Achtsame Spiele. Susan Kaiser Greenland

Achtsame Spiele - Susan Kaiser Greenland


Скачать книгу
Modus geraten. Und wie bei allen Menschen wird ihr Toleranzfenster kleiner, wenn sie müde, hungrig, krank, gestresst, ängstlich oder wütend sind. In dieser Hinsicht kann Achtsamkeit und Meditation mit jungen Menschen heikel werden, wenn die Eltern dem Nervensystem ihrer Kinder keine Beachtung schenken. Wenn Kinder und Jugendliche sich außerhalb ihres Toleranzfensters befinden, sind sie in einem weniger flexiblen, reaktiveren Modus, einem, in dem es schwierig ist – wenn nicht gar unmöglich –, für neue Ideen offen zu sein. Es gibt Situationen, in denen die Kinder schlichtweg nicht die Nerven haben, um über die großen Themen, die ihre eigene Haltung dem Leben gegenüber prägen, nachzudenken, und schon gar nicht über mögliche Alternativen dazu. Stattdessen brauchen sie etwas, das ihnen hilft, großen Stress und intensive Gefühle auszuhalten, die schier unerträglich scheinen, und sie brauchen es schnell. Achtsamkeitsbasierte Methoden, die helfen, zur Ruhe zu kommen, können eine überraschend schnelle kurzfristige Entlastung von überwältigenden Gefühlen bewirken. Wenn die Kinder erst einmal das Vertrauen entwickeln, dass sie nicht von ihren intensiven Gefühlen überwältigt werden, selbst wenn diese beängstigend sind, können sie ihre Praxis von Achtsamkeit und Meditation weiter vertiefen.

       1

      ABSICHTSVOLL ATMEN

      Wenn mir ein Kind erzählt, dass es mit Stress und intensiven Gefühlen nicht umgehen kann, muss ich an die aufmunternden Worte denken, die Christopher Robins für seinem Freund Pu den Bären hatte: „Du bist mutiger, als du glaubst, und stärker, als du scheinst, und klüger, als du denkst.“ Und doch können intensive Gefühle oft überwältigend sein, sowohl auf dem Meditationskissen als auch jenseits davon. Die Kinder und Jugendlichen können etwas dagegen tun, indem sie ihre Aufmerksamkeit von den Gedanken über das, was sie so aufwühlt, ablenken und stattdessen wahrnehmen, wie sie sich in diesem Moment fühlen. Dadurch beruhigt sich das Nervensystem und im Denken entsteht neuer Raum; und auf diese Weise können sie herausfinden, was es eigentlich ist, das ihnen solches Unbehagen bereitet hat. Wissenschaftler fördern stetig neue Erkenntnisse darüber zu Tage, wie das Gehirn Kindern und Jugendlichen hilft, ihre Gefühle zu regulieren. Einige Regionen des Gehirns stehen mit Ängsten, Sorgen und weiteren schwierigen Gefühlen in Zusammenhang, während andere Regionen den Kindern ermöglichen, ihre automatischen Reaktionen auf diese Gefühle wahrzunehmen und gegebenenfalls auf den Verlauf ihrer emotionalen Reaktionen Einfluss zu nehmen. Manchmal sind die automatischen Reaktionen normal und völlig angemessen. Wenn ein Kind zum Beispiel vom Bürgersteig auf die Straße tritt, ohne den sich nähernden Bus zu bemerken, mobilisiert Angst seine Stressreaktion, so dass es schnellstens aus dem Weg gehen kann. In manchen Fällen sind die Stressreaktionen allerdings weder angemessen noch hilfreich. Wenn ein Kind mit den Schularbeiten spät dran ist, können die auftauchenden Sorgen und Ängste es dazu motivieren, die Arbeit zu erledigen; wenn das Kind aber an dem Gedanken festhält, was wohl passieren wird, wenn es seine Aufgaben nicht rechtzeitig fertig bekommt, können Ängste und Sorgen weitere Gedanken auslösen, die wiederum noch stärkere Gefühle auslösen, und so geht es immer weiter. Dann beherrschen die Gedanken und Gefühle das Geschehen. Das Kind weiß zwar, dass die Endlosschleife von Gedanken, die sich in seinem Kopf abspielt, ihm nicht hilft, doch es fühlt sich außer Stande, irgendetwas daran zu ändern. Dies wird „emotionaler Überfall“ genannt, ein Begriff, den der Psychologe Dr. Daniel Goleman in seinem Buch Emotionale Intelligenz geprägt hat. Das Konzept des emotionalen Überfalls erklärt, warum es Kindern schwerfällt, klar zu denken, wenn sie sehr aufgeregt oder wütend sind. Ist ihre Aufmerksamkeit stabil und flexibel, können die Kinder und Jugendlichen einen emotionalen Überfall vermeiden, indem sie bemerken, wenn ihre Gedanken und Gefühle anfangen, das Steuer zu übernehmen. Weil die kognitive Kontrolle bei Kindern und Jugendlichen noch nicht vollständig ausgereift ist, sind sie für emotionale Überfälle im Allgemeinen anfälliger als ihre Eltern.

      Der Körper eines Kindes verfügt über eine Vielzahl von eingebauten Mechanismen, um mit Stress umzugehen: von chemischen Sicherungsschaltern, die Stresshormone blockieren, bis hin zu dem komplexen Netz aus neuronalen Bahnen, das Nervensystem genannt wird. Wenn einer dieser Mechanismen aktiviert wird, wirkt sich das auf alle anderen Mechanismen aus. In achtsamen Spielen, die auf Stressbewältigung, Schmerzmanagement und darauf, zur Ruhe zu kommen, abzielen, wird oft dazu angeregt, sich sanft auf die Ausatmung zu konzentrieren, da diese einfache Verschiebung der Aufmerksamkeit körperliches und geistiges Unwohlsein lindern kann.

      Das Nervensystem – ein komplexes Netz von Zellen mit Milliarden von Verbindungen, das Botschaften zwischen dem Gehirn, dem Rückenmark und allen anderen Teilen des Körpers transportiert – lässt sich in zwei Zweige unterteilen, die man das somatische und das autonome Nervensystem nennt. Das somatische Nervensystem ist verantwortlich für willentliche Bewegungen (springen, gehen, sprechen), reflexhafte Bewegungen und jene Empfindungen, deren sich das Kind bewusst ist, wie Schmerz und Licht. Das autonome System steuert Funktionen, die zum Großteil unbewusst ablaufen, wie Herzfrequenz, Blutdruck und Verdauung. Um besser zu verstehen, wie emotionale Überfälle und Strategien, um zur Ruhe zu kommen, funktionieren, lassen Sie uns die Arbeitsweise des Nervensystems in Krisensituationen und in Ruhezeiten genauer betrachten. In Notfallsituationen bereitet ein Unterzweig des autonomen Nervensystems, das sympathische Nervensystem, den Körper des Kindes darauf vor, zu kämpfen, zu fliehen oder zu erstarren. In Situationen, die keinen Notfall darstellen, sorgt der andere Unterzweig, das parasympathische Nervensystem, dafür, dass der Körper verdauen und sich ausruhen kann. Diese beiden Zweige arbeiten zusammen, um die Kinder und Jugendlichen im Gleichgewicht zu halten. Ein emotionaler Überfall aktiviert das autonome Nervensystem. Auch achtsamkeitsbasierte Methoden, um zur Ruhe zu kommen, wirken auf das autonome Nervensystem. Diese Strategien wirken eher beruhigend, anstatt die Kampf-oder-Flucht-Reaktion zu verstärken.

      Die Reaktion des Körpers auf Stress ist komplex, aber als Faustregel lässt sich sagen, dass der ausgeglichene Ausgangszustand des autonomen Nervensystems meistens im Ausruhen und Verdauen besteht, wobei die Kampf-oder-Flucht-Reaktion leicht aktiviert ist, um Wachsamkeit und Vitalität zu gewährleisten. Dies mag viele Eltern überraschen, für die ein stressiger Alltag und der damit einhergehende Adrenalinschub einer Kampf-oder-Flucht-Reaktion Normalität ist. Die Funktionen des autonomen Nervensystems sind fast völlig unabhängig vom bewussten Denken; ein Aspekt jedoch, über den die Kinder und Jugendlichen etwas Kontrolle haben, ist die Atmung.

      Wenn das Kind ausatmet, sendet sein Gehirn ein Signal durch den Vagusnerv – ein langer, komplexer Schädelnerv, der vom Gehirn aus durch den Kopf und den Oberkörper führt und im Bauch endet –, um den Herzschlag zu verlangsamen. Wenn das Kind einatmet, wird dieses Signal schwächer und der Herzschlag beschleunigt sich. Einige Wissenschaftler nennen den Vagusnerv den wichtigsten Nerv im Körper, weil er Funktionen der Emotionsregulation, der Selbstberuhigung und des sozialen Engagements unterstützt.

      Bereits lange bevor Wissenschaftler diesen Zusammenhang erkannt haben, nutzten Meditierende und Yogis ihre Atmung dazu, ihr autonomes Nervensystem zu regulieren, indem sie ihre Aufmerksamkeit sanft auf die Einatmung konzentrierten, um Energie und Wachheit (in Vorbereitung auf Kampf oder Flucht) zu fördern, oder auf die Ausatmung, um Entspannung und Beruhigung (Erholung und Verdauung anregend) zu fördern. Dieser Zusammenhang ist auch kleinen Kindern in einem Achtsamkeitskurs aufgefallen. Nach einem kurzen Spiel zum achtsamen Atmen, das Annaka Harris anleitete (eine der Ersten, die Achtsamkeit und Meditation in Schulen unterrichtete), sagte ein achtjähriger Schüler der Toluca-Lake-Grundschule in Toluca Lake, Kalifornien: „Ich habe bemerkt, dass mein Herz schnell schlägt, wenn ich einatme, und langsam, wenn ich ausatme.“

      Das folgende Spiel, bei dem die Ausatmung betont wird, empfinden viele Kinder als beruhigend.

      Absichtsvoll atmen: Die kühlende Ausatmung

      Wenn wir uns auf eine lange Ausatmung konzentrieren, kann uns das helfen, uns zu entspannen und ruhig zu werden.

LEBENSKOMPETENZEN:Скачать книгу
Librs.Net