Die achtsame Schule - Praxisbuch. Daniel Rechtschaffen

Die achtsame Schule - Praxisbuch - Daniel Rechtschaffen


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ihnen eine Happy-Droge verpasst? Kannst du mir zeigen, wie ich das mit meinen Kindern machen kann?“ Die Zauberkunst, die Teresa erlernt hatte, lautete: wenn wir Verantwortung für unsere eigene, innere Transformation übernehmen, können wir auch bei der Welt um uns Großes bewirken. Wenn wir zu dem Frieden werden, den wir in unserem Klassenzimmer sehen wollen, fühlen sich die Schüler und Schülerinnen friedlich, wenn sie in unserer Nähe sind.

      Geschichten wie die von Teresa höre ich immer wieder von Pädagoginnen, die an ihrer persönlichen Entwicklung arbeiten und schon allein dadurch anderen den Weg weisen. Ich höre jedoch auch Folgendes ständig: „Ich versuche meinen Schülern und Kollegen Achtsamkeit zu vermitteln, damit sie entspannter und zufriedener sein können, doch sie hören mir einfach nicht zu.“ Manchmal fühlt man sich wirklich alleine, wenn man ein Lehrer ist, der sich in Achtsamkeit verliebt hat und alle mühsam kämpfenden Schüler und Kolleginnen an den positiven Auswirkungen teilhaben lassen möchte. Und doch kann man niemandem Achtsamkeit aufdrängen. Achtsamkeit ist nicht der nächste Trend in der Lehrplanentwicklung, den wir den Schulen aufzwingen. Sie ist ein organischer Prozess, der mit unserer persönlichen Entwicklung beginnt und sich durch echtes Interesse und Offenheit weiterverbreitet.

      Vielleicht kommt die Schulinspektorin in unsere Klasse und ist so begeistert, dass sie uns bittet allen Lehrenden in ihrem Bezirk Achtsamkeitsunterricht zu erteilen. Oder wir verbringen unser gesamtes Berufsleben in einem einzigen Klassenzimmer, in das alle Kinder gerne kommen, weil sie es als sicheren Hafen für ruhiges und kreatives Lernen empfinden und keine einzige andere Lehrerin oder Administrator merkt etwas davon. Wir können nichts erzwingen. Die Verantwortung für sein eigenes Leben zu übernehmen birgt jedoch eine unglaublich transformative Kraft.

      In einem späteren Abschnitt dieses Buches widmen wir uns dem Achtsamkeitsunterricht. Bevor wir jedoch zu unserer beruflichen Weiterentwicklung kommen, beginnen wir mit unserer persönlichen Entwicklung. Dazu sollten wir uns zunächst bewusst machen, dass alles, was wir mit Achtsamkeit erreichen wollen, bereits hier ist. Wir müssen nirgends hingehen und nichts kaufen – Achtsamkeit ist eine innere Angelegenheit. Ruhe, Zufriedenheit, Ausgeglichenheit und Präsenz sind Seinszustände, die wir in uns tragen und stärken, wenn wir innehalten und uns unserer inneren Welt zuwenden. Selbst ohne jegliches Achtsamkeitstraining können wir unsere alltäglichen Gedanken, Gefühle und Empfindungen hier und jetzt fließen lassen und einen Augenblick innehalten, gerade lang genug, um unserem Bewusstsein eine kleine Pause zu gönnen und wahrzunehmen, was um uns herum passiert. Nehmen wir alles einige Minuten lang in uns auf und betrachten die Wetterlage des gegenwärtigen Augenblicks.

      In den folgenden Übungen befassen wir uns mit den Bereichen des Körpers, des Geistes, des Herzens, der Gesellschaft und der Ökologie. Bei jedem Innehalten und bei jeder Reflexion spielen alle diese fünf Bereiche eine Rolle, doch ohne achtsame Präsenz zieht oft viel von dem, was in unserer Welt passiert, an uns vorüber. Auch wenn wir diese fünf Dimensionen hier zunächst getrennt betrachten, ist unser eigentliches Ziel, sie zu einem integrierten Ganzen zusammenzuführen.

      Die Achtsamkeitskompetenzen

      Körperkompetenz

      Viele von uns haben so viele Aufgaben und Verpflichtungen, dass wir unser Gehirn ständig mit durchgetretenem Gaspedal auf höchster Drehzahl fahren. Wenn wir zu einer der seltenen Pausen in unserem Leben gelangen, vor einer roten Ampel oder in der Badewanne, dann wissen wir nicht mehr, wie man in den Leerlauf zurückschaltet. Schließlich hantieren wir verzweifelt an der Gangschaltung herum und unser Gehirn rotiert, obwohl wir endlich ein wenig Zeit hätten, um einen wertvollen Moment des Friedens zu genießen.

      Bei einem Leben im dritten, vierten oder fünften Gang, wissen wir manchmal gar nicht mehr, wie sich der Leerlauf anfühlt. Wenn wir uns ins Bett legen, um zu schlafen, läuft unser Geist immer noch auf 100. Um zur Ruhe zu kommen, stellen wir zuerst einmal fest, auf welchem Stress-Level wir uns gerade befinden. Dazu erforschen wir die wichtigsten Stresszonen im Körper, wie die Schultern, das Kiefergelenk, den Magen und die Brust. Die Empfindungen, die wir wahrnehmen, müssen wir auch nicht loswerden, wir bemerken einfach Enge und Anspannung in diesem Bereich, begegnen ihr mit liebevolle Zuwendung und bringen ein Gefühl der Entspannung dorthin. „Versuch dich zu entspannen“ hilft nicht – Entspannung passiert, wenn wir aufhören, es zu versuchen.

      Übung: Entspannung für Anfänger

      Legen Sie sich bequem hin, schließen Sie die Augen und verschaffen Sie sich einen ersten Überblick darüber, was gerade in Ihrem Körper vorgeht, vergleichbar mit einer inneren Wetterkarte. Spüren Sie die Aufregung, die Ruhe, das Glücksgefühl, die Traurigkeit, den Schmerz. Was immer Sie bemerken, nehmen Sie wahr, ohne es verändern zu wollen.

      Wandern Sie nun mit Ihrer Aufmerksamkeit durch den Körper, nehmen Sie Anspannung und Entspannung in Ihrem Atem wahr. Beginnend bei Kopf und Gesicht, gibt es da irgendeine Anspannung der Muskeln? Wenn Sie Anspannung bemerken, spannen Sie den Muskel beim Einatmen ein wenig mehr an und lassen ihn dann beim Ausatmen mit einem großen Seufzer los.

      Dann gehen Sie zur Nacken- und Schultermuskulatur weiter. Schauen Sie beim Einatmen, ob Sie in diesem Bereich Spannung wahrnehmen und spannen Sie ein wenig mehr an. Beim Ausatmen lassen Sie den Muskel los, lassen ihn lang und weich werden und in das Bett oder die Couch, auf der Sie liegen, schmelzen.

      Gehen Sie mit diesem achtsamen Ein -und entspannenden Ausatmen durch den Körper und nehmen Sie sich für jeden Bereich etwa eine Minute Zeit. Gehen Sie mit Ihrer Aufmerksamkeit zu den Armen und Händen, dann zum Herzen, dem Bauch, dem oberen und unteren Rücken und schließlich zu den Beinen und Füßen. Wandern Sie durch den Körper und stellen Sie fest, wo Sie Spannung bemerken, verstärken Sie die Spannung beim Einatmen und lassen Sie sie mit einem langen entspannendem Ausatmen los.

      Sobald Sie den Körper von Kopf bis Fuß durchgegangen sind, atmen Sie einige Minuten lang einfach in den ganzen Körper wie in einen großen Luftballon, bemerken beim Einatmen, wenn Spannung da ist und lassen allen Stress beim Ausatmen in den Boden abfließen.

      Und im Alltag

      Wenn Sie bereit sind aufzustehen, nehmen Sie sich vor, die Spannung und Entspannung im Körper auch weiterhin wahrzunehmen. Wie reagiert ihr Körper, wenn Sie Ihr Handy aufdrehen oder in Ihr Auto steigen? Spannen Sie vielleicht die Schultern und den Brustbereich an? Erinnern wir uns daran, dass unser Atem immer bei uns ist und dass wir unser Stressniveau einfach wahrnehmen und unseren Körper dann mit dem Atem entspannen können.

      Geistige Kompetenz

      Als ich ein Achtsamkeitstraining für Lehrende an der pazifischen Küste Kaliforniens leitete, stellte mir die Direktorin einer Grundschule eine vorausschauende Frage. „Meinen Atem einfach nur zu spüren ist wirklich langweilig, kann ich mir nicht einfach vorstellen, ich bin am Strand und beobachte Delfine und Wale, die sich in den Wellen tummeln?“ Auch ich liebe es, Wale und Delfine zu beobachten, also konnte ich ihre Frage gut nachvollziehen. Ich antwortete: „Es klingt, als ob sie wirklich gerne am Meer sind.“ Sie sah mich an, als ob ich sie ertappt hätte. „Eigentlich ist es wirklich frustrierend. Alle sind dabei Wale auszumachen, aber ich bin so beschäftigt damit, mir über meine Familie zu Hause Sorgen zu machen, dass ich sie ständig verpasse!“

      Wenn wir uns leicht ablenken lassen, ist es schwierig für uns im gegenwärtigen Augenblick zu bleiben, selbst wenn es sich um die kostbaren Dinge unseres Lebens handelt, wie unsere Familie, ein wunderschöner Sonnenuntergang oder ein köstliches Essen. Unsere Fähigkeit, uns zu konzentrieren, ist wie ein Muskel, den man trainieren kann. Das einfache Sitzen in Stille mit dem Fokus auf den Atem und so wenig Ablenkung wie irgend möglich ist eine großartige Möglichkeit diesen Fokus-Muskel zu trainieren. Wenn wir unsere Konzentrationsfähigkeit stärken, lernen wir scheinbar langweilige Erfahrungen, wie das Ein -und Ausströmen des Atems aus unserem Körper wertzuschätzen. Wenn wir diese Fähigkeit verbessern, sind wir eher in der Lage, die spielenden Wale und Delfine, das Lachen unserer Kinder und all die scheinbar alltäglichen Geheimnisse unseres Lebens zu genießen. Nach dem Training schrieb mir die Direktorin Folgendes: „Sobald ich gelernt hatte, das Sitzen in Stille und das Spüren des Atems zu schätzen, konnte ich all die Gedanken loslassen und den Spaziergang am Meer wirklich genießen. Und wenn ich dann nach Hause kam, merkte ich, dass ich voll und ganz bei meiner Familie


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