Traumasensitive Achtsamkeit. David Treleaven

Traumasensitive Achtsamkeit - David Treleaven


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sah Marc an und sank voll Scham in sich zusammen. Er konnte nicht einmal dann meditieren, wenn ihm jemand dabei half. Er fühlte sich hilflos und am Boden zerstört. „Entschuldigung“, murmelte er und griff nach seiner Tasche.

      Marc sprang auf, bevor RJ den Raum verlassen konnte. Er versicherte ihm, dass es mit der Zeit einfacher werden würde. Er sei da, um ihn zu unterstützen, was auch immer er brauche.

      RJ hielt die Augen gesenkt und dankte Marc. Vor allem wollte er jetzt allein sein. Vor dem Klassenzimmer zog er seine Kopfhörer heraus. Obwohl es ihn schmerzte, hatte er sie behalten, um sich durch sie an seine Schwester erinnern zu können.

      HÜRDEN BEI DER INTEGRATION

      Erinnern wir uns: Wir können uns die Nachwirkungen von Trauma auf zweierlei Weise betrachten: Durch das Spektrum diagnostischer Beschreibungen oder durch die Linse der Integration. Lassen Sie uns für einen Moment zur Integration zurückkehren. Wieso stecken manche Menschen in traumatischen Symptomen fest, während andere in der Lage sind, das traumatische Erlebnis zu integrieren?

      Dies ist die Eine-Million-Dollar-Frage, wenn es um Trauma geht. Wenn wir eine klare Antwort hätten, wären wir sehr viel erfolgreicher darin, Menschen mit PTBS bei der Heilung zu helfen.

      In Kapitel 4 werde ich darauf eingehen, wie sich Trauma auf das Gehirn und den Körper auswirkt und auf welche Weise uns die Neurophysiologie zu wichtigen Erkenntnissen für die Integration verhilft. Jetzt aber möchte ich zwei Faktoren ansprechen, die für traumasensitive Achtsamkeit unmittelbar relevant sind.

      Der erste ist Angst. Trauma kann dazu führen, dass uns unsere inneren Erfahrungen in Angst und Schrecken versetzen. Traumatische Erlebnisse bestehen bei den Traumaüberlebenden in Form von erstarrten Empfindungen und Emotionen fort. Verständlicherweise ängstigen sich Traumaüberlebende davor, diese Empfindungen erneut zu haben. Van der Kolk beschrieb dies folgendermaßen:

      Traumatisierte … fühlen sich innerlich nicht sicher – ihr eigener Körper ist für sie zur Zeitbombe geworden. Für sie ist es nicht in Ordnung, sich so zu fühlen, wie sie sich fühlen, und zu wissen, was sie wissen, weil ihr Körper für sie zum Hort von Schrecken und Entsetzen geworden ist. Der zunächst äußere Feind hat sich in einen inneren Schrecken verwandelt. (Emerson & Hopper, 2012, S. 19)

      Dies ist eine der eindringlichsten und tiefgreifendsten Belastungen von Trauma: gezwungen zu sein, fortwährend diese quälenden – oftmals verängstigenden – Empfindungen, die in einem weiterleben, aushalten zu müssen.

      Stellen Sie sich also vor, was es daher für einen Traumaüberlebenden bedeutet, wenn man ihn bittet, seinen inneren Erfahrungen achtsame Aufmerksamkeit zu schenken. Sehr wahrscheinlich wird er sich mit nicht integrierten Überresten des Traumas konfrontiert sehen: Gefühle des Schreckens, der Hilflosigkeit und verstörende Erinnerungen und Bilder. Dies ist nicht automatisch eine schädigende Erfahrung, aber es kann ihn schnell überfordern. Traumaüberlebende haben aus gutem Grund Angst vor ihren inneren Erfahrungen. Selbst mit den besten Absichten können wir Achtsamkeitspraktiker nicht sicherstellen, dass Menschen sich erfolgreich durch ihr inneres Minenfeld hindurch navigieren.

      Nehmen wir Marc, RJs Achtsamkeitslehrer. Achtsamkeit hatte ihm dabei geholfen, über den Krebstod seines Geschwisters hinwegzukommen, und es ist nachvollziehbar, dass er seine Verlusterfahrung auf RJs übertrug. RJ jedoch erlebte posttraumatischen Stress. Die Flashbacks, die Übelkeit und das Bedürfnis zu fliehen waren Anhaltspunkte dafür. Als ein Achtsamkeitslehrer, dem ein tieferes Verständnis von Trauma fehlte, war Marc nicht in der Lage, diese Symptome richtig zu erkennen oder ihnen effektiv zu begegnen. RJ hatte Angst vor dem, was da in ihm lebte und brauchte mehr, als Marc ihm bieten konnte. Einfach nur achtsam zu sein – sowohl seiner Angst als auch seinen Flashbacks gegenüber – intensivierte nur RJs Leid.

      Eine zweite Hürde bei der Integration ist Scham. Verbunden mit Demütigung, Demoralisierung und Reue, ist Scham eine komplexe und lähmende Emotion, die häufig mit traumatischem Stress einhergeht. Ein Mensch, der sexuell missbraucht wurde, wirft sich möglicherweise vor, sich nicht genug gewehrt zu haben – obwohl er vielleicht weiß, dass dies die Sache noch schlimmer gemacht hätte. Ein Soldat, der beim Schusswechsel im Kampf erstarrt, wird von den anderen abschätzig behandelt und mag das Gefühl haben, voller Fehler zu sein. Jemand, der unter Diskriminierung zu leiden hat, kann diese Form der Unterdrückung internalisieren und anfangen, sich mangelhaft und wertlos zu fühlen. Scham ist eine starke und lähmende Kraft.

      RJ empfand Scham in zweierlei Form. Erstens machte er sich selbst für den Tod seiner Schwester verantwortlich. Ständig hatte er „Was, wenn …“-Gedanken über Michelles Unfall und konnte sich selbst nicht vergeben, ihr seine Kopfhörer geliehen zu haben. Die Verantwortungslosigkeit, die er sich selbst zuschrieb, verursachte Schuldgefühle und ekelte ihn an. Ebenso schämte RJ sich für seine Meditationspraxis; er empfand es als demütigend, dass er Marcs einfache Anleitung nicht befolgen konnte. Nichts in seinem Leben funktionierte, und er fühlte sich schwach und hoffnungslos. All diese Gefühle waren Hindernisse auf dem Weg zur Integration.

      In Anbetracht seiner Schamgefühle benötigte RJ mehr als eine angeleitete Meditation. Er brauchte Bindung. Wie ich in Kapitel 8 ausführen werde, erholen und entfalten sich Traumaüberlebende häufig durch die Verbindung mit anderen. Obwohl Bindung kein Allheilmittel ist, kann sie – unter den richtigen Umständen – dabei helfen, Sicherheit und Vertrauen wieder aufzubauen. In dem abgesteckten Raum einer sicheren Beziehung können wir angemessen mit Scham und Vergebung arbeiten. Marcs Empathie war in gewisser Weise konstruktiv, aber Traumaüberlebende brauchen jemanden, der ihnen eine enge und beständige Führung geben kann – jemanden, der darin geschult ist, Trauma zu erfassen. Traumaüberlebenden dabei zu helfen, achtsam mit ihrer Scham umzugehen, reicht oftmals nicht aus.

      Es ist wichtig für traumasensitive Praktiker, die Angst und Scham, die Traumaüberlebende empfinden, zu respektieren. Auch wenn es verlockend sein kann, ein Trauma schlicht für eine intensive negative Emotion zu halten, ist es tatsächlich eine Form von Stress, die die Betroffenen außer Gefecht setzt. Es umfasst Überlebensreaktionen, die mit den tiefsten Aspekten unserer Psycho-Biologie korrespondieren. Ein leichtfertiger Umgang mit Trauma kann das Gefühl von Sicherheit und Stabilität gefährden. Daher ist es unsere Aufgabe, so gut wie möglich zu verstehen, welche Rolle Achtsamkeit dabei spielt. Dies öffnet uns die Tür, um Traumata erkennen, effektiv darauf zu reagieren und eine Retraumatisierung zu vermeiden – mit anderen Worten, Achtsamkeit auf eine traumasensitive Art anzubieten.

      KAPITEL 2

      Sich in der Gegenwart verankern: Achtsamkeit und traumatischer Stress

      Meditationspraxis ist keine passive, luxuriöse Nabelschau für Menschen, die der Härte unserer komplexen Welt entfliehen möchten. Bei Achtsamkeit und Meditation geht es darum, uns tiefgreifend zu verändern, um selbst die Veränderung zu sein, die diese Welt braucht.

      Larry Yang

      Tara und Nick kamen seit fünf Wochen zu mir, und die Therapie machte gute Fortschritte. Tara, eine introvertierte Anwältin, lernte, ihre Anliegen direkt zu formulieren. Nick, ein extrovertierter Vater und Hausmann, arbeitete daran, besser mit seiner Wut umzugehen. Wie ich es zuvor schon bei anderen Paaren gesehen hatte, hatte auch bei diesem Paar die Geburt des Sohnes Connor vor vier Jahren erheblichen Druck in die Beziehung gebracht. Sie stritten häufiger, sahen mehr fern und hatten in letzter Zeit keinen Sex mehr. Während der Sitzungen waren sie in der Lage, ihre Probleme mit Entgegenkommen zu besprechen – manchmal sogar mit Humor. Aber heute hing etwas spürbar Anderes in der Luft.

      „Möchtest du anfangen?“, fragte Tara Nick. Es war mehr ein Statement als eine Frage. Nick signalisierte Zustimmung, während er in sein Wasserglas starrte. Am Vorabend, begann er, war die gesamte Familie emotional recht ausgelaugt gewesen. Tara war durch die Menge an Fällen in der Kanzlei überlastet, Connor hatte den ganzen Tag Wutanfälle gehabt, und seit Wochen hatten sie sich gegenseitig mit Erkältungen angesteckt. Beim Abendessen wollte Connor nicht stillsitzen und verweigerte sein Essen. Nick verlor die Geduld, griff nach Connors Gabel und hielt sie ihm streng vor das Gesicht. Connor stieß einen Schrei aus, nahm seinen Teller und warf ihn nach Nick.

      Als ihm die Spaghetti vom T-Shirt tropften,


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