Die achtsame Schule - Praxisbuch. Daniel Rechtschaffen
praktizieren, dann sehen sie eine weitgehende Integration von Gehirnregionen (Vestergaard-Poulsen et al., 2009). Nun zeigen Forschungen, dass in nur acht Wochen regelmäßiger Achtsamkeitspraxis positive Veränderungen in den für Lernen, Emotionsregulation und Selbstgewahrsein zuständigen Gehirnregionen nachweisbar sind (Hölzel et al., 2011). Statt stundenlang zu sitzen, können wir zu Beginn einfach öfters kurze Achtsamkeitspausen einlegen. Keinesfalls sollten wir Achtsamkeit zum Anlass für ein schlechtes Gewissen nehmen, wie wir das tun, wenn wir zu wenig Bewegung machen oder ungesund essen. Das ist keine innere Gefängnisstrafe. Irgendwann werden Sie vielleicht bei 40 Minuten Sitzen und Atmen angelangt sein, doch beginnen Sie mit bekömmlichen und angenehmen Zeitspannen. Achtsamkeit kann Spaß machen!
Ich versuche Wege zu finden, um Achtsamkeit in der Schule zu einem ansprechenden Spiel zu machen. In einer Klasse präsentierte ich einmal ein neues „Achtsamkeitsspiel“, bei dem es darum ging, wie viele Geräusche wir hören konnten. Ein Schüler dieser dritten Klasse sagte plötzlich: „Das ist doch kein Spiel.“ Es ist sinnlos, eine langweilige Übung als Spiel zu betiteln. Wir wollen, dass die Schüler es wirklich spannend finden. Wir müssen Wege finden, um Achtsamkeit zu einer wundersamen Lernerfahrung zu machen.
Achtsamkeit sollte Spaß machen und interessant sein, doch es bedarf auch einer gewisse Entschlossenheit, damit unser achtsames Bewusstsein wachsen kann. Um in unserer schnelllebigen Zeit Aufmerksamkeit und Mitgefühl zu entwickeln, ist es nötig, gegen den Strom zu schwimmen.
Es gibt eine Unzahl an Möglichkeit zur digitalen Zerstreuung und die Nachrichten strotzen nur so vor tragischen Ereignissen. Ohne eine entschlossene, regelmäßige Achtsamkeitspraxis ist es leicht, unser Herz zu verschließen und Ziele und Visionen aus den Augen zu verlieren.
Wir müssen die richtige Balance finden, so dass Achtsamkeit Spaß macht aber doch ihre transformative Wirkung tut. Vielleicht beginnen Sie damit, jeden Morgen fünf Minuten zu sitzen und gönnen sich diese wenigen Augenblicke als „Zeit für mich“. Sie können sich auch hinlegen, wenn Ihnen das lieber ist, in der Morgensonne sitzen, oder auf einem für Sie perfekten Kissen. Wir nehmen uns fest vor, diese Zeit in Stille zu verbringen und bauen dann nach und nach weitere achtsame Momente in den Tagesablauf ein – einen Moment vor dem Essen, um zur Ruhe zu kommen und zu reflektieren, einen Moment im Auto, bevor wir den Motor anlassen, einen Moment vor dem Abendessen, einen Moment mit einem unserer Lieben. Wenn wir diese Zeit nicht fix reservieren und uns dann auch daran halten, dann nehmen die Dinge ihren Lauf nach dem Motto: horror vacui – „Die Natur verabscheut das Vakuum“. Nur zu leicht werden diese wenigen Augenblicke von einigen Textnachrichten oder dem inneren Wiederkäuen irgendeines Gesprächs verschlungen. Wir müssen uns wirklich entscheiden, uns selbst dieses Geschenk der Präsenz zu machen, und uns den inneren Raum geben, um bei unserem Atem und in unserem Herzen einzukehren.
Je mehr solcher achtsamer Augenblicke wir fix in unseren Tagesablauf einbauen, desto besser. Das bedeutet, dass wir regelmäßig innehalten und die innere Wetterlage unseres Geistes, unseres Körpers und unserer Gefühle wahrnehmen. Wir können diese achtsamen Momente mit bestimmten Tätigkeiten verbinden, damit wir uns leichter daran erinnern, beim Duschen zum Beispiel das Wasser auf unserer Haut bewusst zu spüren, auf die Stufen beim Eingang der Schule zu achten oder mit jedem Schüler, der oder die die Klasse betritt, Augenkontakt aufzunehmen und sie oder ihn wirklich zu sehen. Finden Sie Achtsamkeitsübungen, die für Sie funktionieren, Wege, um den kreisenden Gedanken eine Pause zu gönnen und im Jetzt anzukommen. Vielleicht besteht Ihre Achtsamkeitspraxis aus einem Spaziergang am See, dem Bestaunen von Marienkäfern oder aus achtsamem Stricken. Unser vorrangiges Ziel ist ein Unternehmen „Jetzt“ zu finden, das wir genießen.
Wenn wir die Auswirkungen einer Achtsamkeitspraxis dann einmal am eigenen Leib erfahren haben, können wir sie langsam ausweiten. In diesem Buch erkunden wir viele Achtsamkeitspraktiken für Körper, Geist, Herz, unsere Beziehungen und die Welt. Sobald wir Gefallen an der Praxis gefunden haben, können wir uns der Entwicklung unserer Achtsamkeit intensiver widmen, unsere Grenzen ausloten, länger sitzen und tiefer blicken.
Im Abschnitt „Wir beginnen bei uns selbst“ haben wir die Möglichkeit, eine kontinuierliche Achtsamkeitspraxis aufzubauen, die machbar und angenehm ist.
Intentionen setzen
Intentionen sind äußerst wichtig, sowohl bei unserer eigenen Praxis, als auch im Unterricht. Wir wählen die Richtung bereits, wenn wir die Segel setzen und halten uns dann beständig an das, was der Kompass vorgibt. Selbst wenn wir vom Kurs abkommen, was regelmäßig passieren wird, erinnern wir uns daran, was unser Ziel ist. Unsere Intention bei Achtsamkeit ist es, uns selbst und dem jeweiligen Augenblick gegenüber präsent und mitfühlend zu sein und unsere Schülerinnen beim Entwickeln von Präsenz und Mitgefühl zu unterstützen. Wir wollen alle entspannter, konzentrierter und glücklicher sein. Auch unseren Schülern wünschen wir diese grundlegende Lebenskompetenz. Diesen Wunsch können wir auch ausdehnen auf die Hoffnung, dass Lehrende und Lernende auf der ganzen Welt lernen achtsamer zu sein, und uns vorstellen, wie die Welt wohl aussähe, wenn die nächste Generation achtsamer aufwachsen würde. Wählen wir also unsere Intention bereits, wenn wir die Segel setzen.
Wie wollen wir uns persönlich entwickeln, wenn wir die Kunst der Achtsamkeit erlernen? Vielleicht möchten wir weniger impulsiv reagieren, zufriedener sein oder einfach besser schlafen können.
Und was sind unsere Hoffnungen und Intentionen, wenn wir unseren Schülern und Schülerinnen Achtsamkeit vermitteln? Vielleicht wünschen wir ihnen, dass sie innere Ruhe finden, ihre Aufmerksamkeit halten können oder liebevoller mit sich selbst und anderen umgehen lernen. Hier können wir aufschreiben, welche Auswirkungen wir uns vom Achtsamkeitsunterricht erhoffen.
Schließlich lenken wir unsere Intentionen auf die Welt. Wie hoffen wir unserem Planeten inmitten all der sozialen, ökologischen und politischen Turbulenzen zu helfen, wenn wir Achtsamkeit an unsere Schülerinnen weitergeben? Wir könnten sagen, wir hoffen, dass Schüler, die inneren Frieden finden, auch zum Weltfrieden beitragen. Schreiben Sie auf, welche Auswirkungen auf die Welt sie sich vom Lesen dieses Buches und Teil dieser Bewegung zu sein, erhoffen.
* Im Bemühen um achtsame Gendergerechtigkeit verwenden wir wo immer möglich neutrale Formen oder wechseln zwischen männlichen und weiblichen Sprachformen ab. Wurde ein bestimmtes Gender verwendet, sind i.d.R. alle anderen Gender jeweils mit gemeint (Anm. d. Lekt.).
I
Beginnen wir mit uns selbst
Leute, die mich seit Jahren nicht gesehen haben, sagen, dass ich Ruhe. ausstrahle. Stell dir vor! Meine Achtsamkeitspraxis ist zur Gewohnheit geworden, wie Zahnseide verwenden, doch mit wesentlich offensichtlicheren Ergebnissen. Ich liebe die Praxis und ich liebe, wie ich mich dadurch fühle.
GREGORY DAVID, GRUNDSCHULLEHRER, NEW YORK CITY
Sich Achtsamkeit zu eigen machen
Nach fünfzehn Jahren im Klassenzimmer, graute Teresa vor jedem Schultag. Noch nie hatte sie eine Klasse mit so vielen dysregulierten und gestressten Kindern unterrichtet. In manchen Augenblicken eines Schultages, hin- und hergerissen von den mannigfaltigen Bedürfnissen und Ansprüchen ihrer 25 Zweitklässler, merkte sie, wie ihr Herz raste, ihre Gefühle rotierten und sie sich am Rande eines Nervenzusammenbruchs bewegte. Bei dem Kurs zur achtsamkeitsbasierten Stressreduktion, an dem sie teilnahm, lernte sie zu entschleunigen, ein wenig Abstand von ihren angsterfüllten Gedanken zu gewinnen und mit den aufgewühlten Gefühlen, die in ihrem Körper aufstiegen, Freundschaft zu schließen. Langsam erkannte sie, dass sie sich in ihrem Inneren selbst wie eine aufgeregte Zweitklässlerin fühlte, und lernte, das verschreckte innere Kind in die Arme zu schließen, wenn die Panik in ihr hochstieg.
Erstaunlicherweise fühlte sie sich durch ihre Praxis nicht nur selbst wesentlich ruhiger und friedlicher, sondern mit ihr schienen sich auch ihre Schüler und Schülerinnen zu entspannen. Wenn sich nach dem Turnunterricht das übliche Chaos breit machte und Teresas Anspannung wuchs, hielt sie inne, ließ sich in das Gefühl fallen und versuchte es anzunehmen. Und irgendwie entspannten sich die Kinder mit ihr. Als hätte sie einen Eiswürfel in ein Glas heißes Wasser fallen lassen. Die erhitzten Gemüter beruhigten sich.
Und Teresas Achtsamkeitspraxis zeigte