Das edle Herz. Karmapa Dorje Ogyen Trinley

Das edle Herz - Karmapa Dorje Ogyen Trinley


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Beziehungen« (siehe Kapitel 3) inspiriert worden war. Der Chant-Meister Seiner Heiligkeit hatte mit fünf Studierenden zuvor ein heiliges Lied des großen tibetischen Yogi Milarepa einstudiert. Vor dem Karmapa sitzend, sangen sie dieses Lied auf Tibetisch, eine Melodie intonierend, die der Karmapa selbst komponiert hatte. Nach wenigen Takten stimmte Seine Heiligkeit mit ein.

      Bemerkung: Der Titel »Seine Heiligkeit« ist vielleicht im Zusammenhang mit dem am meisten verehrten buddhistischen Lehrer, Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama, bekannter. Als Ausdruck der Hochachtung von vielen Millionen Anhängerinnen und Anhängern weltweit ist dieser Titel jedoch auch für den Karmapa gebräuchlich.

      Einführung der Herausgeberinnen

      Auf der ganzen Welt sorgen sich Menschen um den Zustand der Erde und wünschen sich Veränderung, doch sie wissen nicht, wie sie Einfluss nehmen könnten und wo sie beginnen sollten. In diesem Buch bringt uns Seine Heiligkeit der Karmapa eine mitfühlendere Welt nahe, die wir durch eigene Bemühungen erreichen können. Sehr wohl anerkennend, dass diese Aufgabe gewaltig ist, hält Seine Heiligkeit daran fest, dass wir mit der grundlegenden Nobilität des menschlichen Herzens bereits über alles Notwendige verfügen, um diese Welt zu schaffen.

      Seine Heiligkeit widmet sich im vorliegenden Buch den vorrangigen zwischenmenschlichen, gesellschaftlichen und ökologischen Herausforderungen unserer Zeit und verweist auf die uns allen zur Verfügung stehenden emotionalen Ressourcen, diese Herausforderungen anzugehen. Er ermahnt uns, entschlossen die menschliche Güte zum Fundament unseres Wirkens für eine Veränderung der Welt zu machen. Sehr bewusst, dass Hindernisse unseren Zugang zur inneren Güte blockieren können, beschreibt der Karmapa, wie wir sie beiseite räumen können. Seine Sicht fordert von uns, unser Selbstverständnis zu überdenken, wer wir sind und wozu wir wahrhaft imstande sind. Seine Vision davon, wie wir diese Welt verändern können, ist einfach und tiefgründig zugleich. Sie macht uns Mut, einen Weg zu beschreiten, der überaus herausfordernd und doch realisierbar ist.

      Der aus dieser Haltung sprechende Optimismus basiert auf der Realität der wechselseitigen Abhängigkeit aller Individuen, Gemeinschaften, sozialen System und der natürlichen Umwelt. In den vergangenen Jahrzehnten ist ein stärkeres Bewusstsein von den zahllosen, subtilen Verbindungen entstanden, die es auch zwischen entfernt voneinander stattfindenden Phänomenen in der Welt gibt: Globale Erwärmung, internationale Arbeitsmigration und globalisierte Märkte zeigen uns täglich, wie eng verbunden die physischen und sozialen Welten inzwischen sind, in denen wir uns bewegen. Obwohl die Realität der wechselseitigen Abhängigkeit inzwischen in vielen öffentlichen Diskursen gesehen wird, steht die Betrachtung ihrer ethischen und praktischen Aspekte erst am Anfang. Seine Heiligkeit der Karmapa hat hierzu Wichtiges beizutragen und bezieht sich dabei auf eine seit mehr als zweitausend Jahren gepflegte buddhistische Denktradition, die das Prinzip der wechselseitigen Abhängigkeit auf soziale und ethische Fragestellungen anwendet. Im vorliegenden Buch nutzt er dieses Prinzip als ein produktives Paradigma, um die Frage zu erörtern, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, und wie wir alle zu der Welt, in der wir leben, beitragen können.

      Wechselseitige Abhängigkeit bedeutet, dass die Unterstützung anderer unabdingbar für unser aller Überleben ist. Diese Wahrheit kann überall beobachtet werden: Sie wird erfahren bei jeder Mahlzeit, die wir zu uns nehmen, denn jede Mahlzeit wurde von vielen möglich gemacht – von anderen Menschen, Tieren und von der natürlichen Umwelt. Seine Heiligkeit der Karmapa demonstriert die Realität wechselseitiger Abhängigkeit in verschiedenen Kontexten. Er beschreibt ihr Wirken in den Bereichen Umweltschutz, soziale Gerechtigkeit, bei der Suche nach Konfliktlösungen, aber auch im Ringen um gesunde Beziehungen und bei der Frage nach Geschlechteridentitäten. So deckt er die emotionalen, ethischen und praktischen Folgen dieses Prinzips in unserem Leben und Handeln in der Welt auf. Ein Bewusstsein unserer wechselseitigen Abhängigkeit kann Gefühle wie Dankbarkeit, empathische Liebe und Mitgefühl vertiefen. Der Karmapa erläutert, dass aus ethischer Sicht die Tatsache, dass wir so viel von anderen erhalten, die Verantwortung mit sich bringt, der Erde und den Lebewesen, die sie mit uns teilen, etwas zurückzugeben. Unsere wechselseitige Abhängigkeit hat weitreichende praktische Konsequenzen. Weil wir von anderen abhängig sind, sollten wir, um unser eigenes Glück sicher zu stellen, uns um das Wohlergehen anderer kümmern.

      Diese Perspektive eröffnet einen neuen Blick auf die Welt und schafft eine Ausgangsbasis für ein verändertes Wirken in ihr. Der Karmapa ruft zum Handeln auf, doch ist dies kein Aufruf zu dramatischen Gesten oder vordergründigem Aktivismus. Er zeigt, wie wir unsere wechselseitige Abhängigkeit mit Weisheit nutzen können. Indem wir unser Handeln von einem edlen Herzen leiten lassen, können auch scheinbar kleine Dinge eine große Wirkung entfalten. Unser ganz normales Leben kann außerordentlich wirksam sein, wenn wir uns bei all unserem Tun von mitfühlenden Absichten leiten lassen.

      In diesem Sinne verweist Seine Heiligkeit der Karmapa darauf, dass auch im täglichen Leben Platz für Heldenhaftigkeit ist. Wenn wir lernen, gute Absichten in uns zu kultivieren, können wir jegliche Bedingungen, die wir vorfinden, zum Ausgangspunkt unserer heroischen und edlen Bemühungen machen. Dieser Perspektivgewinn erlaubt uns, Erfolg am Glück zu messen, das wir uns und anderen bereiten. Für ein sinnvolles Leben braucht es nicht mehr, als jetzt bereits vorhanden ist.

      Auch wenn der Karmapa uns dazu aufruft, die Welt, in der wir leben wollen, selbst zu gestalten, erinnert er uns immer wieder daran, dass wir mit den »Aufräumarbeiten« zuerst bei uns beginnen müssen. Er führt die realen Probleme der Welt – die ausufernde Konsumwelt, religiöse Intoleranz, Hunger und die Ausbeutung der Umwelt – auf destruktive Emotionen und gewohnheitsmäßiges Verhalten wie Gier, Hass und Egoismus zurück. Auf diese Weise zeigt er auf, dass jegliche soziale Veränderung eine individuelle Veränderung einschließt.

      Vielleicht greifen einige von uns zu diesem Buch, weil sie erfahren wollen, wie die Welt verändert werden kann, doch im Verlauf der Lektüre wird deutlich, dass die Veränderung in uns selbst beginnen muss – bei unseren Einstellungen, Erwartungen und emotionalen Reaktionsmustern. Auch wenn der Karmapa unseren Wunsch bekräftigt, für ein Wohlergehen aller zu arbeiten, verweist er doch immer wieder darauf, die Lösung nicht nur in einer Orientierung im Außen zu suchen. Wollen wir positiv in der Welt wirken, müssen wir zunächst willens sein, uns selbst zu betrachten.

      Es mag verblüffend für uns sein, uns so zu sehen, wie der Karmapa uns sieht – als nicht von Natur aus gierig und aggressiv, sondern ausgestattet mit einer uns innewohnenden Güte, die unseren Blicken durch das verborgen sein mag, was sie vielleicht verdeckt. Wenn wir zu ahnen beginnen, was uns der Karmapa zeigen möchte, erscheint das Projekt, das er uns nahe legt, zwar immer noch äußerst herausfordernd, doch machbar und jeder Mühe wert. Vielleicht verspüren wir Angst vor den verborgenen Regungen unseres Herzens, doch wenn wir tief genug schauen, werden wir die nötige Zuversicht gewinnen, den Weg zurück zu unserem edlen Herzen zu finden. Und dies wird der Ausgangspunkt unseres Handelns werden.

      Diese Betrachtungen der menschlichen Natur, der Realität wechselseitiger Abhängigkeit und der Kraft auf Mitgefühl gründender Intentionen bei der Veränderung der Welt, sind alle durch gemeinsame Erfahrungen entwickelt worden. Seine Heiligkeit der Karmapa hat ausdrücklich erklärt, dass er sich dafür entschieden hat, seine Ausführungen auf Erfahrung gründen zu lassen und nicht auf Philosophie, damit wir uns auf dem Fundament treffen können, das wir alle teilen – das Fundament unserer geteilten menschlichen Erfahrungen und unserer gemeinsamen Sorge um die Welt. Er vermeidet weitestgehend buddhistische Begriffe, denn sein Ziel ist es nicht, buddhistische Lehren zu vermitteln, sondern mit anderen zu teilen, was ihm selbst half, die Welt und sein Leben darin zu verstehen.

      Das vorliegende Buch entstand aus einer Reihe von Treffen mit amerikanischen College-Studierenden. Der Karmapa nahm zu ihnen über kulturelle, sprachliche und soziale Grenzen hinweg Kontakt auf, ebenso, wie er es zu den Leserinnen und Lesern dieses Buches tut.

      Es ist sein Anliegen, den Geist der Freundschaft in uns zu fördern, damit wir uns dem Ideal einer globalen Gemeinschaft annähern. Freundschaft ist ein Ausdruck realer wechselseitiger Abhängigkeit; sie zeigt, dass unser Beitrag jeweils ein anderer sein mag, doch ein jeder wertvoll ist. Und wie es unter guten Freundinnen und


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