Chronik von Eden. D.J. Franzen

Chronik von Eden - D.J. Franzen


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lehnte sich zurück. In seinen Augen sah Sandra einen so tiefen Schmerz, dass sie ihre Worte umgehend bereute.

      »Du rührst in alten Wunden ohne zu ahnen, wie sehr sie selbst nach all den Jahren noch schmerzen.«

      Sandra sah verlegen aus dem Küchenfenster in die Dämmerung hinaus.

      »Es tut mir leid.«

      »Nein. Schon gut. Du hast im Grunde ja recht. Ich bin damals vom Weg abgewichen. Aber statt mir, hat der Herr dem ... Lohn dieser Sünde die Strafe auferlegt.«

      Sandra sah Stark in die Augen, lehnte sich über den Tisch und nahm seine Hände in ihre.

      »Es tut mir ehrlich leid. Ich wollte Ihnen nicht wehtun. Wie alt wäre er heute?«

      »Die Sünderin, die dem Beichtvater vergibt?«

      »Nein. Eine Freundin, die in der Stunde der Not für einen Freund da ist, den sie lange Jahre nicht gesehen hat, obwohl er die ganze Zeit da war.«

      Tränen schimmerten plötzlich in Patricks Augen.

      »Dreizehn. Ritchie wäre dieses Jahr dreizehn geworden. Ich hoffe nur, dass der Herr gnädig zu ihm war.«

      »Sie sagten, der Herr hätte Ihre Strafe ihm auferlegt? Ich wusste nur, dass sie da ein pikantes Geheimnis haben. Welche Strafe meinen Sie?«

      Stark schluckte. Langsam zog er seine Hände unter denen von Sandra hervor.

      »Progressive Muskelschwäche. Seine Mutter hat ihn gut unterbringen können, bevor sie sich nach Afrika ins Exil begab.«

      »Und wer kam für die Kosten auf?«

      »Eine Stiftung. Teils privat, teils aus der freien Wirtschaft, aber auch der Klerus hat dort einige Einlagen geleistet.«

      »RITCHIE IST TOT!«, fuhr plötzlich Rosis Stimme dazwischen. Sandra und Stark sprangen auf. Das kleine Mädchen stand in der Tür zur Küche. Ihre Augen waren zwei große Scheinwerfer des Entsetzens in ihrem bleichen Gesicht.

      »Ritchie ist tot, und die anderen kommen, und sie werden von den Knirschern verfolgt, und wir müssen helfen!«

      »Was erzählst du da?«

      Sandra hielt das Mädchen an den Schultern und musste sich beherrschen, es nicht nach allen Regeln der Kunst durchzuschütteln.

      »Was erzählst du da für einen Mist?«

      Statt einer Antwort deutete Rosi auf das Küchenfenster. Sandra unterdrückte ihre Wut. Oh, wie ähnlich sie in diesem Moment ihrem verhassten Vater war! Mühsam atmete sie tief durch, folgte mit ihrem Blick dem Fingerzeig des Kindes und erstarrte.

      Über die Felder sah sie in der Dämmerung die undeutlichen Schemen von mehreren Personen. Sie liefen, sofern man das auf dem aufgeweichtem Acker überhaupt laufen nennen konnte. Sie sah eine große, und mehrere kleine Silhouetten, konnte aber keine Einzelheiten erkennen. Eigentlich waren sie zu schnell und zu koordiniert in ihren Bewegungen für Zombies, obwohl ... Dann sah sie dahinter eine ganze Reihe weiterer Schatten.

      Und diese liefen nicht.

      Sie gingen.

      Schleppend.

      Unaufhaltsam.

      »Das sind Martin und die letzten der Spider-X Gang«, sagte Rosi mit weinerlicher Stimme.

      »Und die Knirscher sind hinter ihnen her. Die Knirscher, verstehst du? Sie werden kommen und uns holen!«

      *

      Martin kämpfte sich durch den schlammigen Acker. Links zog er Gabi, rechts Tom, so gut es ging mit sich.

      »Bleibt zusammen«, rief er. »Haltet euch an den Händen und bleibt zusammen!«

      Der aufgeweichte Boden schien Finger zu haben. Gierige Finger, die ihm bei jedem Schritt entweder die Schuhe ausziehen, oder noch besser ihn direkt festhalten wollten, damit diese Dinger ihn und die Kinder auch bekommen würden. Der Bauernhof kam einfach nicht näher. Die Knirscher, wie die Kinder sie nannten, dafür schon. Und das, obwohl diese Kreaturen nicht liefen. Das waren also die Knirscher? Handelsübliche Zombies, wie sie seit Romeros Kultklassiker in jedem dritten B-Movie vorgekommen waren? Martin versuchte, seine Angst unter Kontrolle zu halten, die wie ein wildes Tier an den Gitterstäben seiner Vernunft rüttelte. Das war kein Film, das war kein billiges Buch, das hier war brutale Wirklichkeit, wie verrückt sie auch sein mochte. Auf dem Bauernhof vor sich sah er Bewegung. Jemand lief auf einen kleinen Zaun zu, der ein Stück schlammige Wiese vom eigentlichen Feld abtrennte. Das konnte nur ein lebender Mensch sein.

      »HILFE!«, rief er atemlos. »Wir brauchen Hilfe!«

      Plötzlich surrte etwas heißes an seinem Ohr vorbei. Martin wandte den Kopf und sah hinter sich einen Zombie zusammensacken. Als er sich wieder ihrem Weg zuwandte, sah er einen der Zombies, der von der Seite auf ihn und die Kinder zuhielt. Er war bereits so nah, dass der unbekannte Schütze ihn nicht aus dem Weg räumen konnte, ohne ihn oder die Kinder zu gefährden.

      »Karl! Komm weiter hier rüber!«, rief Martin. Karl sah sich erschrocken um, bemerkte den Zombie und strauchelte. Eine Welle der Angst um den Jungen schlug über Martin zusammen. Er schrie, lies Toms Hand los, hob sie in einer verzweifelten Geste der Kreatur entgegen, die nur noch wenige Schritte von Karl entfernt war ... und dann geschah etwas, das Martin vollkommen aus der Bahn warf.

      Die Zeit wurde zu etwas Greifbarem, das sich zäh um seine Hand wickelte. Er hörte wieder dieses Knirschen und Knistern, das er schon im Keller der Schule vernommen hatte, spürte etwas durch seinen Geist greifen, das sich zu einem Speer aus purem Willen formte und dem Zombie entgegen flog, der plötzlich mehrere Meter wie in Zeitlupe rückwärts durch die Luft segelte. Martin hörte die brechenden Knochen über das Knirschen und Knistern hinweg. Karl rappelte sich auf und lief unendlich langsam weiter auf den Bauernhof zu. Martin stand wie zur Salzsäule erstarrt auf dem Acker. Tom hatte Gabi an die Hand genommen und war weitergelaufen.

      »MARTIN!«

      Der Ruf des Jungen. In seinem Kopf oder real? Wie ein Schlafwandler drehte Martin sich wieder den Zombies zu, hörte das leise Knallen von Pistolenschüssen, nicht lauter als Mais der in einem abgedeckten Topf zu Popcorn geröstet wurde, sah weitere Zombies in Zeitlupe zusammenbrechen, bemerkte einen Hünen in einer merkwürdig langen Schutzweste, der etwas über seinem Kopf schwang und auf die Kreaturen losstürmte. Wieder griff etwas nach seinem Geist, formte Willen zu Energie ... und der Kopf eines Zombies, der vielleicht noch zehn Schritte von ihm entfernt war, verschwand in einer rosa Wolke. Ein anderer wurde von dem merkwürdigen Ding in der Hand des Hünen getroffen, und der Kopf des Zombies hüpfte wie ein grausiger Kinderball über den Acker. Das alles geschah mit einer derartigen Langsamkeit, dass Martin sogar Details erkennen konnte. So sah er einen der letzten vier Zombies, wie er sich mit quälender Langsamkeit im Rücken des Hünen auf seinen tödlichen Biss vorbereitete. Die Hände der Kreatur waren im Begriff, den nur von normaler Kleidung geschützten Arm des Mannes zu packen. Martin sah, das dieser Zombie in seinem früheren Leben sehr schlechte Zähne gehabt haben musste, dass er Gummistiefel trug (ein Bauer?), dass ihm ein Stück Nacken fehlte ... Martin konzentrierte sich auf dieses Bild. Er wollte den Fremden warnen, vielleicht den Kopf des Zombies zurückreißen, um ihn am Biss zu hindern, aber er war zu weit weg. Eine tiefe, kreatürliche Angst schoss gepaart mit hilfloser Wut in Martin hoch. Der Kopf des Zombies blähte sich plötzlich auf, seine Gesichtshaut begann zu kochen und bevor er zubeißen konnte, regneten Knochensplitter, Hirnmasse, Haarbüschel und Flocken geronnenen Blutes über die Weste des Hünen. Aus dem Augenwinkel sah Martin mit unbestechlicher Klarheit, wie die Kinder die Sicherheit des Bauernhofes erreichten, und wie der letzte der Zombies von einer Kugel des Schützen getroffen wurde und zusammenbrach. Dann fiel die Zeit mit ihrer gewohnten Macht über ihn herein, spülte über ihn hinweg wie ein unerwarteter Wasserfall. Torkelnd griff Martin sich an den Kopf, der plötzlich vom Summen unzähliger Stimmen erfüllt war. Eine war dabei besonders laut und kräftig, so als würde jemand direkt neben ihm stehen.

      Bei Gott, sagte diese Stimme. Das ist beinahe wie die Schlacht am OK-Corral gewesen. Nur dass dort niemand wie


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