Hochsensibel ist mehr als zartbesaitet. Sylvia Harke

Hochsensibel ist mehr als zartbesaitet - Sylvia Harke


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Kindheit anders und können nicht genau verstehen, was dieses „anders“ bedeutet. Jetzt wissen sie es. Beginnen Sie damit, Ihre Hochsensibilität als Gabe anzuerkennen und wertzuschätzen. Sollten Sie im Bereich der mystischen Erfahrungen viele Punkte mit „Ja“ beantwortet haben, werden Sie am Ende dieses Buches noch mehr darüber erfahren. Mystische Erlebnisse entstehen aus einer starken Verbundenheit mit dem Leben.

      Elaine Aron hat vier kardinale Eigenschaften definiert, die Hochsensibilität prägnant beschreiben. Lesen Sie sich diese vier grundlegenden Merkmale durch und überprüfen Sie, ob Sie diesen Schilderungen zustimmen können.

       1. Gründliche Informationsverarbeitung

      Dazu gehört das tiefsinnige Nachdenken über Ereignisse, die eigene Biografie, den Sinn des Lebens und die Beschäftigung mit Ethik und Werten. Hochsensible neigen dazu, über Alltagserlebnisse mehr als gewöhnlich nachzudenken. Bei Entscheidungen verstärkt sich das Bedürfnis, alles gründlich abzuwägen, was zu Entscheidungsschwierigkeiten führen kann. Hinzu kommt ein Hang zur Spiritualität und Religiosität oder das intensive Traumleben.

       2. Übererregung

      Durch Überreizung entsteht bei Hochsensiblen ein hohes Erregungsniveau im vegetativen Nervensystem, das zu Stressreaktionen führt, wie nassen Händen, erhöhtem Puls oder zum Beispiel die Angst, in der Öffentlichkeit zu sprechen. Chronische Übererregung kann zu Schlafstörungen, Konzentrationsproblemen und zu Erschöpfung führen. Veränderungen im Job, Wohnungswechsel, Heirat, Elternschaft usw. können ebenso zu einem erhöhten Stresserleben beitragen. Im Laufe ihrer Biografie lernen Hochsensible, Überreizung zu vermeiden, indem sie sich zurückziehen, um zu regenerieren, oder bestimmten Stressfaktoren aus dem Weg gehen.

       3. Emotionale Intensität

      Hochsensible reagieren auf Lebensereignisse mit intensiveren Emotionen als normal sensible Menschen. Dabei ist es egal, ob es sich um positive oder negative Gefühle handelt. Sie sind nah am Wasser gebaut und weinen schneller: aus Freude, Rührung, Sehnsucht, Enttäuschung und Trauer. Besonders soziale Gefühle, wie Scham, Schuld, Mitgefühl oder Angst vor dem Verlassenwerden, erleben sie besonders intensiv. Aufgrund ihrer Gefühlsintensität sind die meisten HSPs von allen möglichen Kunstarten fasziniert. Sie lieben die Musik, Malerei, Literatur, Tanz oder das Theater. Filme, Musik oder Bücher können einen starken Eindruck bei Hochsensiblen hinterlassen. Darüber hinaus lieben sie es, sich durch diese Kunstformen auszudrücken.

       4. Sensorische Empfindlichkeit

      Hochsensible nehmen alles sehr genau wahr und haben eine hohe Empfindungsfähigkeit. Sie hören, riechen, fühlen, schmecken und sehen sehr intensiv. Deshalb kann ihnen schnell etwas zu viel werden: etwa die Geräusche in einem Café, das Kratzen eines Schilds im Ausschnitt eines T-Shirts, Berührung oder grelles Licht. Bei der Einnahme von Medikamenten oder berauschenden Lebensmitteln (Tee, Kaffee) reagiert ein Hochsensibler empfindlicher oder irritierter auf Dosierungen, die für andere Menschen kein Problem darstellen. Deshalb sind sie prädestiniert, auf sanfte Heilverfahren positiv anzusprechen. Die sensorische Empfindlichkeit führt dazu, dass Hochsensible überdurchschnittlich unter Kontaktallergien leiden. Ebenso lässt sich festhalten, dass die Schmerzschwelle bei HSPs niedriger ist, was sich besonders auffällig beim Zahnarzt, bei Verletzungen oder in Geburtssituationen zeigt.

       Herzlichen Glückwunsch, Sie sind nicht verrückt, sondern hochsensibel!

      Der aktuelle Stand der Forschung geht davon aus, dass Hochsensibilität ein Temperament ist und keine Krankheit darstellt. Sie tritt unabhängig davon auf, ob jemand eine glückliche oder beschwerte Kindheit hatte. Deshalb werden Sie in einer Arztpraxis oder beim Psychologen „Hochsensibilität“ nicht als Diagnose erhalten. Seien Sie froh darüber. Diagnosen werden für Krankheiten und nicht für Persönlichkeitseigenschaften gegeben. Für therapeutische Gespräche ist die Einordnung in die Gruppe der Hochsensiblen jedoch sinnvoll, um die besonderen Herausforderungen zu verstehen, die sie in unserer Gesellschaft zu meistern haben. Da Hochsensible prozentual in der Minderheit sind, fühlen sich viele so, als würde mit ihnen etwas nicht stimmen. Häufig müssen sie sich wegen ihrer Vorlieben und Abneigungen vor anderen rechtfertigen und zweifeln an sich. Auf diese Weise kann sich ein negatives Selbstbild entwickeln. Die Fehldeutung der eigenen Veranlagung lässt sich leicht mit einem erfahrenen HSP-Coach oder Therapeuten auflösen. Jetzt können Sie Ihr Leben rückblickend neu bewerten. Legen Sie nun die Brille ab, die Ihnen gesagt hat, dass mit Ihnen etwas nicht in Ordnung sei, und setzen eine neue auf. Diese ist verständnisvoll und heißt: „Ich bin hochsensibel.“ Durch diese neue Brille werden einige Szenen aus Ihrer Biografie verständlicher.

       Lassen Sie sich nicht verrückt machen!

      Leider gibt es immer wieder Presseberichte und Wortmeldungen anderer Experten, die das gesamte Konzept der Hochsensibilität in Frage stellen und Parallelen zu verschiedenen Erkrankungen sehen. Im Laufe dieses Buches erfahren Sie weitere Details, wie Sie Hochsensibilität beispielsweise von Depressionen, Persönlichkeitsstörungen, ADHS oder Asperger-Autismus unterscheiden können. Vielfach wird alles in einen Topf geworfen. Hochsensiblen unterstellt man teilweise, sie würden nur eine Ausrede suchen, um sich besonders zu fühlen. Sie würden ihre narzisstischen Bedürfnisse nach Beachtung und Sonderbehandlung erfüllen. Doch das stimmt nicht. Menschen, die in bestimmten Situationen des Alltags anders fühlen und denken, die empfindsamer sind, um Rücksicht bitten oder den Status quo einer Gesellschaft (Familie, Firma) in Frage stellen, sind unbequem. Dadurch werden sie zu Außenseitern und zur Zielscheibe von Spott. Hochsensible, die in ihrer eigenen Familie kein Verständnis finden und immer nur platte Sprüche hören, dass doch alles gar nicht so schlimm sei, können die Überzeugung entwickeln, mit ihnen stimme etwas nicht. Hochsensibilität ist keine Krankheit, doch Hochsensible, die ihre Veranlagung nicht erkennen und gegen ihre Natur leben, laufen Gefahr, krank zu werden! Deshalb gibt es einen nicht unerheblichen Teil von HSPs, die in ihrem Leben eine Depression durchmachen, Burnout erleben oder eine Stresserkrankung entwickeln. Sie erkranken nicht an ihrer Hochsensibilität, sondern an einem leistungsorientierten, verständnislosen und empathiearmen Umfeld! Die weiterhin steigende Anzahl von psychischen Erkrankungen allgemein sollte uns nachdenklich darüber stimmen, was mit unserer Gesellschaft nicht stimmt. Warum explodieren die Krankheitstage wegen Burnout und Depression? Wieso quellen die psychosomatischen Kliniken über vor lauter Hilfesuchenden? Warum sind Psychotherapeuten ausgebucht? Viele Menschen brauchen Therapie, das hat mit Hochsensibilität allein nichts zu tun.

       Abwehrhaltung gegenüber Hochsensibilität von Männern und Frauen

      In Vorträgen und persönlichen Gesprächen werde ich immer wieder mit dieser Befürchtung konfrontiert. Ich verstehe Ihre Vorbehalte! Viele wehren sich dagegen, in eine Schublade gesteckt zu werden. Was verbirgt sich dahinter? Besonders Männer fühlen sich durch die Bezeichnung „hochsensibel“ stigmatisiert. Sie fürchten, als Weichei dazustehen, und möchten ungern in ihrer männlichen Rolle infrage gestellt werden. Dies hat mit unserer Gesellschaft zu tun, die für Männer ein starres Bild entwickelt hat, wie sie zu sein haben. Diese Strukturen weichen zwar gerade etwas auf, doch im Berufsalltag weht häufig noch ein rauer Wind, in dem Emotionalität und Sensibilität als Schwäche interpretiert werden. Sind Sie ein hochsensibler Mann? Dann gratuliere ich Ihnen von Herzen! Hochsensible Männer können in unserer Gesellschaft wertvolle Impulse einbringen. Wir brauchen mehr Männer mit emotionaler Intelligenz, mit kreativen Ideen und Empathie in Schlüsselpositionen. Je mehr Sie sich selbst über Ihre Veranlagung und über Ihre Stärken bewusst werden, umso leichter werden Sie im zweiten Schritt Wege finden, diese Talente zum Ausdruck zu bringen. Auch Frauen können Angst davor haben, hochsensibel zu sein, denn wir alle möchten am liebsten normal sein.

       Akzeptanz der Andersartigkeit als Schlüssel zur Selbsterkenntnis


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