Traumasensitive Achtsamkeit. David Treleaven
jedoch mit Belastung und Problemen. Endlose Arbeitstage, finanzielle Schwierigkeiten, zwischenmenschliche Konflikte oder abwertende Kommentare sind allesamt Beispiele für negativen Stress. Es gibt eine ganze Industrie, die sich mit Stressreduktion befasst, und Achtsamkeit spielt darin eine tragende Rolle.
Obwohl negativer Stress sich stark auf unsere Lebensqualität auswirken kann, ist er von traumatischem Stress – der intensivsten Form von Stress, die wir erleben können – klar abgegrenzt. Traumatischer Stress resultiert aus dem Erleben eines einzelnen oder einer Reihe traumatischer Ereignisse. Viele Menschen haben multiple Traumaerfahrungen, zum Beispiel, wenn bestimmte Erlebnisse sich ständig wiederholen und, oft kollektiv, geleugnet werden. Dies kann sexuelle und häusliche Gewalt sein, „Date Rape“ oder die Art sexuellen Übergriffs, wie ich sie eingangs dieses Kapitels beschrieben habe. Darüber hinaus wird jedes Mal, wenn ein erneutes Hassverbrechen oder ein durch die Polizei verursachter Mord geschieht, durch diese fortwährende Unterdrückung traumatischer Stress erzeugt. Traumatischer Stress bezieht sich nicht immer nur auf einen einzelnen, isolierten Vorfall.
In der aktuellen fünften Ausgabe des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (5. Auflage, DSM-5; American Psychiatric Association, 2013) wird ein traumatisches Erlebnis definiert als die tatsächliche oder gefürchtete Erfahrung, Tod, schwerer Verletzung oder sexuellem Missbrauch ausgesetzt zu sein. Diese Exposition kann aus dem persönlichen Erleben oder Miterleben eines traumatischen Ereignisses resultieren oder auch daraus, dass ein Familienmitglied oder ein enger Freund einem solchen Vorfall ausgesetzt war. Sie kann auch dadurch entstehen, dass man Einzelheiten dieses traumatischen Vorfalls wiederholt oder in extremer Weise ausgesetzt ist. Manchmal geschieht das im Kontext der eigenen Arbeit – wie zum Beispiel bei Ersthelfern oder medizinischem Notfallpersonal oder jedem, der sich näher mit Trauma beschäftigt.
DAS SPEKTRUM VON TRAUMA
Ein einzelnes traumatisches Erlebnis wird keine Langzeitfolgen verursachen. Es trifft uns, aber wir sind in der Lage, die Erfahrung umzuwandeln – also unsere Gedanken, Erinnerungen und Emotionen zu verarbeiten, ohne von ihnen übermannt zu werden oder in ihnen steckenzubleiben. Manchmal entwickeln wir jedoch Symptome, die über das traumatische Ereignis hinaus reichen. Dies können wiederholte Flashbacks, quälende körperliche Empfindungen oder starke Stimmungsschwankungen sein, die völlig unvermittelt auftreten. Irgendeines unserer inneren Warnsysteme schaltet nicht ab, und wenn eine traumatische Erfahrung durchkommt, richtet sie in unserem Körper und Geist Verwüstungen an.
Dies bezeichnet man als posttraumatischen Stress – eine Erfahrung, bei der traumatische Symptome über das traumatische Ereignis hinaus erlebt werden. Da wir nicht in der Lage sind, das Erlebte zu integrieren, verfolgt uns der Eindruck des Traumas bis in die Gegenwart und spielt sich dort wieder und wieder für uns ab. Posttraumatischer Stress stellt daher das Konzept, dass Zeit alle Wunden heilen kann, fundamental in Frage.
Manchmal spiegelt posttraumatischer Stress aber auch ganz direkt externe traumatische Lebensumstände. Menschen, die Unterdrückung erfahren, leben oft nicht in Sicherheit, und ihre Angst ist wohlbegründet. So haben sie oft keine Chance, mit dem Trauma abzuschließen – wie zum Beispiel bei Trauma, das aus rassistischer Gewalt resultiert oder wenn man unter einer Militärbesatzung leben muss. Und in wieder anderen Umständen waren wir einem einzelnen traumatischen Ereignis ausgesetzt und registrieren nicht, dass es vorbei ist. Symptome wie Albträume, Dissoziation und Entfremdung prägen unser Leben. Wie Brock Turners Opfer bei der Gerichtsverhandlung rekapitulierte: „Ich kann nachts nicht alleine schlafen, ohne ein Licht anzuhaben, wie eine Fünfjährige, weil ich Albträume habe … Drei Monate lang bin ich erst um sechs Uhr morgens ins Bett gegangen.“
Die Symptome von posttraumatischem Stress treten oft nicht unmittelbar zutage und sind dann entsprechend schwierig zu identifizieren oder zu artikulieren. In RJs Klassenzimmer wusste der Achtsamkeitslehrer nicht, dass RJ seine Schwester verloren hatte und was für eine Herausforderung die Meditation für ihn bedeutete. Wie viele andere Betroffene quälte RJ sich allein mit seinen Symptomen. Das Resultat ist, dass viele Traumaüberlebende bei der Bewältigung ihres Alltags zu Anstrengungen gezwungen sind, die Außenstehende gar nicht erkennen. Sie leiden kaum vorstellbare Qualen, ohne dass andere etwas davon mitbekommen. In Kapitel 5 werde ich Ihnen eine Liste zur Verfügung stellen, die dazu dient, potenzielle Anzeichen traumatischer Symptome im Kontext der Meditation zu erkennen. Im Moment möchte ich jedoch die weitreichenden Belastungen in den Vordergrund stellen, die posttraumatischer Stress den Betroffenen, ihren Familien und oft auch größeren Gemeinschaften auferlegt. Die DSM-5-Definition erinnert uns daran, dass posttraumatischer Stress auch von Menschen erlebt werden kann, die „nur“ Zeuge eines traumatischen Ereignisses geworden sind. Ein Jahr nach Freddie Grays tödlich endender Verhaftung durch die Polizei von Baltimore wurde Kevin Moore, ein Passant, der den Vorfall gefilmt hatte, von einem Journalisten interviewt. „Jede Nacht höre ich die Schreie“, erzählt Moore, und er gibt die letzten Worte Grays wieder: „‚Ich kann nicht atmen, ich brauche Hilfe, ich muss medizinisch versorgt werden’, das ist der Scheiß, der sich wieder und wieder in meinem Kopf abspielt.“29 Wenn wir erfahren, dass ein traumatisches Erlebnis einer uns nahestehenden Person widerfahren ist, kann es geschehen, dass solche Traumasymptome ihre zerstörerische Wirkung über die eigentlich betroffene Person hinaus entfalten.
Wie die afro-amerikanische Psychologin Monica Williams (2015) über Trauma aufgrund von Rassismus schrieb: „Wir werden fortwährend daran erinnert, dass ethnisch bedingte Gefahren immer und überall auf jeden von uns lauern können. Es kann sein, dass wir Berichte in den Abendnachrichten sehen, in denen unbewaffnete Afro-Amerikaner in den Straßen, in Verwahrungszellen oder sogar in der Kirche getötet werden. … Über Jahrhunderte hinweg hat die Gemeinschaft der Schwarzen ein kulturelles Wissen über diese Art schrecklicher Vorkommnisse entwickelt, was uns wiederum für Traumatisierungen prädestiniert, wenn wir von einer erneuten Gewalttat dieser Art hören.“
In manchen Fällen entwickelt sich posttraumatischer Stress in eine PTBS weiter, eine Diagnose, die sich auf eine bestimmte Ansammlung von Symptomen bezieht und mindestens einen Monat über den Zeitpunkt des traumatischen Erlebnisses hinaus anhält.30 Dies beinhaltet fortlaufendes Wiedererleben des traumatischen Vorfalls (oder der Vorfälle), das Meiden von Triggern, die Erinnerungen hervorrufen können, das Erleben negativer Zustände und Stimmungen (zum Beispiel Anspannung und Reizbarkeit), Probleme mit Erregungszuständen (Hypervigilanz, Konzentrations- und Schlafprobleme). Studien schätzen, dass ca. acht bis 20 Prozent der Traumaüberlebenden PTBS entwickeln31, obwohl Menschen an PTBS-Symptomen leiden können, ohne die Kriterien für PTBS zu erfüllen. „PTBS ist eine gesamtkörperliche Tragödie“, schrieb die Sozialarbeiterin Susan Pease Banitt, „ein einschneidendes menschliches Ereignis größten Ausmaßes mit schwerwiegenden Auswirkungen“. (2012, S. xix)
Beim Entwickeln traumasensitiver Achtsamkeit ist es daher nützlich, sich der Abstufungen innerhalb des Traumaspektrums bewusst zu sein – von Stress über traumatischen und posttraumatischen Stress bis hin zu PTBS. Aber für die meisten von uns wird die Aufgabe nicht darin bestehen, Diagnosen zu stellen. Stattdessen wird sie sich primär in den vier Bereichen bewegen, die ich in der Einleitung beschrieben habe: Die allgegenwärtigen Auswirkungen von Trauma wahrnehmen. Die Symptome erkennen. Angemessen auf diese Symptome reagieren. All dies in der Absicht, Retraumatisierung zu verhindern. Unser Augenmerk liegt nicht darauf, ob die Erfahrungen einer Person mit der DSM-5-Definition übereinstimmt. Traumasensitive Achtsamkeit befasst sich in dieser Hinsicht viel eher mit den übergreifenden seelischen Auswirkungen traumatischer Vorkommnisse, die PTBS beinhalten, sich aber nicht darauf beschränken.32
DAS KONZEPT DER INTEGRATION
Vielleicht fragen Sie sich: Wie ist es mit anderen Formen von intensivem Stress? Wie sieht es etwa mit emotionalem Missbrauch oder Hate Speech aus? Werden sie als traumatisch betrachtet? 33
Diese Fragen bringen uns zur Integration, einem zentralen Konzept für das Verständnis von Trauma. Während die meisten von uns eine natürliche Neugier darauf verspüren werden, was ein traumatisches Erlebnis eigentlich beinhaltet, können wir Trauma präziser definieren, wenn man sich die individuelle Reaktion genauer ansieht – genauer gesagt, ob der/die Betroffene die Erfahrung integrieren konnte oder nicht. Wie