Parallele Leben. Mira Kelley

Parallele Leben - Mira Kelley


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nicht ertragen konnte, noch einmal anzuschauen. Er wurde sehr schnell wiedergeboren – wie er sagte, im Jahr 1950.

      Was hat er da gesagt?! Die Frage hallte laut in meinem Kopf wider. Oh Gott!

      Ich wurde von Panik und Unglauben überschwemmt. John lag auf der Liege vor mir, ich saß daneben auf einem Stuhl und versuchte, ihm nicht zu zeigen, wie schockiert ich war. Wir hatten gerade sein Leben als Mensch durchlebt, in dem er Anfang des 20. Jahrhundert auf die Welt gekommen war und 1978 starb – und jetzt erzählte er mir, in seinem nächsten Leben sei er im Jahr 1950 geboren worden!

      Mein Verstand protestierte. Nein, nein, nein, das ist unmöglich! So funktioniert die Zeit doch nicht. Und auch Reinkarnation funktioniert nicht so! Zeit verläuft linear. Eine Seele muss erst einmal ein Leben zu Ende bringen, bevor sie ein anderes Leben führen kann. Das ergibt doch alles keinen Sinn!

      Ich war geschockt, versuchte, nicht mehr zu atmen und im Stuhl zu verschwinden. Ich fürchtete, mein Atem würde mich verraten, er würde meine Panik spüren, und meine rasenden Gedanken würden ihn beeinflussen und die Szenen, die vor seinem geistigen Auge abliefen, unterbrechen.

      Das Schweigen schien sich ewig hinzuziehen. Mein Herz hämmerte in meiner Brust. Johns Worte hallten in meinem Kopf wider, und ich dachte: Was soll ich bloß machen? Was kann ich sagen?

      Warte einfach ab, sagte eine innere Stimme. Lass ihn das Wort ergreifen.

      Ich wartete also. Meine Lungen schmerzten wegen des Luftmangels. Ich versuchte, so leise wie noch nie einzuatmen.

      Zum Glück brach John das Schweigen. »Sie gibt mit mir vor ihren Freundinnen an«, sagte er. »So viele Frauen …, zu viel Parfum, zu viel Make-up. Ich weine. Ich mag das alles überhaupt nicht … «

      Ich atmete tief ein und war erleichtert, dass er mit dem Erzählen fortfuhr. Wie John sagte, war er in diesem zweiten Leben ein gemischtrassiges Kind im Süden und von einer reichen weißen Familie adoptiert worden. Seine Eltern hatten eine Zeit lang versucht, selbst ein Kind zu bekommen, sich dann aber zu einer Adoption entschlossen. Johns Vater konnte nie akzeptieren, einen Sohn mit einer dunkleren Haut zu haben. Sie kamen sich nie wirklich nahe, und John hatte immer Angst vor ihm.

      Eines Tages, John war vier Jahre alt, kam er mit einem blauen Auge nach Hause. Er war in der Schule von anderen Kindern zusammengeschlagen worden; sie hatten sich wegen der Adoption über ihn lustig gemacht. Seine Eltern gerieten darüber in Streit, sein Vater sagte immer wieder, sie hätten ihn nie adoptieren sollen. Das entwickelte sich zu einem fortwährenden Konfliktpunkt, und die Eltern ließen sich schließlich scheiden, als John 13 Jahre alt war.

      John und seine Mutter zogen nach New York City. Er freundete sich mit anderen Jungen an, die eine noch dunklere Haut hatten als er; sie gründeten eine Doo-Wop-Gruppe und sangen an der Ecke vor dem örtlichen Süßwarenladen.

      John wollte nicht studieren. Er wurde Bauarbeiter; er war einer Gruppe aus lauter weißen Bauarbeitern zugeteilt. Er mochte ein Mädchen namens Suzanne, das ihn heiraten und mit ihm eine Familie gründen wollte. Doch John fühlte sich mit nicht einmal 30 noch zu jung zum Heiraten. Er reiste nach Los Angeles und kam nie nach New York zurück.

      John erlebte in diesem Leben Unglaubliches, doch nichts schien ihn emotional zu berühren. An vielem schien er gar kein Interesse zu haben. Wie mir auffiel, interessierte er sich nicht wirklich für Bürgerrechte, seine Adoption, die Streitereien seiner Eltern oder den Schulbesuch.

      In Kalifornien führte John ein einfaches Leben. Er arbeitete, aß, schlief und war insgesamt recht zufrieden. Doch sein ganzes Leben lang schmerzte ihn der Gedanke, Suzanne nicht geheiratet zu haben. Als er die letzten Tage seines Lebens an sich vorüberziehen ließ, sagte er zu mir: »Ich bin wirklich alt, über neunzig Jahre. Ich lebe in einem Pflegeheim in Kalifornien, sitze die meiste Zeit einfach rum und starre aus dem Fenster. Verschwendete Zeit …«

      Aus unserer heutigen Sicht erlebte John sowohl ein vergangenes als auch ein zukünftiges Leben. In diesem Leben war er 1950 auf die Welt gekommen, sah sich aber als 90-Jährigen in einem Pflegeheim; das musste sich also irgendwann in den 2040er-Jahren abspielen. Dass John – die Person, die er heute ist – Mitte der 1980-er Jahre geboren wurde, machte alles noch verwirrender.

      Er erlebte weitere vier Leben auf dieser zeitlosen Abenteuerreise, alle innerhalb derselben 130 Jahre, irgendwann zwischen 1910 und 2040.

      Johns Pläne für andere Leben

      Nachdem John sich in ein zweites Leben hatte zurückführen lassen, erkannte er, dass er in diesem einfachen Leben nichts dazugelernt hatte. Die Zeit, die er in dieser Reinkarnation verbrachte, fühlte sich verschwendet an, und er beschloss, als Nächstes ein Leben zu erleben, in dem er lernte zu lieben.

      In diesem dritten Leben wurde er am 3. Juli 1946 geboren (das Datum behielt ich im Kopf und wunderte mich nach wie vor, wie er diese sich überlappenden Leben leben konnte). John hatte eine große Familie, aber ganz besonders nahe stand er seiner Zwillingsschwester Jan. Sie war ein Wildfang, ein burschikoses Mädchen, er dagegen war schüchtern, emotional, sehr fleißig und wissbegierig. Jan war eines der hübschesten Mädchen an der Schule. John beschrieb sie als ein bisschen trottelig, aber wegen seiner Schwester wurde er nicht schikaniert. Die Hälfte der Jungs mochten sie, und die andere Hälfte hatte Angst vor ihr.

      Als die beiden dann aufs College gingen, lebten sie zum ersten Mal getrennt voneinander. John ging ans Massachusetts Institute of Technology (MIT), Jan auf die University of California, Los Angeles (UCLA). Im zweiten Schuljahr erfuhr John, dass seine Schwester von einem Mann aus ihrem College vergewaltigt worden war. Für John stand außer Frage, was er zu tun hatte; er gab die Schule auf und zog nach Los Angeles, um sich um Jan zu kümmern. Er war glücklich, für sie da sein zu können.

      Eines Tages, kurz nach seinem Umzug nach Kalifornien im Jahr 1967, eilte er nach Hause, um Jan etwas aus der Bäckerei zu bringen; beim Überqueren der Straße wurde er von einem Auto erfasst und tödlich verletzt. Seine Schwester konnte es nicht ertragen, ihn so kurz nach dem Trauma der Vergewaltigung zu verlieren; sie schluckte eine Handvoll Tabletten, um sich selbst zu töten.

      Als Johns Seele auf die Spirit-Seite gewechselt war, reinkarnierte er nicht sofort wieder, sondern wartete auf Jan. Sie erstellte einen neuen Lebensplan, um die emotionalen Probleme, die sie dazu gebracht hatten, sich umzubringen, zu integrieren. Nachdem sie dieses Leben erfolgreich zu Ende geführt hatte, waren die beiden bereit, wieder gemeinsam auf die Welt zu kommen. Diese Geschichte berührt mich immer wieder zutiefst.

      In diesem vierten Leben war John ein junger Musiker in New York City. Er war alleinstehend, seine Eltern waren verstorben, er hatte keine Geschwister. Jeden Abend nach der Probe ging er mit seiner Jazz-Band in ein Lokal in der Nähe seiner Wohnung, holte sich dort etwas zu essen und erhoffte sich einen Blick auf die Kellnerin, die er so gern mochte. Von Natur aus schüchtern und nervös, sprach er eigentlich nie wirklich mit ihr, obwohl sie ihn immer anlächelte.

      Eines Tages nahm John endlich seinen ganzen Mut zusammen und stellte sich ihr vor; sie hieß Lauren. Er lud sie zu einer Tasse Kaffee ein; sie willigte ein und bat ihn, um Mitternacht, wenn ihre Schicht zu Ende sei, wiederzukommen. Allerdings schlief er in der Zwischenzeit ein.

      Als er um 3 Uhr morgens aufwachte, ergriff ihn Panik, und er befürchtete, sie verpasst zu haben. Er rannte zu dem Lokal, und da wartete sie immer noch auf ihn. Sie tat so, als ob sie mit ihm schimpfen würde, aber in Wirklichkeit freute sie sich total, ihn zu sehen. Ihre Beziehung machte schnell Fortschritte, und nach nicht einmal sechs Monaten waren sie verheiratet.

      Lauren ging wieder auf die Schule und wurde Lehrerin. Sie und John hatten keine Kinder, aber sie machten alles zusammen und hatten wirklich viel Spaß miteinander. Die Flitterwochen verbrachten sie in Paris – eine tolle Zeit. An ihrem 25. Hochzeitstag besuchten sie die »Stadt des Lichts« noch einmal; natürlich waren sie inzwischen viel älter, aber es war genau wie damals. Lauren alberte immer herum; es war ihr egal, was andere dachten. Dadurch konnte auch John loslassen und Spaß haben.

      Dann starb Lauren an Brustkrebs, und John blieb allein zurück. Ich fragte ihn, ob das schwierig für ihn war, und er antwortete: »Es war nicht so schlimm, wie man


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