Karnische Hochzeit. Reinhard M. Czar
„Könnte ich vielleicht auch einen haben?“, meldete sich der Nachtwächter schüchtern zu Wort. „Oder kann ich schon gehen?“
„Sie müssen noch hierbleiben“, antwortete Camilieri, „bis Sie uns das Fenster, das geöffnet war, von außen gezeigt haben.“
Der Nachtwächter seufzte.
Camilieri verspürte Mitleid: „Aber einen Caffè können Sie natürlich mit uns trinken. Falls wir hier überhaupt einen kriegen.“
*
In der Therme dampfte nicht nur das heiße Wasser, auch die Köpfe der Ermittler rauchten. Und der Magen des Nachtwächters knurrte. Caffè hatte man zwar auftreiben können, aber von einem Cornetto keine Spur.
Völlig anders zeigte sich die Lage im friedlichen Rest von Arta Terme. Tiefe Nachtruhe lag über dem Ort. Alle schliefen. Oder, besser gesagt: die meisten. Der Padre beispielsweise war munter. Wer jetzt glaubt, der fromme Mann Gottes betete vielleicht einen Rosenkranz, der irrt. Nein, der Padre nutzte die Stunden der Nacht, um seiner wahren Leidenschaft nachzugehen, dem, was er als seine eigentliche Berufung verstand. Tagsüber hatte er wenig Zeit dafür, ständig störte jemand. Einmal starb einer aus der überalteten Kirchengemeinde, dann stand wieder ein Fest im Jahreskreis vor der Tür, derzeit kam noch die Doppelhochzeit der beiden Kriminalpolizisten aus Cividale dazu. Herrgott, hatten die in der Langobardenstadt denn keine eigenen Kirchen zum Heiraten? Doch jetzt in den Nachtstunden quälte ihn das aber kaum. Jetzt war es Zeit, um den archäologischen Studien nach Herzenslust nachzugehen. Der Padre tauchte tief in die Welt der Griechen und Römer ein. Er las alte Texte und freute sich über manches Stück aus diesem verschwundenen Kosmos, das er sein Eigen nennen durfte: eine kostbare Gewandfibel aus dem alten Rom oder eine Münze mit dem Porträt des Kaisers, in dessen Regierungszeit sie geprägt worden war. Santa Vergine Maria, dachte er und ließ den Sesterz von Kaiser Augustus behutsam durch seine Finger gleiten. Diese Münze war zweitausend Jahre alt! Was war mit ihr damals wohl bezahlt worden? Wein in der Taverne? Brot und Bohneneintopf? Oder gar Liebesdienste in einem Bordell? Der Padre schmunzelte und dankte dem Herrn, dass er ihn ausgerechnet nach Arta Terme berufen hatte, wo eine alte Römerstadt in unmittelbarer Nachbarschaft lag. Wahre Schätze konnte man da in den Ausgrabungsstätten bestaunen, wahre Schätze schlummerten da noch unter der Erde.
Eine andere schlief ebenfalls nicht: die Wirtin und Küchenchefin des Hotels, in dem in wenigen Stunden eine Doppelhochzeit gefeiert werden sollte – das war schon sehr, sehr lange nicht mehr da gewesen. Für die Vorbereitungen des Hochzeitsmahls eigneten sich die ruhigen Nachtstunden hervorragend. Da war man ungestört, da konnte man mit aller Sorgfalt in der Küche arbeiten, während tagsüber laufend wer was wollte. Eine Reservierung hier, eine Auskunft dort, frische Leintücher für den Bettwäschewechsel, dazwischen schnell die Einkäufe für die Küche, danach ein Espresso für den ersten Lieferanten des Tages, bevor dieser weiterfuhr, ein freundliches Lächeln für den nächsten … mit einem Wort: Tagsüber gab es kein kreatives Umfeld für die Küchenkunst, das herrschte erst während der Ruhe der Nacht. Und so widmete sie sich nun den Vorbereitungen für das festliche Mahl, modellierte an den süßen Kunstwerken der Dolci, rührte, marinierte, parierte und filetierte, was demnächst auf den Festtagstisch kommen sollte. Das war wichtiger, als zu schlafen.
Andere wieder schliefen tief und fest. Lydia beispielsweise, die, in Leintuch und Decke gekuschelt, vor sich hin träumte. Wild vermischten sich Erinnerungen mit Befürchtungen. Erinnerungen daran, wie sie Camilieri kennengelernt hatte, als er sie aus den Fängen des Phantoms befreit hatte. Erinnerungen an den Espresso, bei dem der Funke zwischen den beiden übergesprungen war. Erinnerungen an die erste gemeinsame Nacht hoch oben unter dem Dach des Berggasthofs in Sauris. Befürchtungen, ob der Kulturunterschied zwischen dem Sizilianer, auch wenn er jetzt in Cividale lebte, und ihr, der Österreicherin, nicht zu groß sein würde. Sicher, wäre sie nicht überzeugt davon, dass Claudio der Rechte war, hätte sie niemals nur knapp zwei Monate nach der ersten Begegnung schon einer Hochzeit zugestimmt. Aber war der erste Eindruck immer der richtige? Wie würde sich das gemeinsame Leben gestalten, wenn der eine im Friaul Verbrecher jagte, die andere in Österreich ihren historischen Forschungen nachging? Würden gemeinsam verbrachte Wochenenden genügen, um die Beziehung stabil zu halten? Dazu gelegentliche Urlaube zu zweit? Andererseits, sie kannte genug Ehen, in denen die Partner Tag für Tag aneinanderklebten und die trotzdem – oder deshalb? – nicht funktionierten. An ein Aufgeben des Berufs dachte auf jeden Fall keiner der beiden. Für Claudio käme das sowieso nicht infrage, er war zu sehr Südländer. Und sie? Sie war ein viel zu emanzipiertes Kind der 68er-Nachfolgegeneration, um für Heim und Herd ihren Job an den Nagel zu hängen. Nein, das mussten sie auf andere Art und Weise hinkriegen. Gemeinsam vor Ort ließen sich die Probleme ja relativ leicht lösen. Am Telefon freilich, wenn sie in Graz sitzen würde und er in Cividale, würde es schon wesentlich schwieriger werden …
Auch Eleonora schlief in dieser Nacht. Vermutlich besser als Lydia, weil sich ihr das Ferneheproblem nicht stellte. Im Gegenteil: Giuseppe lebte in Cividale, sie lebte in Cividale, beide arbeiteten im Kommissariat Tür an Tür – sie als Assistentin in der Vermittlung, er als Adlatus des Commissario. Da könnte höchstens zu viel Nähe zum Problem werden, doch davor hatte sie keine Angst. Italienische Frauen liebten die Nähe! Angst verspürte sie eher vor Giuseppes Mutter, die in ihr immer noch den Störenfried sah, der der armen Mamma den Figlio wegnehmen wollte. Völliger Blödsinn! Ein großer, kräftiger Kerl wie ihr Giuseppe sollte doch Mann genug für zwei Frauen sein – für sie, Eleonora, seine fürsorgliche und liebende Ehefrau, und für die andere, Elisabetta Forza, seine fürsorgliche und liebende Mutter.
Diese andere, die Mutter Giuseppe Forzas, schlief ebenfalls in dieser Nacht. Aber nicht in Arta Terme, sondern zig Kilometer entfernt daheim in ihrer kleinen Wohnung in Cividale. Sie sollte erst am nächsten Vormittag mit ihrem Bruder Giorgio anreisen – am Tag vor der Hochzeit, die Brautleute hatten das so gewünscht! Da steckte sicher Giuseppes Zukünftige dahinter! Manchmal hatte sie sie in Gedanken schon als Tipa, eine Tussi, bezeichnet, wofür sie sich schämte. Einmal hatte sie es auch gleich gebeichtet, aber es passierte ihr immer wieder. Bei der Vorstellung, dass also diese Tipa in Kürze ihre Schwiegertochter werden sollte, wälzte sie sich im Schlaf. Und sie, die Mamma, würde dann nur mehr die zweite Geige spielen. Bei den sonntäglichen Ausflügen mehr geduldet als erwünscht, an den Festtagen zwar eingeladen, aber nur weil es sich so gehörte. Von Herzlichkeit keine Spur! Wer konnte es der guten Frau verdenken, dass sie angesichts dieser Sorgen und der bevorstehenden Fahrt nach Arta Terme schlecht schlief in dieser Nacht. In Wahrheit war sie erleichtert, als sie vom nächsten Bauernhof, der in dem kleinen Städtchen Cividale nicht weit entfernt lag, den Hahn krähen hörte und endlich aufstehen durfte.
*
Ob Camilieri und Forza in der Therme drinnen einen Hahn krähen hörten, wissen wir nicht. Möglich wäre es ohne Weiteres, denn auch in Arta Terme lagen die Bauernhöfe nicht weit vom Zentrum des Ortes entfernt. Sehr wahrscheinlich war es angesichts des Lärms und der Hektik, die herrschten, allerdings nicht. Man hatte zwar endlich die eigentlich zuständigen Kollegen in Tolmezzo erreicht, doch die hatten ein wenig übernächtig geklungen, so als wären sie nicht aus dem Schlaf geschreckt worden, sondern noch gar nicht im Bett gewesen. Dabei war gar kein aktueller Fall aus deren Rayon bekannt. Und natürlich waren sie noch nicht da, wahrscheinlich noch nicht einmal weggefahren, obwohl sie ins Telefon mehr gegrunzt als gesprochen hatten, sie würden sich unverzüglich auf den Weg machen.
Camilieri war das mittlerweile egal, die Nacht war ohnehin schon versaut … Inzwischen hatte sein kriminalistischer Instinkt längst von ihm Besitz ergriffen. Er war jetzt ganz Bulle, der nicht eher ruhen würde, bis er den Fall gelöst und den oder die Verantwortlichen für die Sauerei in der Therme dingfest gemacht hatte. Was er nicht wusste, war, wie sich das mit seinen Hochzeitsplänen in Einklang bringen lassen und wie er den Kollegen aus Tolmezzo näherbringen würde, dass er mit deren Auftauchen längst nicht von der Bildfläche zu verschwinden gedachte.
Forza quälten andere Sorgen. Die Idee vom Cornetto zum Caffè, die ihm der Nachtwächter ins Ohr gesetzt hatte, hatte sich in ihm so einzementiert, dass er die gesamte Therme nach einem Kühlschrank, einem Selbstversorgerautomaten oder irgendetwas Ähnlichem durchsuchte, das die gewünschte