Chronik von Eden. D.J. Franzen
war sehr gut, Martin. Das würde Ritchie sehr gefallen haben.«
Martin schwieg. Kurt trat an die Fahrertür und legte Ritchies Leiche eine Hand auf die Schulter.
»Machs gut, Ritchie Stark.«
Dann schlug er die Tür zu.
Es klang für Martin wie das Verschließen einer Gruft. Ein Gefühl der Leere breitete sich in ihm aus, nahm ihm die Luft zum Atmen und ließ Tränen in seinen Augen schimmern.
Erst Karin.
Jetzt Ritchie.
War er Schuld an dem Tod der beiden? Hatte er versagt? Martin atmete tief durch und wandte sich an die andere Seite des Überwegs. Er stützte sich mit den Händen auf das Geländer und versuchte das Chaos in seinem Kopf zu entwirren. Fragen schossen ihm durch den Kopf. Rational, kühl und dadurch in dieser Situation auch tröstend, denn sie zwangen ihn zum Handeln. Er musste ihr weiteres Vorgehen planen. Sie konnten hier oben nicht bleiben. Der Ort war zu ungeschützt. Vielleicht lebten die Soldaten dieser Einheit Sieben noch. Falls ja, blieb die Frage ob sie hier auf ihrem Rückzug vorbeikämen. Vielleicht würden sie das Einsatzlicht des Polizeiwagens bemerken. Sie mussten also einen Platz finden, an dem sie geschützt waren und der nicht zu weit weg lag. Martin nickte sich selber zu. Das wäre Punkt eins seines Plans.
Blieb noch die zweite Frage.
Die Kinder.
Irgendetwas stimmte nicht mit ihnen. Sie reagierten trotz ihrer körperlichen Einschränkungen und ihrer Jugend zu gut, ja fast schon erwachsener als er, auf ihre Situation. Dann waren da die Augenblicke, in denen er den Verdacht hatte, die Kinder würden hinter seinem Rücken tuscheln. Und zuletzt sein Erlebnis, als Ritchie in seinen Armen gestorben war. Was zur Hölle war da passiert? Ein Flashback durch die Mittel, die ihm seine Kidnapper injiziert hatten? Was verheimlichten ihm die Kinder? Martin hatte zwar einen Verdacht, aber der war so ungeheuerlich ... das er einen Versuch wert war.
Er schloss die Augen, kämpfte gegen das Gefühl des Verlustes und der Trauer und konzentrierte sich auf einen ganz bestimmten Gedanken. Es war die Frage, die ihn am meisten beschäftigte. Immer und immer wieder ließ er sie in seinem Kopf aufblitzen. Alles andere um ihn herum wurde unwichtig. Der Wind, der mit seiner scharfen Zunge an seinem Gesicht leckte. Der Geruch nach Verbranntem, der schwer in der Luft lag und jeden Atemzug zu einem Kampf gegen den Hustenreiz machte. Das Gefühl des Hungers in seinem Magen ... alles verschwamm in seiner Wahrnehmung.
Ein leises Aufstöhnen hinter ihm.
Er verstärkte seine Konzentration.
Stimmengemurmel.
Kam es aus seinem Kopf?
Egal. Weitermachen. Immer und immer und immer wieder die gleiche Frage. Nichts anderes zählte jetzt.
Das klägliche Wimmern einer ungeschulten Stimme, die niemals in normal verständlichen Lauten erklingen würde. Eindeutig nicht aus seinem Kopf. Dann Kurts Stimme.
Martin! Bitte hör auf!
Er öffnete die Augen und kehrte ins Hier und Jetzt zurück. Er drehte sich nicht um. Sollten sie kommen. Sie hatten ihn hinters Licht geführt. Zumindest hatten sie ihm nicht die Wahrheit über sich gesagt. Kleine, verlogene ...
»Du hast uns nicht gefragt.«, sagte Kurt. Seine Stimme klang trotzig. »Und Zeit für lange Erklärungen hatten wir auch keine.«
Martin drehte sich langsam um. Konnte es also tatsächlich wahr sein? Der Junge stand mit verschränkten Armen und trotzig vorgestrecktem Kinn vor ihm.
»Du hättest uns sowieso nicht geglaubt. Obwohl du einer von uns bist.«
»Ich? Einer von euch?«
Tom stellte sich neben Kurt.
»Ja, Martin. Du bist ebenfalls begabt. Du weißt es nur nicht. Und weil du begabt bist, glaubst du, dass du das weiße Zeug in deiner Hosentasche so dringend brauchst, um die Stimmen in deinem Kopf zu dämpfen.«
Martin zog die Stirn kraus. Gabi und Melanie stellten sich neben die beiden. Karl blieb im Hintergrund. Martin bemerkte, dass er sich die Hand vor die Nase hielt. Sie blutete. Die Gesichter der Kinder verrieten eine gewisse Kampfbereitschaft. Gabis Gesicht glühte und ihre Augen funkelten vergnügt.
»Ich hab es schon gewusst, als du noch im Zimmer gelegen hast«, sagte sie. Ein leichtes Lächeln umspielte dabei ihre Mundwinkel. Martin schüttelte den Kopf.
»Ihr wollt mir allen Ernstes sagen, ihr könnt Gedanken lesen?«
»Am einfachsten ist es, wenn wir mit einem Menschen Körperkontakt haben«, sagte Tom. »Mit einem Unbegabten geht es meistens nicht anders. Mit anderen Begabten, so wie dir, können wir auch ohne Körperkontakt kommunizieren.«
Martin schnaufte ein verächtliches Lachen.
»Und was habt ihr sonst noch so drauf? Löffel verbiegen, Gegenstände schweben lassen und all so‘n Zeugs?«
Tom blickte weg.
»So in etwa. Wenn wir ...« Er stockte und blickte zu dem Polizeiwagen. Dann holte er tief Luft und fuhr fort. »Wenn wir vollzählig sind, und Gabi als unser Fokus dient, dann können wir etwas mehr. Manchmal auch alleine. Aber es erschöpft uns sehr.«
Martin wandte sich ab. Freaks.
Er hatte eine Gruppe minderjähriger Freaks an der Backe. Karin würde sich ausschütten vor Lachen, könnte sie ihn sehen. Ausgerechnet er, Martin Martinsen, ehemaliger Starreporter der XXX-NEWS, der die unglaublichsten Geschichten über Ufos, Wiedergänger und Seelenwanderung geschrieben hatte, erlebte gerade eine seiner eigenen Storys. Er ballte die Faust und klopfte mit den Knöcheln auf das Metall des Geländers.
Sollte er den Unfug wirklich glauben? Telepathie und Telekinese waren wissenschaftlich nachgewiesen. Alles im Bereich des Möglichen und vorstellbar. Aber so eine Erfahrung selber mitzumachen, war eben etwas anderes, als sich in einem warmen Büro eine entsprechende Story aus den Fingern zu saugen, damit die Auflage eines futuristischen Käseblatts in die Höhe schoss. Wie sollte er damit umgehen? Woher wollten die Kinder wissen, dass er seit seiner Pubertät Stimmen in seinem Kopf hörte? Dass er sie lange Jahre hatte ignorieren können, bevor sie immer stärker geworden waren, und er sie zuerst noch mit Medikamenten und am Ende schließlich nur noch mit kleinen Dosen Heroin zu dämpfen vermochte?
Eine Windböe zerrte an seiner Jacke und holte ihn zurück aus seinen Gedanken. Martin holte tief Luft und blies sie mit aufgeblasenen Wangen wieder heraus. Sie hatten schlimmere Probleme als irgendwelche dubiosen, pseudowissenschaftlichen Fragen. Es war empfindlich kalt und die Kids hatten unpassend dünne Kleidung an. Sie hatten kein Essen, nichts zu trinken und keine Ahnung, wohin sie sich wenden sollten.
Martin seufzte. Das waren die Probleme, die es zuerst anzupacken galt. Alles andere, der Schmerz um Karins Verlust, der allmählich in ihm hochkam, und die angeblichen Fähigkeiten der Kinder, musste sich neue Wartenummern ziehen. Er wollte Antworten. Aber jetzt war nicht der passende Zeitpunkt dafür. Er drehte sich wieder zu den Kindern um.
»Okay. Lassen wir diese ... Sache ... jetzt mal außen vor. Darüber reden wir später. Wir haben eine ganze Reihe anderer Probleme am Arsch.«
Gabi kicherte bei dem letzten Wort und Martin hielt irritiert inne. Dann wurde ihm bewusst, was er gesagt hatte und er beschloss, in Zukunft besser auf seine Worte zu achten. Ein entschuldigendes Lächeln huschte über sein Gesicht, als er fortfuhr.
»Ihr habt nichts Vernünftiges am Leib. Es wird immer kälter werden. Also brauchen wir andere Kleidung für euch. Wir benötigen außerdem Proviant und sollten uns entscheiden, wohin wir uns wenden.«
Tom machte ein nachdenkliches Gesicht.
»Und wo sollen wir das alles herbekommen?«
Martin ging auf die andere Seite des Überwegs, dorthin, wo die leblose Blechschlange des Staus in Richtung Autobahn unter ihnen lag. Er deutete mit einer Hand herunter.
»Da unten. Ich bin mir sicher, dass