Das edle Herz. Karmapa Dorje Ogyen Trinley

Das edle Herz - Karmapa Dorje Ogyen Trinley


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      Alles kann entstehen, weil nirgendwo festgelegt ist, wie Dinge sein müssen. Jede Manifestation hängt von den Bedingungen ab, die in diesem Moment zusammenkommen. Doch »alles ist möglich« bedeutet nicht, dass das Leben zufällig oder willkürlich wäre. Wir können alles möglich machen, doch nur, indem wir die notwendigen Bedingungen dafür schaffen. An dieser Stelle verbinden sich die Konzepte von Leerheit und wechselseitiger Abhängigkeit.

      Jeder Mensch, jeder Ort und jedes Ding ist in seiner Existenz vollständig abhängig von anderen – sowohl von anderen Menschen als auch von anderen Dingen. Zum Beispiel sind wir gerade jetzt lebendig, weil wir uns der notwendigen Bedingungen für unser Überleben erfreuen. Dazu gehören die zahllosen Mahlzeiten, die wir in unserem Leben bereits eingenommen haben, aber auch die Sonne, die auf die Erde scheint, und die Wolken, die den Regen bringen, sodass das Getreide gedeiht. Bestimmte Menschen kümmern sich um das Getreide, ernten es und bringen es zum Markt. Andere bereiten daraus ein Mahl für uns. Dieser Prozess verbindet uns, weil er ständige Wiederholungen erfährt, mit immer mehr Menschen auf der Welt, mit immer mehr Sonnenstrahlen und Regentropfen.

      Letztlich sind wir mit nichts und niemandem auf dieser Welt nicht verbunden. Dies beschreibend, prägte der Buddha den Begriff der wechselseitigen Abhängigkeit oder des abhängigen Entstehens. Sie ist die Natur menschlichen Lebens, aller Dinge und Situationen. Wir sind alle miteinander verbunden und zugleich die Bedingung für die Existenz anderer.

      Unter all den Bedingungen, die uns beeinflussen, sind die Entscheidungen, die wir treffen, und die Schritte, die wir unternehmen, besonders wichtig: Sie tragen maßgeblich zu den Folgen unseres Handelns bei. Handeln wir konstruktiv, so entsteht etwas Konstruktives. Handeln wir jedoch destruktiv, werden die Ergebnisse destruktiv und leidbringend sein. Alles ist möglich, doch wir müssen bedenken, dass alles, was wir tun, zählt und weit über uns persönlich hinausreicht. In einer Welt der wechselseitigen Abhängigkeit zu leben hat daher ganz bestimmte Konsequenzen für uns. Es bedeutet, unser Handeln hat Auswirkungen auf andere und dies macht uns füreinander verantwortlich.

      In dieser Wirklichkeit leben

      Wechselseitige Abhängigkeit und Leerheit mögen abstrakt erscheinen, aber sie sind keine abstrakten Prinzipien, sondern sind sehr konkret und haben eine direkte Bedeutung, wenn wir darüber nachdenken, wie es uns gelingen kann, ein sinnvolles Leben zu leben.

      Wechselseitige Abhängigkeit ist überall am Werk, wo unser Leben erhalten wird. Geschieht dies etwa nur durch unsere eigene Anstrengung? Stellt jeder seine eigenen Ressourcen selbst her oder kommen sie von anderen? Wenn Sie darüber nachdenken, erkennen Sie sofort, dass Sie Ihre Existenz anderen verdanken. Die Kleidung, die Sie tragen, und die Nahrungsmittel, die Sie verzehren, sie alle werden von anderen Menschen produziert. Die Bücher, die Sie lesen, die Autos, mit denen Sie fahren, die Filme, die Sie sich ansehen, und die Werkzeuge, die Sie benutzen: Nichts von alldem hat jemand allein und nur für sich hergestellt. Wir alle hängen ab von äußeren Bedingungen, und sei es die Luft, die wir atmen. Unsere Existenz in dieser Welt ist etwas, das vollständig durch andere ermöglicht wurde.

      Wechselseitige Abhängigkeit bedeutet, dass wir ständig mit der Welt um uns interagieren. Diese Interaktion findet beiderseitig statt, sie ist ein gegenseitiger Austausch. Wir nehmen und geben. So, wie unsere Präsenz auf diesem Planeten durch viele Faktoren ermöglicht wurde, beeinflussen wir im Gegenzug andere Menschen, Gemeinschaften und den Planeten selbst.

      Während der letzten hundert Jahre haben wir Menschen äußerst gefährliche Fertigkeiten entwickelt. Wir haben Maschinen konstruiert, die mit ungeheurer Kraft ausgestattet sind. Mit der heute verfügbaren Technologie könnten wir alle Bäume auf der Erde fällen. Doch täten wir das, würde das Leben nicht wie bisher weitergehen können, es sei denn, ohne Bäume. Aufgrund unserer grundlegenden wechselseitigen Abhängigkeit würden wir alle die Konsequenzen eines solchen Handelns sehr schnell spüren. Ohne Bäume hätte die Atmosphäre nicht mehr genügend Sauerstoff, um das menschliche Leben weiter zu erhalten.

      Was hat dies alles mit unserem täglichen Leben und unseren Entscheidungen zu tun, mögen Sie sich vielleicht fragen? Ganz einfach: Wir alle müssen unsere wechselseitige Abhängigkeit bedenken, denn sie beeinflusst unser Leben direkt und grundlegend. Um ein glückliches Leben führen zu können, müssen wir uns um die Quellen dieses Glücks kümmern.

      Unsere Umwelt und die Menschen, mit der wir sie teilen, sind die wichtigsten Quellen unserer Nahrung und unseres Wohlergehens. Um unser eigenes Glück zu ermöglichen, müssen wir das Glück anderer respektieren und uns darum kümmern. Diesen Zusammenhang können wir einfach erkennen: Nur wenn wir die Menschen, die unsere Nahrung herstellen, gut behandeln und ihre Bedürfnisse beachten, können wir vernünftigerweise davon ausgehen, dass sie alle Last auf sich nehmen, um uns mit gesunden und schmackhaften Nahrungsmitteln zu versorgen.

      Wenn wir andere respektieren und uns für ihr Wachstum, ihr Gedeihen interessieren, werden wir selbst gedeihen. Auch die Wirtschaft weist diesen Zusammenhang auf: Wenn Kunden mehr Geld haben, laufen die Geschäfte besser. Wenn wir sowohl persönliches als auch gesellschaftliches Wachstum anstreben, reicht es nicht aus, das offenkundige Wirken wechselseitiger Abhängigkeit in der Welt zur Kenntnis zu nehmen. Wir müssen uns ihrer Konsequenzen bewusst werden und die Bedingungen unseres Wohlergehens reflektieren. Wo kommen unser Sauerstoff, unsere Nahrung und all die Güter, die wir konsumieren, her und wie werden sie produziert? Sind die Quellen dieser Produktion nachhaltig?

      Sich mit der Wirklichkeit verbinden

      Wenn Sie Ihre Lebenswirklichkeit aus der Perspektive von Leerheit und wechselseitiger Abhängigkeit betrachten, kann daraus eine veränderte Sicht auf Ihr Leben erwachsen. Meine Hoffnung ist, dass diese Veränderung Ihnen ganz praktisch helfen kann. Indem Sie ein neues Verständnis davon entwickeln, welche Kräfte in Ihrem Leben wirken, können Sie erste Schritte unternehmen, eine positive Beziehung zu ihnen zu entwickeln. Es ist nicht meine Absicht, ein angstbesetztes Bild von der Realität zu zeichnen. Ich habe festgestellt, dass einige Menschen nicht gut damit umgehen können, wenn sie hören, dass Veränderung ein fundamentaler Teil des Lebens ist und dass nichts bleibt, wie es ist. Unbeständigkeit ist nun einmal die Grundlage unserer Existenz, und Unbeständigkeit ist an sich zunächst weder gut noch schlecht. Es hilft ganz sicher nicht, sie zu verneinen. Wenn wir mit dem Fakt der Unbeständigkeit weise umgehen, können wir zu ihr als unserer Lebensrealität eine konstruktivere Beziehung entwickeln. Wir können lernen, entspannter angesichts unerwarteter Veränderungen zu sein und uns auf neue Situationen besser einzustellen.

      Das Gleiche gilt für die wechselseitige Abhängigkeit. Das Leben aus dieser Perspektive zu betrachten kann uns helfen, der Wirklichkeit konstruktiver zu begegnen. Doch das bloße Wissen, dass wir alle voneinander abhängen, bedeutet noch nicht, sich damit auch wohlzufühlen. Für manche Menschen birgt die Vorstellung von wechselseitiger Abhängigkeit das ungute Gefühl von Hilflosigkeit und Gefangensein in sich. Doch sollten wir sie uns nicht wie eine Abhängigkeit von einem Arbeitgeber vorstellen, den wir uns nicht ausgesucht haben. Es ist nicht hilfreich, sie sich als eine erzwungene und nur widerwillig zu akzeptierende Realität vorzustellen. Das würde uns nur unzufrieden machen und ein Gefühl des Unwohlseins nähren sowie das Fundament für positive Beziehungen untergraben.

      Wechselseitige Abhängigkeit ist unsere Realität, ob wir das nun akzeptieren oder nicht. Um ein produktives Leben im Rahmen einer solchen Wirklichkeit zu führen, ist es besser, sie mit offenem Herzen und ohne Widerstand anzuerkennen. Dabei spielen Liebe und Mitgefühl eine besondere Rolle. Liebe lässt uns unsere Verbundenheit mit anderen spüren und umarmen, sodass wir freiwillig an den Beziehungen mitwirken, die durch unsere wechselseitige Abhängigkeit entstanden sind. Liebe lässt unsere Abwehr bröckeln und unsere schmerzhaften Gefühle von Isolation schwinden. Freundschaft und Liebe wohnen eine Wärme inne, die uns einfach anerkennen lässt, dass unser Glück direkt mit dem Glück anderer Menschen verbunden ist. Je mehr wir in der Lage sind, andere zu lieben, umso glücklicher und zufriedener können wir in wechselseitiger Abhängigkeit leben. Sie ist ein natürlicher Teil unseres Lebens.

      Alle Menschen sind wie Eltern für uns

      Liebe


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