Das edle Herz. Karmapa Dorje Ogyen Trinley

Das edle Herz - Karmapa Dorje Ogyen Trinley


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wir sind.

      Dieses Buch ist eine Einladung des Karmapa an alle, an einer gemeinsamen Zukunft zu arbeiten. Es bietet Denk- und Handlungsansätze, wie wir zu unserem edlen Herzen zurückfinden und zugleich unsere unterschiedlichen Lebensstile leben können. Jede und jeder ist aufgerufen, diese Ansätze in das eigene Leben zu integrieren. In diesem gemeinsamen Projekt, die Welt von innen heraus zu verändern, ist Platz für jeden. Wir alle sind eingeladen, daran mitzuwirken, so wie wir sind, mit unseren eigenen Hoffnungen für eine bessere Welt.

      1 Unser gemeinsames Fundament

      In jedem von uns schlägt ein edles Herz. Dieses Herz ist die Ursache unserer besten Bestrebungen, mögen diese uns selbst oder anderen gelten. Es verleiht uns die Kraft und den Mut, unseren Hoffnungen nachzugehen. Mag unser Edelmut auch manchmal verdeckt von kleinlichen Gedanken oder blockiert durch verwirrte und verwirrende Gefühle sein, unser edles Herz schlägt trotzdem weiter in uns, bereit sich zu öffnen und der Welt dargeboten zu werden. Unser Ziel – das Ziel dieses Buches – ist es, dieses edle Herz in uns zu entdecken und uns mit ihm zu verbinden, sodass es zum Ausgangspunkt all unseres Tuns und Fühlens wird. Wenn wir alle Blockierungen überwinden, kann dieses Herz die Welt verändern.

      Obwohl ich ein buddhistischer Mönch bin, ist dies kein Buch über buddhistische Theorie und Praxis, sondern über unsere Erfahrungen als menschliche Wesen. Was uns eint, ist unsere Sorge um unser Leben und unsere Erde. Auf diesem gemeinsamen Fundament können wir uns als Freundinnen und Freunde treffen. Ich habe buddhistische Philosophie und Religion studiert; daher werde ich mich mitunter buddhistischer Begriffe bedienen. Ich tue dies nur, weil diese Begriffe hilfreich für mich waren und weil ich hoffe, Sie können auch Ihnen sinnvolle Perspektiven eröffnen. Bitte erachten Sie meine Ausführungen nicht als autoritative Darlegung der buddhistischen Schriften. Ich spreche hier aus meiner eigenen Erfahrung.

      Ich bin nun fünfundzwanzig Jahre alt. In sehr jungen Jahren wurde ich als der siebzehnte Karmapa entdeckt, und mir ist sehr bewusst, dass ich die neunhundertjährige Reinkarnationsgeschichte der vorhergehenden sechzehn Karmapas weitertrage. Doch ich betrachte mich selbst nicht als »der Karmapa«, sondern als menschliches Wesen. Ich bin einfach ein Mensch mit besonderer Verantwortung und mit speziellen Möglichkeiten. Ich mag eine besondere Rolle einnehmen, weil ich den Namen »Karmapa« trage und seine Position einnehme, doch wir alle tragen Verantwortung, je nachdem, welche Rolle uns von der Welt zugewiesen wurde.

      Obwohl ich ausführliche Unterweisungen erhielt, um meinen Pflichten als Karmapa nachzukommen, erfuhr ich meine erste spirituelle Bildung durch meine Eltern. Dies gilt wohl für uns alle. Meine Mutter kann zwar nicht lesen, doch sie ist eine aufrichtige, herzliche und liebevolle Frau. Mutter und Vater waren meine ersten spirituellen Lehrer. Unsere Eltern bringen uns auf die Welt und erziehen uns. Egal, woher wir kommen, Eltern oder andere Bezugspersonen haben sich um uns gekümmert, als wir klein waren. Diese Erfahrung ist uns allen gemeinsam.

      Und wir teilen gemeinsam einen Planeten. Wir leben auf ihm miteinander von Geburt an. Sie und ich, wir wurden bislang einander nicht vorgestellt. Durch dieses Buch können wir einander kennenlernen. Ich verfolge damit ausschließlich das Ziel, Ihnen meine Anliegen darzulegen. Sollten Sie feststellen, dass wir viele Erfahrungen und Bestrebungen miteinander teilen, ist das Ziel des Buches bereits erreicht.

      Auf unserem Lebensweg erfahren wir viele Veränderungen. Direkt vor unseren Augen spielt sich ein Prozess unermesslichen materiellen Fortschritts ab. Wir haben, beginnend in der Kindheit, alle die Erfahrung körperlichen Wachstums gemacht, und auch wenn dieser Prozess abgeschlossen ist, entwickeln wir uns kontinuierlich weiter. Diese körperliche Entwicklung sollte mit geistiger Entwicklung einhergehen. Mit äußerem Wachstum sollten auch unsere Weisheit und unsere Fähigkeit wachsen, zu unterscheiden, was gut und was schädlich für uns ist. So, wie wir die Blüte unserer körperlichen Jugend wahrnehmen, können wir auch das innere Erblühen unseres Herzens und unseres Geistes erfahren. Diese jugendliche Kraft können wir der Welt darbieten, so wie wir später unsere zur Reife gelangte Weisheit verkörpern.

      Wir können ein Leben lang viel voneinander lernen. Immer wieder bin ich vom aufrechten Streben anderer Menschen tief berührt worden und habe viel von ihnen gelernt.

      Ich erhoffe viel für die Welt, aber ich versuche, keine Erwartungen zu hegen. Unabhängig davon, ob ich meine Bestrebungen erfüllen kann oder nicht, wünsche ich mir, dass sie mich und mein Handeln in der Welt formen. Das bloße Fokussieren auf das Erreichen bestimmter Ziele kann uns zu sehr an diesen Zielen anhaften lassen. Unsere Träume müssen sich nicht unbedingt erfüllen, damit wir glücklich sein können. Das Nähren von Hoffnungen als solches ist sinnvoll. Auf eine Erfüllung der Hoffnungen hinzuarbeiten bedeutet einen Wert an sich, unabhängig vom Ergebnis. Wenn wir uns nicht mehr so sehr an Ergebnissen orientieren, wächst der Mut, unserem Streben für die Welt zu folgen. So finden wir unser edles Herz.

      Bis heute teilen wir diese Erde miteinander, ohne ein Bewusstsein davon entwickelt zu haben. Doch jetzt können wir unsere Hoffnungen für unser gemeinsames Zuhause teilen. Wir können gemeinsame Bestrebungen für uns und für einander entwickeln. Das ist alles – mehr braucht es nicht. Uns über unsere Hoffnungen und Bestrebungen, über unsere Erfahrungen auszutauschen kann uns auf einer grundsätzlichen menschlichen Ebene zueinander führen. Das vermag uns Glück zu schenken.

      2 Sinnvoll leben

      Alles ist möglich

      Wenn Sie davon träumen, was das Leben alles für Sie bereithalten könnte, sollten Sie wissen, dass alles möglich ist. Vielleicht sehen und empfinden Sie es nicht immer so, aber die Möglichkeit, den Kurs zu ändern, steht Ihnen in jedem Moment offen. Ihr Leben verändert sich ständig. Veränderung ist die einzige Konstante Ihrer Existenz. Die Person, die Sie heute sind, ist nicht die gleiche wie die, die Sie in zehn, fünf oder auch nur einem Jahr sein werden. Ihre Lebensbedingungen ändern sich ständig, Sie reagieren darauf, und dies formt wiederum Sie. In diesem Prozess verfügen Sie nicht nur über unbeschränkte Freiheit, sich selbst zu formen, Sie verändern auch die Welt.

      Die Frage ist, wie Sie mit diesen unbeschränkten Möglichkeiten, die die Grundlage Ihres Lebens bilden, umgehen. Wie können Sie ein sinnvolles Leben inmitten einer sich ständig verändernden Welt führen?

      Buddhistisches Denken widmet sich in besonderer Weise genau diesen Fragen. Die Vorstellung, dass das Leben ein Raum unbegrenzter Möglichkeiten ist, wird in den Konzepten von »wechselseitiger Abhängigkeit« und »Leerheit« entfaltet. Der Begriff der Leerheit suggeriert möglicherweise die Vorstellung von Nichts oder Leere, doch tatsächlich soll er uns daran erinnern, dass nichts in einem Vakuum existiert. Alles ist eingebettet in einen Kontext – in ein komplexes Geflecht von Bedingungen. Und diese Bedingungen sowie dieser Kontext ändern sich ständig. Wenn wir davon sprechen, dass die Dinge »leer« sind, meinen wir damit, dass sie keine außerhalb dieser sich verändernden Kontexte unabhängige Existenz haben. Da in diesem Sinne alles leer ist, ist auch alles in der Lage, sich ständig neu anzupassen. Auch wir besitzen diese grundlegende Flexibilität, uns an alles anzupassen bzw. uns zu verändern und alles zu werden.

      Leerheit sollte also nicht mit »Nichts« verwechselt werden; im Gegenteil: Leerheit ist voller Potential, voller Wirkkraft. Richtig verstanden, kann das Konzept der Leerheit eher unseren Optimismus als unseren Pessimismus nähren, denn es erinnert uns an unsere grenzenlosen Möglichkeiten und an unsere Gestaltungsspielräume in der Welt.

      Wechselseitige Abhängigkeit und Leerheit zeigen uns, dass es keine festgelegten Vorbedingungen für Veränderung gibt. Wir können mit nichts beginnen. Was immer wir haben, wo immer wie sind – das ist genau der richtige Ort, um zu beginnen. Viele Menschen meinen, es fehle ihnen etwas, Macht oder Geld, um ihre Träume zu leben. Doch jeder Zeitpunkt ist der richtige, um an den eigenen Träumen zu arbeiten. Diese Perspektive eröffnet uns die Leerheit. Wir können bei Null anfangen.

      Leerheit kann tatsächlich mit dem Konzept und der Funktion von Null verglichen werden. Null mag wie Nichts erscheinen, doch wir wissen, alles fängt bei null an. Ohne die Null würden unsere Computer zusammenbrechen. Ohne die Null könnten wir nicht beginnen


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