Schweiß, Schlamm und Endorphine. Iris Hadbawnik
ist zumindest eine Gegenbewegung zur immer noch überfetteten, degenerierten und bewegungsarmen Mehrheit in unseren westlichen Gesellschaften. Ja, es besteht Suchtgefahr, aber da dieser Begriff eher mit negativen Attributen versehen ist, würde ich es als einen Trieb nach Lebenslust, Lebensqualität und archaischer Kampfeslust bezeichnen.«
OCR MADE IN GERMANY
Dennoch dauerte es nach dem ersten Tough Guy einige Jahre, bis die Extrem-Hindernislauf-Welle von Großbritannien in die USA und schließlich nach Deutschland schwappte. Als ein PR-Event der Kultmarke Fisherman’s Friend fiel am 4. Februar 2007 um 12 Uhr der Startschuss zum ersten Fisherman’s Friend Strongman Run auf dem Truppenübungsplatz der Lützow-Kaserne in Münster. Bei der Premiere des 12 Kilometer langen und mit 22 Hindernissen gespickten Rennens waren bereits 1.915 Teilnehmer am Start. 1.596 davon kamen ins Ziel. Aufgrund des überwältigenden Teilnehmer-Feedbacks wurde sogleich eine Fortsetzung des Rennens im nachfolgenden Jahr beschlossen, deren Serie bis heute anhält. Seitdem gilt der Strongman Run als die Mutter aller Hindernisläufe in Deutschland. Bei der zweiten Auflage stieg die Zahl der Teilnehmer bereits um mehr als das Doppelte auf 5.325. Auch wenn die Startgebühr von ehemals 15 Euro bis heute auf mehr als 60 Euro auf vergleichbarer Strecke angestiegen ist, ist das Rennen noch immer der Extrem-Hindernislauf mit der weltweit höchsten Teilnehmerzahl – nämlich rund 13.000.
Weitere nationale und internationale Formate, die sich auf deutschem Boden dauerhaft etablieren konnten, folgten zwar erst 2010 mit dem Braveheart Battle, bei dem bei der Premiere am 13. März 2010 von 592 Startern 421 ins Ziel kamen, doch in der Folge schossen sie wie Pilze aus dem Boden. Die meisten Rennen feierten schnelle Erfolge und konnten die Teilnehmerzahlen innerhalb kürzester Zeit verdoppeln oder gar verdreifachen. Derzeit ist es fast unmöglich, einen Überblick über die Vielzahl der Läufe zu bewahren, die allein im deutschsprachigen Raum angeboten werden.
Extrem-Hindernisläufe trafen Ende der 2000er-Jahre haargenau den Zahn der Zeit. Betrachtet man sich die gesamte Laufentwicklung in Deutschland, macht sich ein interessanter Trend bemerkbar. Nach den Zahlen der Statistik Laufmarkt 2015 von Prof. Dr. Roland Döhrn waren es 2003 noch deutlich mehr Läufer, die bei einem Marathon ins Ziel kamen, als bei einem Halbmarathon. Heute ist die Finisher-Zahl der Halbmarathons mehr als doppelt so hoch wie die der Marathonläufer (im Jahr 2015: Marathon: 113.891; Halbmarathon: 244.772). Das liegt zum einen daran, dass Marathontraining zeitaufwendig und intensiv ist, und zum anderen, dass viele Läufer keine großen sportlichen Ambitionen mehr hegen, sondern beim Laufen einfach nur ihren Spaß haben wollen. Um einen Hindernislauf zu absolvieren, muss man kein Leistungssportler sein. Wenn es rein um das Finishen geht, ist es nicht nötig, wöchentlich 10 Stunden oder mehr zu trainieren. Für jeden, der regelmäßig Sport treibt, ist es durchaus im Bereich des Möglichen, eine Kurzstrecke (5 bis 8 Kilometer), gespickt mit Hindernissen, zu absolvieren. Dazu ist im Gegensatz zu einem Triathlon auch keine kostspielige Ausrüstung erforderlich. Man benötigt kein Fahrrad, keinen Neoprenanzug und keine teure Ausstattung. Gute Laufschuhe und Sportklamotten sind vollkommen ausreichend, um einen Hindernislauf zu bewältigen.
Dass es bei vielen Startern tatsächlich nur um den Spaß geht, zeigt sich am Beispiel des Tough Mudder, einem Obstacle Race, das von zwei Briten konzipiert und 2010 erstmals in den USA ausgetragen wurde. Das Prinzip dieses Laufes beruht darauf, dass, auch wenn Einzelstarter zugelassen sind, viele Hindernisse oftmals nur gemeinsam im Team bewältigt werden können. Es steht weniger die erreichte Zeit als vielmehr der Spaßgedanke im Vordergrund. Es gibt keinerlei Zeitnahme, kein Ranking und kein Preisgeld (ausgenommen beim World’s Toughest Mudder). Ohne Konkurrenzdruck entstehen Teamgeist und ein Wir-Gefühl. Lediglich das erfolgreiche Absolvieren der Strecke und der Stolz, dies als Team geschafft zu haben, sind die Belohnung für die Strapazen. Und der Erfolg gibt den Veranstaltern recht. Inzwischen werden rund 70 Events in den USA, Kanada, Großbritannien, Irland, Australien, Neuseeland und Deutschland ausgetragen. 2014 waren es nach Angaben des Veranstalters weltweit über eine halbe Million Menschen, die an Tough Mudder-Events teilgenommen haben.
MOTIVATION OCR: WAS TREIBT DICH AN?
Marcus Gilde (Jg. 1968) aus Hamburg, Flugzeugmechaniker
»Von 2004 bis 2015 nahm ich insgesamt zwölfmal am Tough Guy Race im Januar teil. Elf Mal erreichte ich dabei das Ziel. Lediglich 2010 fiel ich wegen einer Fußverletzung im Rennen aus. Dennoch darf ich mich Tough Guy Veteran nennen. Ein nicht ganz ernst zu nehmender Stolz bewegt mich … Warum es mich immer wieder zum Tough Guy zieht? Das Braveheart-Feeling, der Spirit der Tough Guy Family und das mit allen Sinnen einprägsame Erlebnis des Rennens, wie der Geruch der Erde und der Geschmack des dortigen Wassers, sind der Antrieb, mich unmittelbar nach dem Rennen für das nächste Jahr zu registrieren. Der Tough Guy ist unvergleichlich, nicht kopierbar und vor allem eines: nachhaltig für alle Sinne.«
Marcus (links) mit Jürgen Birner beim Tough Guy
Alle diese Faktoren könnten verantwortlich für die besonders rasanten Zuwachszahlen bei Extrem-Hindernisläufen sein. Sie entwickelten sich von der Randerscheinung in der Laufszene, die anfänglich eher der Teilnahme für Spezialisten zugeordnet wurde, zu einem wahren Massenphänomen und einer ganz neuen Richtung der deutschen Laufbewegung. Nach der Statistik von Prof. Dr. Döhrn betrug 2008 die Zahl der deutschen OCR-Finisher 4.069. Zwei Jahre später waren es bereits 10.277 und 2012 hatten mit 22.737 Läufern schon mehr als doppelt so viele einen Extrem-Hindernislauf erfolgreich absolviert. Im Jahr 2015 nahmen sagenhafte 54.422 Läufer erfolgreich an einem Extrem-Hindernislauf teil. Damit wuchs die Zahl im Vergleich zum Vorjahr erneut um 24 Prozent. Für die weiteren Jahre prognostizierte Döhrn »viel Luft nach oben«. Jedoch ist die Entwicklung auf dem OCR-Markt rasant und der Überblick fällt schwer. Da die oben genannten Zahlen nur die in der Datenbank erfassten Wettkämpfe und beispielsweise keine Läufe ohne Zeitnahme beinhalten (wie beispielsweise den Tough Mudder) – denn ohne offizielle Liste der Einzelergebnisse lassen sich keine Finisher-Zahlen feststellen –, ist die »Dunkelziffer« der tatsächlichen Extrem-Hindernisläufer in Deutschland weitaus höher.
Insbesondere jüngere Generationen fühlen sich weniger zu traditionellen Wettkämpfen und mehr zu OCR-Läufen hingezogen. Deutlich mehr als die Hälfte der Teilnehmer ist jünger als 35 Jahre alt. Auch die Zahl der Frauen an Extrem-Hindernisläufen hat sich von anfänglich 10 auf mittlerweile 25 Prozent gesteigert.
In anderen Ländern ist die Entwicklung der Teilnehmerzahlen noch gravierender. Wikipedia zufolge sollen 2011 bereits etwa eine Million Menschen an OCRs in den USA teilgenommen haben. Tendenz steigend. Wie populär die Hindernislauf-Szene geworden ist, zeigt auch, dass 2016 erstmals deutsche Meisterschaften, wie die German OCR League (Einzelstarter- und Team-Wertung), die GERMAN-OCR-Masters (Einzelstarter) oder der GERMAN-OCR-Cup (Teams), eine Europameisterschaft (OCR European Championship) und seit 2014 eine Weltmeisterschaft, die OCR World Championship, ausgetragen wurden.
Seit 2016 gibt es die German OCR League, die erste unabhängige Liga für Hindernisläufe in Deutschland. Diese Liga besteht aus 15 Lauf-Events, bei denen die Läufer Punkte sammeln können. Die Gesamtpunktzahl setzt sich am Ende aus den drei besten Einzelwerten zusammen. Der Gewinner kann dann den Titel German OCR League Champion tragen.
Eine weitere Rennserie ist die GERMAN-OCR-SERIES. Sie wurde nach eigener Aussage ins Leben gerufen, um dem Extrem-Hindernislauf auch in Deutschland künftig eine professionelle Plattform zu geben. Nach einer Pilotphase 2016 besteht die Serie im Jahr 2017 aus 6 Läufen. Dem Sieger winkt eine stolze Geldprämie von 500 Euro.
DIE FRAGE NACH DEM WARUM
Bleibt am Ende noch immer eine Frage offen: Warum spricht es so viele Menschen überhaupt an, über Hindernisse zu springen und sich ausgiebig im Matsch zu suhlen? Ist es die Flucht aus dem Alltag? Das Durchbrechen von Konventionen? Der Wunsch, die Mauern rund um die Komfortzone zu sprengen? Seit der Kindheit waren die meisten von uns ständigen Verboten ausgesetzt: Mach dich nicht dreckig! Spring nicht in die Pfützen! Werde nicht nass! Gehe nicht ohne Schirm in den Regen! Bleibe stets auf dem Gehweg … Diese Liste lässt sich beliebig lange fortsetzen. Dabei war es bereits für uns Kinder das Größte, sich diesen