Die achtsame Schule - Praxisbuch. Daniel Rechtschaffen

Die achtsame Schule - Praxisbuch - Daniel Rechtschaffen


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jeden Tag mit einigen achtsamen Minuten. Sie konzentrieren sich auf ihren Atem und kräftigen ihre Achtsamkeitsmuskeln. In Baltimore, Maryland, begeben sich die Schüler in den Chill-Raum, um nach einer Stresssituation wieder zur Ruhe zu kommen und ihre Impulskontrolle und Kommunikation in Konfliktsituationen zu verbessern. In Sun Valley, Idaho, praktizieren die Kinder in der Schule Mitgefühl und widmen sich gemeinnützigen Projekten in ihrer Stadt, um sie in die Praxis umzusetzen, manche bringen sich mit emphatischem Engagement sogar an verschiedensten Orten auf der ganzen Welt ein. Schüler und Schülerinnen von Mexiko bis Israel und Ruanda lernen auf kreative und inspirierende Weise achtsam zu sein.

      Apps und Online-Programme wurden entwickelt, um diese Konzepte zugänglich und interessant zu machen. Es gibt jetzt Programme für Achtsamkeit in der Schule, die mit Audio-und Videoaufnahmen arbeiten, bei denen der oder die Lehrende in der Stunde nichts machen muss, außer auf „Play“ zu drücken. Hip-Hop-Künstler bringen Alben für Kinder heraus, auf denen sie zeigen, wie man zu funkigen Rhythmen atmen und sich entspannen kann. Der Künstler und Achtsamkeitslehrer JustMe singt einen Song, mit dem Refrain: „I’m showing up every school day, being present without judgment is the new thing.“ (Jeden Schultag bin ich da, präsent und ohne zu urteilen, das ist das neue Ding.)

      Achtsamkeit ist natürlich nicht nur etwas für Kinder. Manchmal kann man mit Schülern, die mit Achtsamkeit bereits vertraut sind, erstaunliche Erfahrungen machen. Sie sehen einen an und sagen: „Sie sehen gestresst aus. Brauchen Sie vielleicht einen achtsamen Augenblick, um sich zu entspannen?“ Es gibt jetzt viele Programme und Schulinitiativen, die die persönliche Entwicklung als Teil der beruflichen Entwicklung sehen und fördern. Wir, die Erwachsenen, müssen damit beginnen, gut für uns selbst zu sorgen, uns die Kunst der Aufmerksamkeit zu eigen zu machen und zu einem Gefühl der Zufriedenheit zu finden. Einige Achtsamkeitsprogramme für die Schule richten sich ausschließlich an die Lehrenden in der Annahme, dass wir durch unsere Vorbildfunktion am meisten bewirken können, wenn wir mit Burnout, sekundärer Traumatisierung und Aufmerksamkeitsdefizit umgehen lernen und die Schülerinnen so am meisten von uns lernen.

      Wie funktioniert Achtsamkeit?

      Das Gebiet der Achtsamkeit in der Schule ist jung, doch die Forschungsergebnisse bekräftigen schon jetzt, was Tausende von Lehrenden und Lernenden aus erster Hand erfahren. Für Lehrende wirkt Achtsamkeit stressreduzierend, fokussierend und macht sie zufriedener (Roeser et al., 2013). Lernende sind emotional ausgeglichener und aufmerksamer, auch ihre Noten werden besser. Die Klassenzimmer sind friedlicher, es gibt weniger Konflikte und die Kinder mögen einander mehr (Zoogman et al., 2014). Das sind die ersten Ergebnisse der Achtsamkeitsarbeit mit Kindern und Jugendlichen, ihre Auswirkungen bei Erwachsenen sind bestens bekannt: Eine Achtsamkeitspraxis hat erwiesenermaßen positive Auswirkungen auf die Struktur des Gehirns, das Immunsystem, die Emotionen, ja selbst auf die Gesundheit unserer Gene. (Tang et al., 2015).

      Eine eindrucksvolle Beschreibung von Achtsamkeit liefert uns die weise, alte Schildkröte Oogway im Film „Kung Fu Panda“, als sie sagt: „Das Gestern ist Geschichte, das Morgen nur Gerüchte, doch das Heute ist die Gegenwart. Und die zu erleben ist ein Geschenk.“ Wir waren alle schon tausende Male achtsam und einige Leute, die noch nie von Achtsamkeit gehört haben, sind wirklich gut darin. Achtsam zu sein, bedeutet voll und ganz da zu sein, aufmerksam und mit offenem Herzen. Wir alle haben achtsame Momente mit unseren Schülern und Schülerinnen. wenn wir merken, dass wir etwas bewirken. Achtsamkeit ist nicht etwas, was wir künstlich erzeugen müssen, sie ist ein natürlicher Zustand des Geistes, zu dem wir zurückkehren, wenn wir uns wirklich in unserem Körper niederlassen und auf die Welt um uns herum einstimmen. Vertieft in das Wunder des Augenblicks sind Kinder oft wesentlich achtsamer als wir, selbst wenn sie ihre Aufmerksamkeit nicht unbedingt dem entgegenbringen, was wir für richtig halten.

      Es gibt das einfache Achtsam-Sein und dann gibt es die Achtsamkeitsübungen. Achtsamkeitsübungen setzen wir ein, um unsere Aufmerksamkeit und unser Mitgefühl zu stärken. Wir nutzen unseren Atem als Heimathafen für unsere Aufmerksamkeit, zu dem wir immer wieder zurückkehren und dadurch nur mehr beschränkt ablenkbar sind. Wir denken an jemanden, der uns auf die Nerven geht, damit wir an Versöhnlichkeit und Mitgefühl arbeiten können. Freundlichkeit, Aufmerksamkeit und emotionale Ausgeglichenheit, die Eigenschaften also, die wir bei Kindern entwickeln möchten, können wie ein Muskel trainiert werden. Wir können eine bestimmte Eigenschaft herausgreifen, wie zum Beispiel Aufmerksamkeit, und eine Fokussierungsübung regelmäßig wiederholen, um diese achtsame Aufmerksamkeit zur Gewohnheit werden zu lassen. Das beständige Üben von Achtsamkeit hilft uns, den Anteil der Augenblicke zu vergrößern, in denen wir präsent sind, statt uns in Gedanken zu verlieren.

      Die Beobachtung unseres eigenen Geistes macht uns zu Forschenden in unserer Arbeit mit unseren Schülerinnen. Wir wissen um unser Stresslevel, lernen, wann wir eine Pause brauchen oder unser Herz bestimmten Kindern gegenüber mehr öffnen sollten. Schüler werden befähigt, ihr eigenes Verhalten, ihre Gedankenmuster und Beziehungen zu untersuchen. Statt sich abzureagieren, lernen sie die subtilen emotionalen Trigger in ihrem Körper zu erkennen und sind in der Lage, innezuhalten, einen tiefen Atemzug zu nehmen oder um Hilfe zu bitten, bevor sie reagieren.

      Klingt Achtsamkeit nicht nach einer Wunderpille? Nun, das einzige Problem ist, dass man sie nicht einfach mit einem Glas Wasser einnehmen kann. Die vielen Vorzüge der Achtsamkeit kann man nur durch eine konsequente Praxis und die Erforschung unseres Geistes, unseres Herzens und unseres Körpers ernten. Um uns zu entspannen, müssen wir Stress und Anspannung bewusst wahrnehmen. Um innere Ruhe zu finden, müssen wir den chaotischen Wirrungen unseres Gehirns und der Traurigkeit in unserem Herzen ins Auge blicken.

      Wenn wir Achtsamkeit bloß als Beruhigungsmittel für emotional dysregulierte und hyperaktive Kinder sehen, laufen wir Gefahr, sie wie ein Medikament oder eine Technik zur Verhaltensregulation einzusetzen. Achtsamkeit aber ist kein Spiel, bei dem wir den Kindern sagen, wer am längsten still sitzen kann, hat gewonnen. Es geht nicht darum, sie zum Schweigen zu bringen, damit wir sie leichter in den Griff kriegen. Achtsamkeit eignet sich auch nicht als ein weiterer Punkt auf dem Lehrplan, der dann im nächsten Jahr vielleicht wieder entsorgt wird. Sie ist kein Fach, das man den Lernenden und Lehrenden aufzwingen oder gemäß gewisser Standards abprüfen kann.

      Weltweit fördert Achtsamkeit Konzentration und Selbstregulation, so dass die Kinder ihre Mathematik-Arbeit leichter schaffen und ihre Impulse kontrollieren können. Da es jedoch sinnlos ist, unseren Schülern und Schülerinnen Achtsamkeit aufzudrängen, ist es sinnvoller uns tausenden von Lehrenden auf ihrer inneren Reise anzuschließen und durch unsere eigene Präsenz und unser Mitgefühl zu einem Vorbild für Achtsamkeit zu werden. Oft stellen Lehrende erstaunliche Veränderungen in ihren Klassenzimmern fest, nachdem sie selbst an einem Achtsamkeitstraining teilgenommen haben, und zwar nicht weil sie ihren Schülern irgendetwas beigebracht haben, sondern einfach weil sie selbst achtsamer sind. Das ist wie, wenn man einen Eiswürfel in eine Tasse mit heißem Wasser wirft und spürt, wie er ein wenig abkühlt. Dann beginnen andere Lehrende und Schuldirektorinnen sich dafür zu interessieren. „Was machen Sie da eigentlich? Ihre Klasse macht so einen entspannten Eindruck.“ Und schon ist die leise Revolution geboren. Keine von oben angeordnete Lehrplanreform, sondern eine organische, engagierte Gruppe bewusster Individuen, die Mitgefühl und Präsenz entwickeln und damit langsam aber unaufhaltsam die Welt verändern.

      Die fünf Bereiche der achtsamen Kompetenz

      Achtsamkeit ist eine Lebensart. Sie ist eine Anschauung, bei der wir Geist und Herz offen halten. Das können wir tun, während wir uns mit Freunden unterhalten, in unsere Klasse gehen oder Arbeiten beurteilen. Hier wollen wir erforschen, wie wir in allen unseren Lebensbereichen achtsam sein können, unserm Körper, unserem Geist, unserem Herzen, unseren Beziehungen und der Welt gegenüber. Zuerst lernen wir diese Fähigkeiten in uns selbst zu entwickeln und erst dann, wie wir diese fünf Bereiche der achtsamen Kompetenz an Kinder und Jugendliche vermitteln können.

      Körperkompetenz

      Erfolgreiche Sportlerinnen und Sportler, ja ganze Mannschaften praktizieren Achtsamkeit, weil sie herausgefunden haben, dass es ihnen hilft, sich zu entspannen und ihre Gedanken zu beruhigen, um in einen Zustand des „Flow“ zu kommen, in dem sie in ihrem Körper präsent und auf ihre Umgebung eingestimmt sind. Wenn wir Achtsamkeit erlernen, beginnen wir damit, unseren


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