Den Schatten umarmen. Teal Swan

Den Schatten umarmen - Teal Swan


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      Ebenso versuchen wir von Natur aus, alle fehlenden Aspekte unserer selbst wieder zusammenzufügen.

      Sie werden immer wieder auf Leute und Umstände treffen, die genau auf das hinweisen, was in Ihnen abgespalten ist, damit Sie zur Heilung und zur Ganzheit zurückfinden.

      In einem ersten Schritt müssen wir herausfinden, wie wir das Auflösen und Zurückgewinnen unserer fehlenden Aspekte angehen können.

      2. Verschüttetes ausgraben

      Vielleicht kennen Sie die Ansicht: Um optimale Gesundheit zu erreichen, müssen körperliche, geistige und seelische Probleme angegangen werden. Diese drei Elemente eines Menschen werden seit Langem als die Pfeiler eines vollständigen, perfekten Lebens betrachtet. Und wenn ich jetzt hingehe und sage, das stimmt nicht so ganz?

      Seele beschwört oft das Bild einer ätherischen, nicht greifbaren Energie herauf. Auch Gefühle und Emotionen sind ätherisch und nicht greifbar, und auch sie verstehen wir nicht so recht; manchmal bezeichnen wir unsere Emotionen sogar als unsere »Seele«. Genau deshalb zielen Ratgeber zur Heilung der Seele oft darauf ab, uns emotional ein besseres Gefühl zu geben.

      Der emotionale Weckruf

      Ich befürworte eine andere Betrachtungsweise. In Wahrheit ist unsere Seele von Natur aus gesund und kann deshalb gar nicht in einer ungesunden Verfassung sein. Wenn ich von der Seele spreche, dann meine ich damit unsere nicht-physische, ewige Essenz. Unsere Seele ist Energie; sie erzeugt Gefühle und auch unseren Geist und unseren Körper. Alle drei Elemente eines Menschen bestehen eigentlich aus der Seele. Unser Körper ist unsere Seele, auf die physische Ebene projiziert. Unser Geist ist unsere Seele, auf die mentale Ebene projiziert. Gefühle sind das Mittel der Seele zur bewussten Wahrnehmung und Kommunikation.

      Die drei Säulen der Gesundheit sind also Körper, Geist und Emotion, wobei Emotionen die Sprache der Seele sind. So betrachtet ist der Schlüssel zu »seelischer« Gesundheit die »emotionale« Gesundheit.

      Mit dem Wort Seele bezeichnen wir den Kernaspekt einer Person; im Englischen und auch im Deutschen werden die Begriffe Seele und Herz manchmal synonym verwendet. Deshalb sagt jemand, der aus der Tiefe seiner Seele spricht: »Ich weiß aus tiefstem Herzen, dass …« Das heißt: Tief drinnen wissen wir, dass das Herzstück bzw. der Kern unserer Erfahrungen im Leben nicht mentaler oder physischer Art ist, sondern mit Gefühlen und Emotionen zu tun hat.

      Das ist auch völlig logisch; Babys und Kinder erleben die Welt fast vollständig durch gefühlte Wahrnehmung. Gefühle und Emotionen sind nicht nur das Herzstück unseres irdischen Lebens, sondern auch das Herzstück unserer Beziehungen. Und weil Gefühle und Emotionen das Herzstück von Beziehungen sind, tragen sie meist auch den größten Schaden davon.

      Kinder großziehen, die gesund und ganz sind

      Auch heutzutage wollen viele Eltern nach wie vor ein gehorsames, gefügiges Kind haben, anstatt ihre Kinder zu gesunden Erwachsenen zu erziehen. Das Ziel heißt: ein Kind großziehen, das »gut« ist. Unser Rechtssystem verfolgt in Bezug auf Kriminalität genau denselben Ansatz. Wir wollen das, was als falsches Verhalten wahrgenommen wird, korrigieren und gute Bürger heranziehen. Um die Gefühle, die solches Fehlverhalten motivieren, kümmern wir uns dagegen nicht.

      Gute Kinderziehung hat mit Emotionen zu tun, genauso wie gute Beziehungen mit Emotionen zu tun haben. Die meisten Eltern machen in dieser Hinsicht entscheidende Fehler: Erstens missbilligen sie die Emotionen ihrer Kinder, zweitens nehmen sie sie nicht ernst, und drittens bieten sie dem Kind keine praktische Hilfestellung.

      Ein Beispiel: Der kleine Joey will nicht zur Schule gehen und fängt jedes Mal an zu weinen, wenn sein Vater oder seine Mutter ihn an der Schule absetzt. Die Mutter missbilligt das und schimpft Joey aus oder bestraft ihn mit einer Tracht Prügel oder indem sie ihn nicht mehr auf den Spielplatz lässt. Vielleicht tut sie Joeys Emotionen auch ab und sagt: »Das ist doch dumm. Du hast überhaupt keinen Grund, traurig darüber zu sein, dass du zur Schule musst. Jetzt hör gefälligst auf, so finster zu gucken.« Oder sie lenkt Joey von seinen Emotionen ab, gibt ihm einen Keks oder lenkt seine Aufmerksamkeit auf dem Weg zur Schule auf ein Pferd auf der Wiese.

      Manche Eltern zeigen zwar Empathie, aber sie können dem Kind nicht weiterhelfen. Die Mutter sagt Joey vielleicht, es sei in Ordnung, traurig oder ängstlich zu sein, aber gleichzeitig unterstützt sie ihn nicht dahingehend, zu entscheiden, was er denn nun mit seinen unangenehmen Gefühlen machen kann. Höchstwahrscheinlich hinterlässt sie bei Joey das Gefühl und die Überzeugung, seine Emotionen seien so allesüberwältigend, dass er ihnen ohnmächtig ausgeliefert ist.

      Kinder, die in einem ungesunden emotionalen Umfeld aufwachsen, sind nicht in der Lage, sich selbst zu beruhigen. Oft können sie sich emotional nicht mit ihrer Familie verbinden. Da sie zu Hause keine Nähe aufbauen können, fühlen sie sich furchtbar isoliert und allein, was wiederum zu gesundheitlichen Problemen führen kann.

      Solche Kinder sind als Erwachsene oft nicht fähig, mit ihren Emotionen gut umzugehen, und haben Schwierigkeiten, funktionierende Beziehungen zu führen. Viele von ihnen entwickeln Beziehungen voller Ohnmacht und gegenseitiger Abhängigkeit. Sie haben zwar ein tiefes Bedürfnis nach anderen Menschen, leiden aber gleichzeitig unter einer extremen Angst vor Nähe.

      Die wichtigste Ursache für soziopathisches und psychopathisches Verhalten bei Erwachsenen ist meiner Meinung nach ein ungesundes emotionales Umfeld in der Kindheit. Dabei darf man nicht vergessen: Emotionale Funktionsstörungen sind schwieriger zu erkennen als offenkundiger Missbrauch. Viele Serienkiller und Amokläufer in Schulen kamen angeblich aus »gesunden Familien«, doch dieses familiäre Umfeld war keineswegs gesund. Vielleicht physisch betrachtet – sie hatten genug zu essen und Kleidung, hatten vielleicht sogar viele Vorteile –, aber hinter diesem schönen äußeren Schein war die Familie emotional extrem dysfunktional und hat diese Menschen so geschädigt, dass sie mit anderen Menschen nicht in Verbindung treten konnten.

      Emotionale Ablehnung und Missbilligung sind Formen emotionalen Missbrauchs. Wenn Eltern eine Emotion des Kindes abtun oder missbilligen, übernimmt das Kind mit der Zeit diese Einschätzung der Eltern. Es lernt, sein eigenes Urteil anzuzweifeln, und verliert sein Selbstvertrauen. Wird die Beziehung von emotionaler Dysfunktion bestimmt, lernt das Kind, dass sein Gefühl falsch ist.

      Die Crux dabei ist: Das Kind lernt, dieses Gefühl als falsch zu bewerten, aber es fühlt es trotzdem und ist irgendwann davon überzeugt, an ihm selbst sei etwas falsch.

      Langfristiger Schaden

      Es sind nicht die unangenehmen Gefühle, die uns wehtun, sondern unser Widerstand dagegen. Die Praxen der Psychiater sind voll von Leuten, die in emotional gestörten Familien aufgewachsen sind. Diese Menschen wachsen heran und glauben, mit ihnen stimme etwas nicht, weil sie etwas fühlen, was sie nicht fühlen sollten, doch in Wirklichkeit sind genau diese Gefühle sehr wohl angebracht; die Menschen haben sehr gute Gründe dafür, und die Vorstellungen, mit ihnen stimme etwas nicht, etwas an ihnen sei »verkehrt«, ist ein Trugschluss, zu dem sie kommen, weil ihre Emotionen immer wieder abgelehnt wurden.

      Das ständige Ablehnen unserer Emotionen ist einer der Hauptgründe für Angst. Angststörungen sind sehr oft die Folge von extremen Selbstzweifeln und Misstrauen gegen sich selbst; Letzteres bzw. die Angst vor sich selbst ist wiederum auf die Überzeugung zurückzuführen, dass wir das, was wir fühlen, nicht fühlen sollten. Wenn man Angst vor sich selbst hat, ist man ständig in Angst; der Feind, mit dem man lebt, steckt sozusagen in der eigenen Haut.

      Ich glaube, Psychiatrie und Psychologie werden sich in Zukunft weiterentwickeln und die vielen psychischen Störungen, die unserer Meinung nach Symptome verursachen, selbst als Symptome begreifen. Was heute als psychische Erkrankung betrachtet wird, wird dann als Versuch der Anpassung an Erfahrungen verstanden, die jemand meistens schon früh im Leben durchgemacht hat.

      Langer Rede kurzer Sinn: Wenn unsere Eltern uns nicht beigebracht


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