Karnische Hochzeit. Reinhard M. Czar

Karnische Hochzeit - Reinhard M. Czar


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und -sicherung unterwegs, sagte dieser: „Forza, mir scheint, es dämmert draußen. Wir sollten die Stelle vor dem Fenster in Augenschein nehmen, das vorhin laut unserem Kollegen da geöffnet war.“ Dabei zwinkerte er dem Nachtwächter zu, der sich angesichts der Titulierung als Kollege durch einen echten Commissario geschmeichelt fühlte. „Am besten Sie kommen mit und zeigen uns die Stelle! Sie kennen sich hier eindeutig besser aus als wir.“

      Der Nachtwächter ging voran, Camilieri und Forza im Schlepptau. Sie durchquerten das Foyer und begaben sich in die Nachtluft, die zu dieser Jahreszeit trotz schöner Tage bereits empfindlich kalt war und langsam dem kaum weniger kühlen Morgen Platz machte. Der Nachtwächter führte sie zu dem Platz, wo sich das Fenster befand. Knapp davor hielt Camilieri ihn und Forza an den Ärmeln zurück.

      „Vorsicht! Vielleicht gibt es Spuren auf dem Boden. Dieses Fenster stand gestern bei Ihrem Rundgang also offen?“, fragte er noch einmal. „Sì, Commissario“, bestätigte der Nachtwächter mit Engelsgeduld.

      Forza hatte sich inzwischen gebückt und untersuchte den Rasen, der rund um das Fenster eigentlich mehr Erde als Wiese war. Doch die Schäden in der Grasnarbe waren alt und vertrocknet.

      „Der Rasen hier ist ziemlich hinüber. Durch die lange Trockenheit ist die Erde hart wie Beton, da dürfte man kaum Spuren finden.“

      „Wäre auch zu schön gewesen“, brummelte Camilieri. Er inspizierte das Fenster und analysierte: „Wenn der Täter die Leiche wirklich durch dieses Fenster in die Therme gebracht hat, dann muss er ordentlich bei Kräften sein. Das Fenster ist rund eineinhalb Meter hoch. So hoch muss man einen Körper erst einmal stemmen.“

      „Oder es waren zwei“, gab Forza zu bedenken.

      „Möglich, zu blöd, dass der Boden so trocken ist. Sonst hätten wir zumindest diese Frage schnell geklärt.“

      „Wir kennen ja noch nicht einmal die Identität des Opfers“, bremste Forza.

      „Stimmt“, sagte Camilieri und fragte den Nachtwächter: „Haben Sie eigentlich einen genaueren Blick auf die Leiche geworfen? Kennen Sie den Toten?“

      „No, Commissario, noch nie gesehen. Aber ich habe auch nicht genau geschaut und gleich die Polizia gerufen.“

      „Ja, ja, das haben Sie schon richtig gemacht“, beschwichtigte Camilieri.

      „Wir sollten trotzdem die Spurensicherung auf das Fenster ansetzen“, schlug Forza vor, den Gesprächsfaden von vorhin aufnehmend.

      „Das sollen die Kollegen aus Tolmezzo tun. Ich bin überzeugt, dass wir bei dem Fenster nichts Brauchbares mehr finden werden.“

      „Gehen wir also wieder rein?“, fragte der Nachtwächter, dem in der Morgendämmerung langsam kalt wurde.

      „Sì“, antwortete Camilieri, „hier ist die Party vorbei.“

      Plötzlich bückte sich Forza noch einmal und meinte beiläufig: „Das würde ich nicht sagen, Commissario! Schauen Sie, was ich gefunden habe!“

      Er hockte am Boden und streckte den beiden seine Hand entgegen. Zwischen Daumen und Zeigefinger hielt er ein kleines schwarzes rundes Gebilde.

      „Was ist das?“

      „Ein Knopf!“, antwortete Forza immer noch von unten.

      „Ein Knopf?“, fragte Camilieri ungläubig, bis er zu verstehen begann: „Sie glauben, der gehört dem Täter?“

      „Möglich wäre es schon“, sagte Forza und erhob sich. „Vielleicht hat er ihn verloren, als er die Leiche durch das Fenster ins Innere der Therme bugsierte. Dafür musste er sich sicher an der Hausmauer anlehnen, da könnte der Knopf abgerissen sein.“

      „Hm“, meinte Camilieri nachdenklich, „dann hätten wir ja so etwas wie eine erste Spur.“ In verschwörerischem Tonfall fügte er hinzu, wobei er vor allem den Nachtwächter mit eindringlichem Blick fixierte: „Vorerst kein Wort davon zu den Kollegen aus Tolmezzo, ist das klar? Sonst wird alles nur noch komplizierter!“

      Der Nachtwächter nickte beflissen und fragte: „Kann ich jetzt gehen?“

      Camilieri sagte: „Was meinen Sie, Forza, kann er gehen?“ Forza meinte lakonisch: „Er hat uns schon viel geholfen.“ Und mit einem Blick auf die Uhr fügte er hinzu: „Außerdem dürfte sein Dienst längst zu Ende sein.“

      „Nun denn“, sagte Camilieri zum Nachtwächter, „gehen Sie ruhig. Und danke!“

      Das war wirklich ungewöhnlich an diesem frühen Morgen in Arta Terme: dass sich ein Commissario für etwas bedankte, das per Gesetz ohnehin zu tun gewesen wäre, nämlich in einem – vermutlichen – Mordfall als Zeuge Rede und Antwort zu stehen.

      Als sich der Nachtwächter außer Sichtweite befand, legte Camilieri seinen Arm väterlich um Schulter und Nacken seines Kollegen: „Forza, wir haben ein Problem.“

      „Ich weiß: eine Leiche und eigentlich keine Zuständigkeit, um in diesem Fall zu ermitteln. Aber das hat Sie ja noch nie gestört.“

      „Das meinte ich nicht. Ich dachte an unsere Frauen. Wie sagen wir es ihnen?“

      *

      Als die Sonne über dem Bergkirchlein San Pietro aufging und ihre Strahlen das zu Füßen liegende Arta Terme streiften, wussten bereits viele von dem Toten in der Therme. Der Padre beispielsweise. Gläubige, die die Frühmesse besucht hatten, hatten ihm davon erzählt. Der Padre reagierte, wie man es von einem Mann Gottes erwarten durfte: Er schloss das bedauernswerte Opfer in die Fürbitten ein, ungeachtet der Tatsache, dass die Gottesdienstbesucher weder dessen Herkunft noch Rang oder Religionszugehörigkeit, ja nicht einmal die Hautfarbe kannten, die seit dem Flüchtlingsansturm in Lampedusa auch in Norditalien eine immer bedeutendere Rolle spielte. Wenn einen aber der Herr heimholte, dann zählte das alles nicht mehr …

      Die Hotelchefin hatte ebenfalls schon vom Unglück gehört, und zwar vom Bäcker, der die Panini und Cornetti für das Frühstück der Gäste lieferte. Er wusste es von seiner Freundin, die im Wellnessbereich der Therme, dem Centro Benessere, arbeitete. In einem Rundruf hatte das Management des Hauses die Mitarbeiter noch vor Sonnenaufgang telefonisch davon informiert, dass sie sich heute mehr Zeit mit dem Frühstück lassen konnten. Das Heilbad bleibe aus nachvollziehbaren Gründen bis auf Weiteres geschlossen, der Dienstplan sei null und nichtig.

      Ausgehend von den Thermenbediensteten war in Kürze der ganze Ort über die nächtlichen Vorkommnisse im Bilde. Jeder kannte jemanden, der jemanden kannte, der von der Schließung der Therme betroffen war. Ein ähnliches Szenario wie damals, als Giosuè Carducci den Nobelpreis für Literatur erhalten hatte: „Hast du schon gehört? Der bärtige Dichter, der damals den Sommer bei uns verbrachte, ist Nobelpreisträger … “ Die Mundpropaganda funktionierte in Dörfern eben ausgezeichnet, damals wie heute.

      *

      Zum Frühstück kehrten Camilieri und Forza ins Hotel zurück. In der Zwischenzeit waren die Kollegen aus Tolmezzo endlich eingetroffen und begannen sich mühsam zu erarbeiten, was Camilieri aufgrund seiner Beobachtungs- und Kombinationsgabe längst wusste: dass der Fundort der Leiche nicht der Tatort sein konnte, dass das Opfer schon länger tot sein musste, dass die Leiche durch ein Fenster in die Therme geschafft worden war, dass der Täter bei diesem Manöver einen schwarzen Knopf verloren hatte. Letzteres freilich nur mehr vermutlich, denn theoretisch konnte der Knopf bereits lange unter dem Thermenfenster gelegen haben und von jemand anderem stammen. Und das war es dann auch schon, was an gesicherten Informationen vorlag. Weder Identität noch Nationalität des Opfers waren bekannt. Doch darum sollten sich die Kollegen aus Tolmezzo kümmern, Camilieri und Forza würden schon rechtzeitig davon erfahren!

      Lydia und Eleonora hatten sich gerade erst gesetzt und Cappuccino bestellt, als ihre künftigen Männer den Frühstücksraum betraten. Camilieri wollte Forza den Vortritt lassen, weniger aus Höflichkeit, sondern um ihn als Schutzschild zu benutzen, sollten ihnen die Damen ihre Abwesenheit bis in die Morgenstunden übelnehmen. Forza durchschaute das Manöver und


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