mit ihrer Scheißbombe. Wir sind draußen, hörst du?«

      »Martin?«

      Martin fuhr herum.

      »WAS?«

      Tom schrak zurück.

      »Ritchie ist tot.«

      Toms Worte sickerten nur langsam in Martins Bewusstsein. Fassungslos drehte er den Kopf und sah hinab. Ritchies Kopf war leblos zur Seite gerollt. Seine Augen glänzten stumpf. Seine Brust hob und senkte sich nicht mehr im Takt seines Atems. Auf seinen Lippen lag ein friedliches Lächeln, das auch seine Behinderung nicht mehr zu verzerren vermochte. Martin schluckte.

      Tom hatte Recht.

      Ritchie war tot.

      Heiße Tränen rannen Martin über das Gesicht, als er sich vorbeugte und Ritchie mit einem sanften Streicheln über das Gesicht die Augen schloss. Er holte tief Luft und wischte sich die Tränen aus den Augen. Karins Stimme erklang in seinem Kopf.

      Zeit, sich der Realität zu stellen, Sunnyboy. Such einen vernünftigen Platz, wo der Kleine in Frieden ruhen kann, und dann weg hier.

      Martin nickte sich selber zu. Karin hatte Recht. Selbst im Tod behielt sie immer noch Recht. Er schaute auf und sah den Kindern in die blassen Gesichter.

      »Kommt. Wir suchen einen Platz, wo Ritchie seine Ruhe finden kann.«

      Kapitel VII - Die Schlacht am OK-Corral

      Martin stand vor dem Bus. Er hatte so heimlich wie möglich seinen letzten Nasenzucker gesnifft. Jetzt ging es ihm wieder etwas besser. Nur keinen Stress machen, sonst hielt die Wirkung nicht lange vor. Er atmete tief durch, um seine Gefühle unter Kontrolle zu halten. In seinen Armen trug er den leblosen Körper Ritchies. Er fühlte sich nicht schwerer an als ein kleiner Sack mit altem Herbstlaub. Martin sah in die Ferne ohne richtig zu sehen. In seinem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Unmöglich, einen davon zu fassen zu bekommen. Aus dem Augenwinkel bemerkte er eine Bewegung. Tom stellte sich neben ihn.

      »Ich glaube, wir haben einen Platz für Ritchie gefunden. Und was dich betrifft ...«

      Tom griff in seine Hosentasche. Er holte ein Glasfläschchen mit weißem Pulver hervor.

      »Das hier haben sie dir immer gegeben. Ich weiß nicht was es ist, aber vielleicht hilft es dir ja.«

      Martin spürte wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Er nickte stumm, ging in die Hocke und legte Ritchies Leiche auf seine Knie. Dann nahm er das Fläschchen von Tom, schraubte es auf und kostete eine Zungenspitze voll.

      »Ja. Das wird mir eine Weile helfen. Danke dir.«

      Kein Wort darüber, was das für ein Zeug war, keine Bemerkung über seine Sucht ... Martin schämte sich in diesem Moment wie noch nie zuvor in seinem Leben. Er fragte auch nicht, woher der Junge um seine Sucht wusste. Ein Gespräch darüber wäre Martin noch peinlicher geworden. Tom nickte ihm zu. Dann gingen sie auf das Stauende zu, wo die anderen Kinder bereits standen. Sie schauten mit den feierlichen Mienen von Menschen die einen heiligen Ort betrachten, nach oben. In ihren Augen schimmerten Tränen. Gabi schluchzte leise. Tom deute hoch, auf eine Stelle hinter Martin.

      »Dort«, sagte er. »Dort ist der richtige Ort, an dem Ritchie in Frieden ruhen kann. Dort wird sich auch sein größter Wunsch erfüllen.«

      Martin sah hoch und entdeckte einen Polizeiwagen auf einer Brücke, der nahe am Geländer stand. Wortlos stieg er über die Leitplanke auf die Gegenfahrbahn und machte sich auf den Weg zur Brückenauffahrt.

      *

      Kurze Zeit später saß Ritchies Leiche am Steuer des Wagens. Martin kuppelte die Gangschaltung aus und startete den Wagen. Dann schaltete er die Einsatzbeleuchtung ein. Die roten und blauen Lichter flackerten im Zwielicht. Ein weithin sichtbares Zeichen,


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