Als ich verlor, was ich niemals war. Matthias Dhammavaro Jordan
empfand ich auch bei dem Wort Liebe.
Ich dachte an Berlin und fühlte keine Freude in mir aufsteigen, wieder dorthin zurückzugehen. Ja, die Freunde, mein Geschäft, mein Bruder Reinhold, der mittlerweile bei mir wohnte. Die Stammkneipen, diese ewig langen Nächte, das Saufen und Kiffen, das Spielen, das oft unsinnige Gerede und die ganzen Pläne und Vorhaben, die immer wieder zum Besten gegeben wurden. Ich fühlte dieses ewige Einerlei, war freudlos, desinteressiert, gelangweilt und widerwillig bei dem Gedanken, mein Leben in Berlin wieder aufzunehmen. Ich war wirklich satt. Mein Freund Burkhard sagte manchmal: „Es steht mir bis zur Oberkante Unterlippe“, und das traf es irgendwie.
Eines hatte ich jedoch auf diesen Reisen erkannt und schätzen gelernt: Wie wenig man zum Leben wirklich brauchte. Da war mein Rucksack, gefüllt nur mit den notwendigen Dingen des Alltags. Und es reichte vollkommen aus. Mehr brauchte es nicht.
Ein leichtes Lächeln fühlte ich auf meinem Gesicht und meine Lippen sprachen das Wort Freiheit. Ja, das war es, was ich wollte – Freiheit.
Ich wusste zwar nicht genau, was das war, aber es hörte sich gut an.
Dann rief Anna meinen Namen und ich schlenderte langsam zum Restaurant, das nur wenige Meter vom Strand entfernt stand. Wir wollten zusammen zu Abend essen und trafen Andy und Art wieder, mit denen wir uns schon Wochen vorher angefreundet hatten.
Eine Reise beginnt immer mit dem ersten Schritt …
Und während wir uns das Essen schmecken ließen, erzählte Andy, dass er in ein paar Tagen in ein Kloster gehen wolle, er sei schon mal dort gewesen und man könne meditieren lernen. Am Ersten jeden Monats beginne dort ein sogenannter Retreat, zehn Tage dauere er und koste sehr wenig.
In mir stockte plötzlich alles, auch mein Mund kaute das Essen nicht mehr weiter und eine sichere Stimme in mir sagte: Da musst du hin!!!
Aber ich hatte doch nur noch wenige Tage mit Anna, egal, ich musste da hin. Da ich irgendwie nicht an Zufälle glaubte, dachte ich, dass diese Nachricht die direkte Antwort auf meine Lebensfragen war, die ich seit neuestem immer wieder in meinen Gedanken entdeckte.
Andy wollte schon ein paar Tage vorher dort sein und reiste am nächsten Tag ab. Er hinterließ mir aber noch die genaue Wegbeschreibung, um in das buddhistische Kloster Wat Suan Mokkh zu gelangen. Ich erzählte das Garun, einem Thailänder, der meinte nur, ja, ein guter Ort, er kenne ihn und auch der Name des Klosters sei sehr bedeutungsvoll und heiße Garten der Befreiung.
Ja, das war es doch, das Wort Freiheit klang immer noch in mir und steckte in diesem Namen, und eine leise Freude machte sich in mir breit und bestätigte mir so die Richtigkeit dieser Entscheidung. Für Anna war es scheinbar okay.
Ich versicherte ihr, dass ich sie dann noch zum Flughafen nach Bangkok begleiten würde; denn wenn ich zurückkäme, hätten wir ja immer noch ein paar Tage zusammen.
In drei Tagen wollte ich los, denn der Kurs beginnt immer am Ersten jeden Monats.
An diesem letzten Abend saßen Anna und ich zusammen am Meer und unterhielten uns über dies und das, über die letzten Wochen, Japan und was alles vielleicht noch kommen würde.
Wir waren gut drauf, wie so oft in leichter Oberflächlichkeit, wo Gesagtes schnell wieder verklungen war, niemand mehr darüber nachdachte und sich neue Worte zu Sätzen formulierten, die auch gleich wieder, kaum ausgesprochen, in der Unendlichkeit verklangen, ohne irgendwelche Abdrücke zu hinterlassen.
Ich freute mich auf morgen und fühlte eine leise Erregung in mir aufsteigen. Meinen Rucksack packte ich schon am gleichen Abend, denn ich musste sehr früh los, um die erste Fähre nehmen zu können.
In dieser Nacht hatte ich einen sehr intensiven Traum: Ich liege auf einem Bett, und eine Hand kommt von irgendwo her, sticht durch meine Brust, greift in mein Herz und reißt einen Teil des Herzens heraus. Es fühlt sich überhaupt nicht schmerzhaft an, sondern ich spüre plötzlich eine große Befreiung und Leichtigkeit, denn es wurde etwas Schweres, Dunkles, Belastendes von meinem Herzen genommen und im Hintergrund sagt eine Stimme klar, deutlich, laut und eindringlich zu mir: „Erneuere dich!“
Der Wecker riss mich aus diesem Traum. Ich zog mich an, verabschiedete mich schnell, aber liebevoll von Anna, nahm meinen Rucksack, erreichte die Fähre pünktlich, der Bus nach Chaiya wartete schon auf dem Festland, und irgendwann sagte der Busfahrer: Wat Suan Mokkh.
Wat Suan Mokkh – Garten der Befreiung
Eine neue Welt eröffnet sich …
In dem Bus waren noch andere Farangs, wie die Westler in Thailand genannt werden, die ebenfalls an dem Retreat teilnehmen wollten.
Als ich das Kloster betrat, bemerkte ich die großen Bäume und wilden Pflanzen, einige einfache Holzhütten, gefegte Wege, weiter oben standen einige Steinbänke vor einem schlichten Steinhaus. Hier wurden wir von Mönchen weitergeleitet in Richtung Küche, wo man sich für den Retreat registrieren lassen konnte.
Als wir ankamen, saßen dort schon einige Teilnehmer mit Tassen in der Hand im Freien auf Holzstühlen und unterhielten sich leise. Dann sah ich das erste Mal einen Westler in einer buddhistischen Robe. Es war Santikaro, ein Amerikaner, der schon zwei Jahre in Suan Mokkh lebte und als Übersetzer für Ajahn1 Buddhadasa, den Abt des Klosters, tätig war. Er leitete auch die Retreats.
Santikaro war sachlich-freundlich, lächelte kaum und wenn doch, dann nur sehr flüchtig.
Er gab uns weitere Infos über die Registrierung, wo wir wohnen und wann es heute Abend losgehen würde.
Wir wurden, nach Geschlechtern getrennt, in kleinen Holzhütten untergebracht, die als Schlafsäle dienten, mit jeweils sechs einfachen Betten und darüber zusammengeknoteten Moskitonetzen. Die Halle, die uns als Ort der Unterweisung dienen sollte, wurde früher von Pfadfindern genutzt. Sie stand mitten auf einer großen Wiese, umrandet von Wald mit großen Bäumen, zirka fünf Minuten Fußweg von unserer Unterkunft entfernt.
Kurz vor 20 Uhr ertönte eine laute, tiefe Glocke, die anzeigte, dass es an der Zeit war, uns in die Halle zu begeben.
Zwei thailändische Mönche wiesen uns unsere Plätze zu. Jeder bekam eine Matte und ein Sitzkissen. Die Männer saßen auf der rechten Seite und die Frauen auf der linken. Vor uns war eine erhöhte Bühne, worauf eine zirka ein Meter hohe Buddha-Figur stand und vor der sich Santikaro im Schneidersitz niedersetzte. Der Raum wurde von Petroleumlampen erhellt und vor dem Buddha brannten noch ein paar Kerzen.
Wir waren ungefähr dreißig Teilnehmer, alle waren still, nur die Geräusche des Dschungels waren zu hören, es fühlte sich sehr ruhig und friedlich an.
Dann ertönte ein kleiner Gong und Santikaro erzählte, wie die nächsten Tage ablaufen würden: Retreat bedeute Rückzug vom Alltäglichen. Es gehe darum, sich selbst zu erforschen, die Kräfte in sich kennenzulernen, es gehe darum, den Geist durch Meditation in einen ruhigen Zustand zu bringen, die Gedanken zu beobachten und auch die Gefühle. Und das alles natürlich im Schweigen.
Schweigen? Also nicht reden? Auch nicht beim Essen oder bei einem Spaziergang?
Nein, Schweigen heißt Schweigen! Er erklärte, dass es den Geist dabei unterstütze, zur Ruhe zu kommen, die Gedanken zu beruhigen, denn Reden sei ja, genau genommen, verbalisiertes Denken.
Zum Abschluss leitete er eine Meditation an, in der wir einfach nur hier sein, uns mit dem Atem verbinden und bemerken sollten, wie er einströmt und wieder ausströmt.
Das war der Anfang, und als der Gong ertönte, gingen wir schweigend zu unseren Hütten und legten uns in die Betten. Ich war sehr müde, ließ mein Moskitonetz herunter und schlief sofort ein.
Der nächste Tag begann um vier Uhr morgens, eingeläutet von der gleichen lauten, dunkel klingenden Glocke, die uns schon am Abend zuvor zur Meditation gerufen hatte.