Im Urlaub ist es nie langweilig. Ilona Focali

Im Urlaub ist es nie langweilig - Ilona Focali


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Sie fielen eben einfach so vom Himmel und schafften Momente, in denen einem „die Spucke wegblieb“, wie mein Vater als alter Berliner immer zu sagen pflegte. Situationen, in denen man aber auch eine Menge lernen konnte: gelassen durchzuatmen, Geduld zu üben (ein Lächeln war nicht immer angebracht), selbst nicht in eine emotionale Reaktion zu rutschen und dabei die Kunst zu entwickeln, seine Gedanken und Gefühle immer schneller auf „Harmonie und Frieden“ auszurichten – und in früheren Zeiten meinen Vater davon zu überzeugen, dass er das mal wieder falsch verstanden und Tante Vim auf Türkisch etwas ganz anderes gemeint hätte. Denn keiner von uns hatte Lust auf einen handfesten Streit der beiden gehabt.

      Am Gartentörchen der sehr hübschen Sommerresidenz von Tante Vim standen bereits die obligatorischen Plastiklatschen für Besucher bereit – für die Terrasse, die blitzsauber war. Für das Innere des Hauses warteten dann schon leichte Pantoffeln verschiedener Größen in Reih und Glied am Eingang.

      „Hab meine eigenen mit“, sagte ich, umarmte Tante Vim und zog meine Schühchen aus der Beuteltasche. Mein Mann ignorierte die Latschen und auch die Pantoffeln und lief barfuß. Tante Vim trug seine Straßenschuhe ins Haus und verstaute sie an dem dafür vorgesehenen und mit Papier ausgelegten Platz. Meine Schuhe standen bereits da. (Als Frau erinnert man sich an solche wichtigen Details über Jahrzehnte.)

      Der Redeschwall von Tante Vim hatte eingesetzt und war nicht mehr zu bremsen. Die Geschehnisse und besonders die Ärgernisse eines ganzen Jahres wollten sich mitteilen. So folgte sie meinem Mann, ihrem Bruder, treppauf, treppab, und als mit einem „Abla (Schwester), Moment mal!“ die Badezimmertür von innen geschlossen wurde, lief der Redeschwall draußen vor der Tür weiter.

      Das gab mir Zeit, unsere Sachen in unserem Zimmer zu verstauen.

      „Der Hund darf aber nicht aufs Bett“, kam nebenbei aus der Richtung des Badezimmers.

      „Nein, natürlich nicht“, gab ich zur Antwort – ich war ja froh, dass wir den Hund überhaupt mitbringen durften – und öffnete den Koffer, um unsere Schlafsachen herauszuholen.

      Wie vor dreißig Jahren hatte Tante Vim fein säuberlich unsere Schlafsachen auf den Kopfkissen bereitgelegt. Dass ich schon lange nicht mehr Größe XS trug und mein Mann mit seinem kleinen Bäuchlein die Knöpfe dieses alten Pyjama-Oberteils sprengen würde, ignorierte sie einfach. Ich verkniff mir zu sagen, dass die alte Frau jetzt auf gar keinen Fall mehr in das Babydoll in XS passen würde, und räumte die Sachen stillschweigend in den Schrank zurück zu all den anderen Kleidungsstücken aus alten Zeiten, wo sie bis zum nächsten Jahr liegen würden, um dann wie jetzt wieder für einen Augenblick die Dunkelheit des Schranks verlassen zu dürfen. Die Idee, die alten Stücke zu entsorgen, hatte ich längst aufgegeben, denn das würde heißen: „Wir kommen nicht mehr wieder hierher.“ Also blieb alles beim Alten.

      „Em‘ne, du musst noch das Laken aufziehen. Ist mir zu anstrengend.“

      Den Namen Em‘ne (richtig: Emine) hatte sie aus einer TV-Soap, in der ein Mädchen namens Emine – freundlich, tüchtig, hilfsbereit und mit der Fähigkeit, alles im Handumdrehen zu erledigen, was anstand – der Liebling aller Zuschauer war. Seitdem ruft sie mich so, was ja eigentlich auch sehr schmeichelhaft für mich ist.

      „Mach ich, kein Problem“, sagte ich, zog geschwind das Laken drüber und ersetzte das Monster von Kopfkissen durch mein kleines Kissen – auch wie jedes Jahr.

      Mein Mann hatte sowieso vielerorts seine Eierschachtelkissen oder Donauwellenkissen deponiert, auf die er schwor. Eierschachtelkissen wurden sie genannt, weil sie aussahen wie Eierbehälter mit ihren großen Noppen. Oder sie hatten zwei große Wellen, halt wie Donauwellen. Wie man auch nur annähernd auf solchen Undingern schlafen kann, wird mir ewig ein Rätsel bleiben. Dafür höre ich aber bei meinen zum Glück äußerst seltenen Nackenbeschwerden sofort den Vorwurf meines Mannes: „Kein Wunder bei deinen Sch…kopfkissen

      In solchen Momenten atme ich dann mal wieder tief durch und erinnere mich daran, dass Männer vom Mars und Frauen von der Venus kommen, wie ja jedermann inzwischen weiß.

      Mein Mann hatte das Bad verlassen und war, gefolgt von Abla (Tante Vim), wieder nach unten gegangen. Sie erzählte immer noch …

      Endlich duschen und mir etwas Bequemes anziehen, immerhin war es ja schon 22.30 Uhr und wir waren den ganzen Tag unterwegs gewesen.

      Sauber, erfrischt, entspannt und nicht nachtragend entstieg ich der Dusche, als mein Blick auf eine Waage fiel. Ich glaube, es gibt keine Frau, die der magischen Anziehungskraft solch eines Gerätes widerstehen kann – und wohl inzwischen auch keinen Mann, wie ich mir habe sagen lassen. Jedenfalls stellte ich mich drauf – nackt versteht sich – und war zutiefst schockiert.

      78 E – das war ja wohl nicht möglich!!!

      Also noch mal: 78 E!

      Was das „E“ zu bedeuten hatte, weiß ich bis heute nicht. Na ja, also mein Bauch war ja auch nicht mehr das, was er mal war. Nach den Wechseljahren bekam er eine Art Eigendynamik. Und es war auch klar, dass ich keine 54 Kilo mehr wog … Aber 78? Also doch alte Frau …

      Und dann noch E, wofür auch immer das stand. Die BH-Größe war damit sicherlich nicht gemeint, oder doch? A stand ja sozusagen für „vorne nichts“ und D für reichlich „Holz vor der Hüttn“. E war dann wohl die XXXL-Q-Potenz an Oberweite, oder was? Erstaunlich, was solche Waagen heutzutage alles schon registrieren konnten.

      Ziemlich geknickt und mit festen Vorsätzen verließ ich das Bad: vorerst überhaupt keine Süßigkeiten mehr, kein Eis, kein Essen nach 18 Uhr – das würde allerdings schwierig werden, da man in der Türkei erst spät am Abend gemütlich am Tisch sitzt. Kein Brot – das ging auch nicht. Ich esse zwar so gut wie kein Brot, aber das türkische Brot ist so wunderbar, dass es ganz klar war, dass ich diesen Vorsatz spätestens morgen früh brechen würde.

      Und intensiv Yoga! Hundertachtmal den Sonnengruß morgens anstatt dreimal.

      Und flott laufen! Bei fünfundvierzig Grad im Schatten? Na, was soll‘s, ich stand sowieso als Erste auf und der Hund würde auch raus müssen …

      78 E, nicht zu fassen!!!

      Bei der ersten Gelegenheit flüsterte ich meinem Mann ins Ohr: „Weißt du, wie viel ich wiege? Erschrick nicht, wenn du heute Nacht mit einem Walross das Bett teilst … 78 Kilo! … E!“

      „Wiege ich auch, habe vorhin auch auf der Waage gestanden. Dann werden wohl zwei Walrösser heute Nacht im Bett liegen. Wir müssen unbedingt abnehmen“, sagte er leise, unterhielt sich weiter angeregt mit seiner Schwester und schaute dabei auf einen Berg Weintrauben, Melone, Kirschen und Aprikosen, die Abla vor ihm aufgetischt hatte, nachdem er bereits Brot, Käse und auch Kuchen abgelehnt hatte.

      Aha, die Waage hatte sich also noch nicht wieder umgestellt, seitdem er sich draufgestellt hatte, war ja klar. Ich ging die Treppe wieder nach oben und stellte mich voller Erwartung noch einmal drauf. Das Kleid, das ich inzwischen angezogen hatte, wog sicher nur ein paar Gramm.

      78 E – oh, mein Gott!

      Aber als dann auch mein Hundchen mit 78 E ausgewiesen wurde und auch mein Schminkbeutel einen Inhalt von 78 E aufwies, war es ganz klar – diese Waage spinnt. Ich wusste zwar immer noch nicht, wie viel ich nun wirklich wog, aber eigentlich wollte ich das auch gar nicht mehr so genau wissen.

      Erleichtert und mit federnden Schritten – ich wog ja keine 78 E mehr – hüpfte ich die Treppe hinunter, um meinem Mann die neue Erkenntnis mitzuteilen, als Tante Vim bereits abwinkend meinte: „Ja, ja, die ist kaputt.“

      Wie sich später herausstellen sollte, war sie wahrscheinlich nicht kaputt, sondern nur die Batterien waren leer. Ich wusste gar nicht, dass es Waagen mit Batterien gab …

      Jedenfalls bestand ich darauf, dass die neuen Batterien erst am letzten Tag unseres Aufenthaltes gekauft und eingesetzt werden würden.

      Erschöpft, aber mit dem wohligen Gefühl, keine 78 Kilo zu wiegen, schlief ich ein. Daran konnte auch das monotone Klappern eines defekten Fensterladens am Nachbarhaus nichts ändern. Mein Mann hörte sowieso nichts mehr. Er war sofort eingeschlafen.


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