Traumasensitive Achtsamkeit. David Treleaven
einen hastigen Rückzug ins Schlafzimmer an – er fühlte sich schwindlig, wütend, und es verwirrte ihn, was gerade geschehen war. Wie sie mir da gegenübersaßen, war ihnen deutlich anzusehen, dass Nick und Tara durch diesen Vorfall sichtlich mitgenommen waren. Nick hatte schon öfter die Geduld mit Connor verloren, aber noch nie war er physisch aggressiv geworden. Der Gedanke, sich selbst und Connor vor ihrem Ehemann beschützen zu müssen, überwältigte Tara. „Ich fühle mich, als hätte ich das Vertrauen meiner Familie zerstört“, sagte Nick, als er sich im Sofa zurücklehnte und tief ausatmete.
Mit einer wachgerüttelten Tara und einem von Scham erfüllten Nick wurde eine neue Form des Gesprächs möglich. Krisen wie diese offenbaren oft Probleme, die seit langem unter der Oberfläche brodeln. Als könnte er es nicht länger für sich behalten, begann Nick, uns seine traumatische Vergangenheit zu offenbaren. Er beschrieb, wie es war, mit einem prügelnden Vater aufzuwachsen, der im Vietnamkrieg gedient hatte. In ihrer Kindheit hatten sich Nick und sein jüngerer Bruder im Badezimmer versteckt, wenn der Vater von der Arbeit nach Hause kam. Schloss dieser die Haustür behutsam, kamen sie aus ihrem Versteck hervor, um den Vater zu begrüßen. Wurde sie zugeschlagen, blieben sie im Versteck. Sobald Nicks Vater ein paar Drinks gehabt hatte, war die Situation am Esstisch äußerst unberechenbar. Dort kamen die Schläge ohne Vorwarnung.
Nick berichtete weiter, dass er in letzter Zeit Flashbacks erlebt hatte. In dem Bewusstsein, dass Connor sich dem Alter näherte, in dem er selbst die schlimmsten Misshandlungen durch seinen Vater erlitten hatte, wurde Nick von Bildern der erlebten Gewalt überflutet: der Anblick des betrunkenen Vaters im Flur, das schreckverzerrte Gesicht seines Bruders, wenn sie sich im Badezimmer versteckten. Nick fühlte auch ständig einen Knoten im Bauch – ein Gefühl, das sich dort seit den Schlägen aus Kindertagen eingenistet hatte. Weil er chronisch reizbar und agitiert war, hatten sein Fernseh- und Alkoholkonsum stark zugenommen. Am Ende der Sitzung einigten wir uns darauf, dass Nick in den nächsten Wochen alleine zu den Sitzungen kommen würde. Tara hatte bereits eine Reise zu ihren Eltern geplant, und Nick suchte nach Strategien, wie er sich durch seinen inneren Aufruhr navigieren konnte. Die erste Ressource, die ich Nick anbot, war Achtsamkeit. Unter Anleitung begann Nick die Anwendung von Achtsamkeit zu lernen, um den in ihm gefangenen Zorn und Schrecken zu beobachten und auszuhalten. Wenn in ihm eine Welle intensiver Wut aufstieg, lernte er, mit den körperlichen Empfindungen präsent zu sein, statt sie zu werten oder zu meiden. Er bemerkte, dass seine Gefühle ständig wechselten – dass sie nicht so tiefsitzend waren, wie er gedacht hatte. Manchmal nahmen die Emotionen und Empfindungen sogar so weit ab, dass er tief atmen und sich entspannen konnte. Mit zunehmender Übung war Nick in der Lage, seinen Kindheitserfahrungen mit einem gewissen Maß an Neugierde und Mitgefühl zu begegnen, statt sich, wie er es jahrelang getan hatte, dafür zurechtzuweisen. Er erkannte, dass unter all dem Zorn ein jüngerer, verängstigter Teil seines Selbst lag, der von der Gewalt in seiner Familie überwältigt worden war.
Nach drei Wochen fragte ich Nick, wie er sich mit den Achtsamkeitsübungen fühlte, die wir in den Sitzungen abgehalten hatten. „Ich mache, was auch immer nötig ist“, antwortete er, während er mit den Tränen kämpfte. „Der Name Connor bedeutet auf Irisch ‚willensstark‘, und das trifft definitiv auf meinen Sohn zu. Aber er soll nicht dasselbe erleben, was ich durchmachen musste. Ich möchte, dass die Gewalt, die in meiner Familie von einer Generation an die nächste weitergegeben wurde, mit mir ein Ende hat.“
TRAUMA UND ACHTSAMKEIT
Achtsamkeit ist eine Kraft des Geistes, die uns ohne zusätzliche Kommentare oder Wertung zu erkennen hilft, was geschieht. Dies erfordert, sich der verschiedenen Erfahrungsaspekte, also der Gedanken, körperlichen Empfindungen und Gefühle anzunehmen, Augenblick für Augenblick. Wie Nick erlebte, ist Achtsamkeit eine Fähigkeit, die uns dabei helfen kann, mit unserer inneren Welt präsent zu sein – auch wenn das, was wir dort vorfinden, erschütternd ist.
Achtsamkeit ist auch ein sozialer Trend. Ursprünglich von Brahmanen genutzt, um vedische Schriften auswendig zu lernen, und später von buddhistischen Mönchen auf ihrer Suche nach Erleuchtung adaptiert, ist Achtsamkeit in letzter Zeit zu einem Teil der Mainstream-Konsumkultur geworden. Von Klassenzimmern bis hin zu den Büros von Großunternehmen – Achtsamkeit wird von einer Vielzahl an Menschen praktiziert und mitunter sogar als schnelle Hilfe gegen Stress vermarktet. In diesem Kontext ist es manchmal schwer, über Achtsamkeit zu sprechen, ohne selbstgefällig oder überheblich zu klingen. Die Anweisung, „einfach achtsam zu sein“, kann von Menschen, die an seelischem Schmerz leiden, als herablassend empfunden werden.
Dies trifft besonders auf Traumaüberlebende zu. Wenn wir nicht aufpassen, kann die Einladung, achtsam zu sein, sich rücksichtslos über traumabedingte Furcht und Scham hinwegsetzen. Ich habe unzählige E-Mails von Traumaüberlebenden erhalten, die – obwohl sie offenkundig mit traumatischen Symptomen zu kämpfen hatten – von Achtsamkeitslehrern, denen offensichtlich ein tieferes Verständnis für Trauma fehlte, wiederholt den gleichen Rat erhalten haben: Nimm es mit auf dein Meditationskissen. Meditiere weiter. Diesen Lehrern fehlte es nicht an Anteilnahme, sondern sie unterschätzten meiner Meinung nach die Intensität eines nicht integrierten Traumas – und überschätzten gleichzeitig den Nutzen von Achtsamkeit.
Schlimmstenfalls kann Achtsamkeit auch elitär wirken. Gerade wenn von ihr mit gedämpfter, betont ruhiger Stimme gesprochen wird, kann sie herablassend wirken – ganz besonders dann, wenn derjenige, der davon spricht, ein Mensch mit höheren sozialen Privilegien ist. Unbeabsichtigt kann dies dazu führen, dass die komplexen Realitäten von Trauma und Unterdrückung übergangen werden. Bei meinen Recherchen habe ich Geschichten von Traumaüberlebenden gehört, deren systemische Traumatisierung – zum Beispiel durch gnadenlose Homophobie oder Sexismus – ignoriert oder schlicht beiseite geschoben wurden. Diese Menschen wurden dazu ermutigt, Achtsamkeit zu nutzen, um anderen zu vergeben, ihre Herzen der Welt zu öffnen und die Dinge, so wie sie sind, zu akzeptieren. Auch in diesen Fällen wollten die Lehrer sicher keinen Schaden anrichten. Aber sie haben unabsichtlich die Erfahrung systemischer Unterdrückung, der diese Menschen ausgesetzt waren, einfach abgetan und so die Möglichkeit verschenkt, die erlittene Ungerechtigkeit anzuerkennen und sich mit ihr zu befassen.
Gleichzeitig ist Achtsamkeit jedoch auch eine unentbehrliche Ressource für Traumaüberlebende. Wenn sie mit Unterscheidungsvermögen praktiziert wird, kann sie die eigene Fähigkeit, ein Trauma zu integrieren, erhöhen. Wie ich in diesem Kapitel zeigen werde, geschieht dies, indem Achtsamkeit Selbstregulation – also die Fähigkeit, unsere Emotionen, Gedanken und unser Verhalten zu regulieren – fördert.
Während Trauma eine zutiefst dysregulierende Erfahrung ist – die uns häufig das Gefühl gibt, von unserem Körper getrennt zu sein und nichts unter Kontrolle zu haben –, kann Achtsamkeit dabei helfen, ein Gefühl der Handlungsfähigkeit zurückzuerlangen. Wir üben, unsere Aufmerksamkeit zu fokussieren, mit uns selbst im Einklang zu sein und uns durch unsere stetig wechselnden Emotionen zu navigieren. In diesem Kapitel möchte ich am Beispiel von Nick mein Hauptaugenmerk darauf legen, in welcher Weise Achtsamkeit und Selbstregulation Traumaüberlebenden helfen können.
Ich glaube, dass es für diejenigen von uns, die anderen Achtsamkeitsübungen anbieten, von Nutzen ist, die Vorzüge von Achtsamkeit bezogen auf Trauma zu kennen. Wenn ich mich hier mit diesem Thema befasste, zielt dies jedoch nicht darauf ab, Sie dahingehend auszustatten, dass Sie selbst als Traumatherapeut arbeiten können. Im Gegenteil, ich möchte Sie von der fixen Idee abbringen, dass das bloße Üben von Achtsamkeit ausreichend ist, um Traumatisierungen effektiv zu heilen. Als Achtsamkeitslehrer müssen wir der Versuchung widerstehen, Achtsamkeit zum Allheilmittel zu verklären oder in unserer Eigenschaft als Achtsamkeitspraktiker „automatisch“ zu wissen, was am besten für jemanden ist. Stattdessen glaube ich, dass unsere Aufgabe darin besteht, auf die Kraft und Komplexität von Traumata zu reagieren und zu lernen, was man tun kann, um die von einem Trauma betroffenen Kursteilnehmer und Klienten bestmöglich zu betreuen. Dazu gehört, dass wir uns über die vielen Dimensionen von Trauma – also die biologische, die psychologische und die soziale Dimension – weiterbilden und uns darüber informieren, welche Zusammenhänge es zwischen Trauma und Achtsamkeitsarbeit gibt. In Anbetracht der weiten Verbreitung von Traumata, auf die ich ja im letzten Kapitel eingegangen bin, ist diese Form der Selbstbildung essentiell, um Achtsamkeitsübungen auf eine sichere und transformative Art