Der Gaslight-Effekt. Robin Stern

Der Gaslight-Effekt - Robin Stern


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Sie versuchen verzweifelt, seine Anerkennung zu erlangen.

      Liz befindet sich in dieser Phase 2. Sie kann nur an eins denken: Ihr Chef soll die Dinge so sehen wie sie. Nach dem Meeting geht sie jedes Gespräch mit dem Chef immer wieder durch – auf dem Weg zur Arbeit, beim Mittagessen mit Freunden, vor dem Einschlafen. Sie muss einen Weg finden, um ihn zu überzeugen. Vielleicht hält er dann mehr von ihr, und alles wird wieder gut.

      Auch Mitchell ist in Phase 2. Weil er seine Mutter so verklärt, will ein Teil von ihm wirklich, dass sie recht hat. Also gut, denkt Mitchell sich nach der Auseinandersetzung mit der Mutter. Ich war wohl wirklich ein bisschen grob. Er fühlt sich elend, weil er so ein schlechter Sohn ist. Aber wenigstens muss er sich nicht elend fühlen, weil er eine schlechte Mutter hat. Er kann weiter versuchen, ihre Zustimmung zu erlangen, ohne sich ihr gemeines Verhalten eingestehen zu müssen.

      Dass man die zweite Phase erreicht hat, erkennt man, wenn man sich häufig wie besessen fühlt, manchmal auch verzweifelt. Man ist sich nicht länger sicher, die Zustimmung des Gaslighters erlangen zu können – aber man hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben.

       Phase 3: Depression

      Gaslighting der Phase 3, also Gaslighting dritten Grades, ist am schwierigsten, hier herrscht die Depression. Man versucht mit aller Macht zu beweisen, dass der Gaslighter richtig liegt. Dann kann man es ihm vielleicht recht machen und endlich seine Anerkennung gewinnen. Allerdings ist Phase 3 anstrengend, weshalb man oft zu erschöpft zum Streiten ist.

      Meine Patientin Melanie steckte tief in Phase 3. Melanie war eine hinreißende Frau von etwa 35 Jahren, die Marktanalysen für ein großes New Yorker Unternehmen erstellte. Als sie das erste Mal zu mir kam, hätte ich sie jedoch kaum für eine leitende Angestellte gehalten. In einem sackartigen Pulli kauerte sie auf der Sofakante und schluchzte unkontrollierbar.

      Der Vorfall, der zu ihrem Besuch bei mir geführt hatte, war ein Einkauf im Supermarkt. Sie war die Gänge entlanggehastet und hatte Lebensmittel für die Dinnerparty kaufen wollen, die sie am Abend für ihren Mann und seine Kollegen geben wollte. Jordan hatte sie gebeten, ihre Spezialität zuzubereiten, gegrillte Lachssteaks. Er hatte betont, dass seine Freunde gesundheitsbewusst seien und Wildlachs erwarten würden. Doch als Melanie zur Fischtheke kam, gab es dort nur Lachs aus Aquakulturen. Sie hatte zwei Möglichkeiten: den minderwertigen Fisch kaufen oder einen anderen Hauptgang planen.

      »Ich fing einfach an zu zittern«, erzählte sie mir, als das Schluchzen nachließ. »Ich konnte nur daran denken, wie enttäuscht Jordan sein würde. Sein Gesicht, wenn ich ihm erzählen würde, dass ich keinen Wildlachs finden konnte, dass es einfach keinen gab. Die vorwurfsvollen Fragen: ›Warst du mal wieder zu spät dran, Melanie? Du hast das doch schon mal gekocht, du weißt doch, welche Zutaten man braucht. Ist dir dieser Abend so egal? Ich hab dir doch gesagt, wie wichtig er für mich ist. Was war dir denn wieder so wichtig, dass du dich nicht richtig um das Essen kümmern konntest? Das würde ich wirklich gern wissen.‹«

      Melanie atmete tief ein und griff sich ein Kleenex. »Diese Fragerei hört einfach nicht auf. Ich habe versucht, darüber zu lachen, alles zu erklären, ich habe mich sogar entschuldigt. Ich habe versucht zu beweisen, dass es manchmal anders kommt – aber er glaubt mir einfach nicht.« Sie sank noch tiefer in sich zusammen und zog den Pulli fest um sich. »Wahrscheinlich hat er recht. Ich war immer so organisiert und so souverän. Aber selbst ich kann sehen, was für ein Chaos ich immer anrichte. Ich weiß nicht, warum ich nichts mehr auf die Reihe kriege. Nichts klappt mehr!«

      Melanie war ein extremes Beispiel für den Gaslight-Effekt – sie hatte den negativen Blick des Gaslighters auf sie so vollständig übernommen, dass sie keinen Zugang mehr zu ihrem wahren Selbst hatte. In gewisser Weise hatte Melanie recht: Sie war wirklich zu der hilflosen, inkompetenten Frau geworden, die ihr Mann in ihr sah. Sie hatte ihn zu sehr verklärt und zu sehr versucht, seine Anerkennung zu gewinnen. Sie ergriff nun sogar für ihn Partei, wenn er ihr etwas vorwarf, das definitiv nicht stimmte – im vorliegenden Fall, bei den Vorbereitungen geschlampt zu haben. Es war leichter, nachzugeben und Jordan beizupflichten, als der Tatsache ins Auge zu sehen, dass er mies war und sie seine uneingeschränkte Anerkennung wohl nie erlangen würde. Dabei brauchte sie die doch für ihr Selbstwertgefühl – oder meinte, sie zu brauchen.

      Die drei Etappen sind keineswegs obligatorisch. Es gibt Menschen, die ihr Leben lang in Phase 1 verweilen. Entweder tun sie das in einer einzigen Beziehung oder in einer Reihe frustrierender Freundschaften, Beziehungen oder Arbeitsverhältnisse. Sie erleben immer und immer wieder die gleiche Art Auseinandersetzung. Und wenn eine Beziehung zu unerträglich wird, beenden sie sie einfach. Und schon geht die Suche nach einem anderen Gaslighter los, um das Ritual von Neuem zu beginnen.

      Andere Menschen ringen dauerhaft mit den Dämonen der zweiten Phase. Sie funktionieren vielleicht noch, aber gedanklich und emotional sind sie durch das Gaslighting ausgebrannt. Wir haben vermutlich alle mindestens eine Freundin, die über nichts anderes reden kann als ihren durchgeknallten Chef, ihre nervige Mutter oder ihren gefühllosen Freund. Wenn sie in Phase 2 feststeckt, kann sie diese Gespräche immer und immer wieder führen. Selbst wenn all ihre anderen Beziehungen großartig sind, wirkt das Gaslighting doch wie ein stetes Gift.

      Manchmal alterniert eine Beziehung – insbesondere in Phase 2. Die Partner wechseln sich in der Rolle des Gaslighters ab oder tauschen die Rollen ganz. Dann hat der eine vielleicht die »Erlaubnis«, den Partner im emotionalen Bereich unter Druck zu setzen. Er legt dann beispielsweise fest, was der Partner »wirklich meint«, wenn er etwas sagt oder tut, was Ersterem nicht passt. Der andere darf dafür vielleicht über das soziale Verhalten bestimmen und Ersterem vorwerfen, er rede zu viel auf Partys oder berühre die Gäste unangenehm mit seinen politischen Ansichten. Beide versuchen ständig, recht zu behalten oder die Zustimmung des jeweils anderen zu erlangen – aber in verschiedenen Bereichen.

      Manchmal läuft eine Partnerschaft auch monate- oder jahrelang gut, bevor das Gaslighting einsetzt. Oder es kommt nur gelegentlich zum Gaslighting. Es mag auch die eine oder andere Krise geben, aber im Grunde ist die Beziehung stabil. Dann verliert der Mann seinen Job, der Freund lässt sich scheiden oder die Mutter leidet unter dem Älterwerden. Jetzt setzt das Gaslighting ernsthaft ein, denn jetzt fühlt der Gaslighter sich bedroht und verlegt sich aufs Gaslighting, um Einfluss auszuüben. Vielleicht fühlt man sich aber auch selbst bedroht, weshalb man sich plötzlich noch verzweifelter nach der Zustimmung des Gaslighters sehnt. Diese Verzweiflung gibt dem Gaslighter aber das Gefühl, machtlos zu sein. Also unterstreicht er seinen Machtanspruch, indem er Sie als sein Opfer zwingt einzusehen, dass er recht hat und Sie unrecht – mit was auch immer. Und so fängt das Gaslighting an.

      Vielleicht haben Sie eine Freundin, die ihren Mann, ihr Kind oder eine andere Freundin jahrelang durch Gaslighting drangsaliert hat, nicht aber Sie. Da Sie nicht bemerkt haben, was in dieser anderen Zweierbeziehung vor sich ging, haben Sie womöglich Partei für Ihre Freundin ergriffen und sich ihr verbunden gefühlt, indem Sie ihr zustimmten. Dann verlässt der Ehemann sie, das Kind wächst heran, oder die andere Freundin wird der Sache überdrüssig. Und plötzlich hat Ihre Freundin kein anderes Opfer für das Gaslighting mehr als Sie. Da Sie es gewohnt sind, sich ihren Klagen anzuschließen, vergehen vielleicht Wochen oder sogar Monate, bevor Sie merken, dass dieses neue Verhalten Ihnen gar nicht gefällt.

      Wenn das Gaslighting von jemandem ausgeht, dem man seit Jahren vertraut, höhlt einen das noch stärker aus als eine Beziehung, die von Anfang an unter diesen Vorzeichen steht. Wenn das Vertrauen eine solide Basis hat, ist es umso befremdlicher, wenn man plötzlich schlecht behandelt wird – und man wird noch anfälliger für Selbstkritik. Denn wie könnte der oder die andere das Problem sein? Es muss schon an einem selbst liegen.

      In jedem Fall kann es beim Gaslighting ersten oder zweiten Grades bleiben. Oder man wechselt zwischen beiden hin und her – was schmerzlich genug ist. Erreicht das Gaslighting aber Phase 3, können die Folgen verheerend sein. An diesem Punkt erscheint alles hoffnungslos. Man ist unfähig, auch nur die kleinste Entscheidung zu treffen, und irrt orientierungslos umher. Man erinnert sich kaum noch, wer man vor Beginn des Gaslightings einmal war. Man weiß nur, dass irgendetwas


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