Traumasensitive Achtsamkeit. David Treleaven

Traumasensitive Achtsamkeit - David Treleaven


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die wir nicht integrieren können. … Nach einer solchen Erfahrung finden wir uns oft mit einem verminderten Sicherheitsgefühl im Umgang mit anderen und in der Welt wieder und dem Gefühl, in unserer eigenen Haut nicht sicher zu sein.“ (2015, S. 66)

      Ein Eintopf ist ein einfaches Beispiel für Integration. Wenn wir eine Reihe verschiedener Zutaten zurechtschneiden – Gemüse, Huhn, Kräuter –, und diese zur Brühe hinzugeben, verbinden sie sich zu einem harmonischen Ganzen. Eine technischere Definition bietet Daniel Siegel, Professor für Psychiatrie an der University of California in Los Angeles (UCLA), der über die Neurologie von Achtsamkeit und Trauma geschrieben hat. Siegel beschreibt Integration als „die differenzierten Elemente eines Systems“. (2011, S. 64)34 Um die Eintopf-Metapher wieder aufzugreifen: die differenzierten Elemente sind die verschiedenen Zutaten, die in dem größeren System verbunden werden – in diesem Fall dem Eintopf.

      Integration geschieht in einer Vielzahl von Systemen. In unserem Körper passiert sie, wenn unsere linke und rechte Gehirnhälfte kommunizieren oder Parallelen zwischen Gedanken und körperlichen Sinneswahrnehmungen gezogen werden.

      In Beziehungen geschieht Integration, wenn wir an einem Gespräch teilnehmen und dabei mit uns selbst verbunden bleiben, während wir uns auf unser Gegenüber einstellen. In einem größeren System, wie zum Beispiel dem Gesundheitssystem, werden die medizinischen Fähigkeiten der darin Tätigen und eine Vielzahl verschiedenster Technologien integriert, um dem Patienten die bestmögliche Versorgung zu bieten. Integration erfolgt in großen und in kleinen Systemen.

      Posttraumatischer Stress jedoch schafft .Desintegration. Gedanken, Erinnerungen und Emotionen werden von unseren Erlebnissen abgetrennt oder fluten kontinuierlich unser Bewusstseinsfeld. Es kann passieren, dass wir uns außer Balance oder unfähig fühlen, unseren Sinnen zu vertrauen. Unser Körper reagiert mit Alarmbereitschaft, obwohl die Menschen in unserer Nähe uns zu beruhigen versuchen. Die Verbindung von Geist und Körper ist beeinträchtigt – manchmal sogar durchtrennt.

      Erinnern wir uns zum Beispiel an RJ. Er war nicht in der Lage, das Trauma über den Verlust seiner Schwester zu integrieren. Seine Gedanken und Emotionen wurden unberechenbar und chaotisch, was ihn von sich selbst und anderen entfernte. Jederzeit und ohne Vorwarnung konnten Bilder von Michelle in sein Bewusstsein vordringen. Brock Turners Opfer beschrieb ebenfalls die desintegrierende Wirkung des Traumas: „Ich versuchte [den Übergriff] aus meinem Kopf zu verdrängen“, sagte sie bei der Gerichtsverhandlung, „aber er wog so schwer, dass ich nicht sprach, nicht aß, nicht schlief, dass ich niemanden aushalten konnte … ich isolierte mich von den Menschen, die ich am meisten liebe.“ Und wie sie, an Turner gewandt, weiter berichtete: „Ich verschloss mich, war wütend, wertete mich selbst ab, war müde, reizbar, leer. … Du hast mir ein Ticket zu einem Planeten verpasst, auf dem ich alleine leben musste.“

      Integration ist ein starkes Rahmenwerk innerhalb traumasensitiver Praxis. Statt zu ermitteln, ob ein Schüler oder Klient unter PTBS leidet, können wir uns fragen: Hadert diese Person mit einer traumatischen Erfahrung, die sie nicht integrieren konnte? Wichtiger noch ist die Frage: Hilft Achtsamkeit dabei, das Leid zu vermindern oder verschlimmert sie es? Integration macht deutlich, dass es eine klare Grenze gibt zwischen Erlebnissen, die wir verarbeiten können, und solchen, die uns dies unmöglich machen.35

      Integration öffnet uns die Tür zu Erlebnissen, die außerhalb der DSM-5-Definition von Trauma liegen. Dies trifft besonders auf Unterdrückung zu. Wenn man Rassismus, Homophobie oder Armut ausgesetzt ist, zeigt man möglicherweise keine Symptome von posttraumatischem Stress, die den Kriterien einer PTBS-Diagnose entsprechen; nichtsdestotrotz können all diese Erfahrungen traumatische Auswirkungen haben.

      Monica Williams hat als Teil ihrer Forschung an der University of Connecticut herausgefunden, dass sogenannte Mikroaggressionen – subtile und weitverbreitete diskriminierende Handlungen – sich bei den Betroffenen anstauen und in traumatischen Symptomen resultieren können.36 Obwohl Trauma oft mit Krieg und sexueller Gewalt assoziiert wird, ist nicht zu leugnen, dass Unterdrückung eine große Relevanz in Bezug auf traumatischen Stress besitzt.

      Ich werde mich dem Konzept der Integration am Ende des Kapitels noch einmal widmen, aber bevor wir weiter voranschreiten, möchte ich mich einigen Statistiken zuwenden. Wie oft geschieht Trauma? Und wem widerfährt es? Um trauma-kundig zu sein, sollte man Antworten auf diese Fragen haben.

      DIE VERBREITUNG VON TRAUMA

      Vor einigen Jahren nahm ich an „Step in/Step out“ teil, einer Anti-Unterdrückungsübung, die geschaffen wurde, um einem die Augen für die Allgegenwart von Trauma und Unterdrückung zu öffnen. Man stand mit 30 Teilnehmern in einem Kreis, während ein Moderator eine Liste mit bestimmten Arten von Leid vorlas. Falls eine Äußerung auf uns zutraf und wir uns gut damit fühlten, diese anderen mitzuteilen, traten wir einen Schritt in den Kreis hinein. Wenn sie nicht auf uns zutraf, blieben wir stehen und ließen die anderen, die in den Kreis hineingetreten waren, nach einigen Momenten der Stille wieder heraustreten.

      Ich kann mich an den Klang der Zikaden erinnern, der durch das offene Fenster zu uns drang, während wir im Kreis standen. „Tritt in den Kreis, wenn du Zeuge von Gewalt geworden bist“, begann unser Moderator. Eine überraschende Mehrheit von uns trat einen Schritt nach vorne. Jeder pausierte in der Mitte, hielt inne, um sich die Gesichter der anderen einzuprägen und trat wieder heraus. „Tritt ein“, fuhr der Moderator fort, „wenn du oder eines deiner Familienmitglieder emotional oder physisch misshandelt worden ist, … wenn du oder jemand, den du kennst, Inzest erlebt hat.“ Mit jeder Frage schoben sich unsere Füße in den Kreis und wieder heraus. Wir wurden gebeten, zu fühlen – nicht nur mit dem Verstand wahrzunehmen –, was uns unsere Antworten gegenseitig offenbarten.

      Am Ende der Übung hing eine schwere Stille in der Luft. Bis auf einen kannten wir alle jemanden, der vergewaltigt worden war. Fast zwei Drittel von uns kannten jemanden, der Suizid begangen hatte. Die Gesichter im Kreis offenbarten eine Mischung aus Schock, Wut, Traurigkeit und Scham. Wir hatten keine Details preisgegeben, aber wir hatten Erfahrungen geteilt, die viele von uns versteckt und außer Sicht gehalten hatten. Ich hatte bis dahin gedacht, ich sei jemand, der mit Trauma vertraut war, aber die Übung verunsicherte mich. Einige der Teilnehmer kannte ich seit Jahren und hatte dennoch offensichtlich keine Vorstellung davon gehabt, was sie durchgemacht hatten oder wovon sie Zeuge geworden waren. Für den Rest des Tages sah ich diese Menschen in einem anderen Licht. Ich hatte vergessen, dass Trauma oftmals unter der Oberfläche unseres Lebens angesiedelt ist.

      Der Psychiater Mark Epstein sprach darüber, indem er Trauma als „einen unauslöschlichen Aspekt des Lebens“ (2013, S. 3) beschrieb. Ein Blick auf die Statistiken unterstreicht diese Aussage: Geschätzte 90 Prozent der Weltbevölkerung werden im Verlauf ihres Lebens einem traumatischen Ereignis ausgesetzt sein.37 In den Vereinigten Staaten wird eines von vier Kindern körperliche Misshandlung erleben, und eines von fünf wird sexuell belästigt werden.38 Bessel van der Kolk (2014, deutsch 2015), einer der führenden Experten im Bereich der Traumaforschung, argumentiert, dass die aus einem Trauma resultierenden Auswirkungen eines der für die Allgemeinheit größten Gesundheitsrisiken unserer Zeit darstellt. Epstein behauptet, dass Trauma die Grundlage der Psychologie ist.

      Trauma kann uns schonungslos vor Augen führen, wie verletzlich wir sind. Verkehrsunfälle, Stürze und Ertrinken machen 45 Prozent der tödlichen Verletzungen aus, wobei Verkehrsunfälle jedes Jahr die weltweit häufigste Todesursache in der Altersgruppe der 15- bis 29-Jährigen sind.39 Allein in den Vereinigten Staaten werden jährlich 40 Millionen Menschen mit ernsthaften Verletzungen in die Notaufnahme eingeliefert, von denen wiederum zwei Millionen auf der Intensivstation landen.40 Ob Erdbeben oder alltägliche Unfälle, wir sind in vielerlei Hinsicht empfänglich für Trauma – besonders dann, wenn unsere materiellen Lebensumstände prekär sind.

      Zwischenmenschliche Gewalt ist eine weitere wesentliche Ursache für Trauma. Zehn Millionen Amerikaner werden jährlich von einem Intimpartner physisch misshandelt41, und alle zwei Minuten findet in den USA ein sexueller Übergriff statt 42. An einem normalen Tag gehen bei den nationalen Telefonberatungsstellen für häusliche Gewalt über 20 000 Anrufe ein 43, und die Opfer häuslicher Gewalt verlieren insgesamt


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