Als ich verlor, was ich niemals war. Matthias Dhammavaro Jordan

Als ich verlor, was ich niemals war - Matthias Dhammavaro Jordan


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an dem Platz auf der Welt, an dem ich sein sollte – und ich war hier!

      Und ich fühlte eine Freude in mir aufsteigen, wie ich sie sehr selten gespürt hatte, wenn überhaupt schon mal. Ich fühlte mich, ja, so könnte man es sagen, irgendwie zuhause angekommen.

      Es war ein langer Tag, und als ich dann im Bett lag und das Moskitonetz heruntergelassen hatte, schlief ich sofort ein.

      Am nächsten Tag hatte ich Schmerzen in den Knien, hatte Schmerzen im Rücken, denn das lange Sitzen auf dem Boden war für die meisten von uns Westlern sehr ungewohnt. Aber es war noch einigermaßen erträglich, und die freundlichen und mitfühlenden Worte und Anleitungen, entweder von Santikaro oder Ajahn Ranschuan, halfen, einen anderen Blick auf diese Schmerzen zu werfen.

      „Meine lieben Freunde im Dhamma, auch das geht vorbei. Lasst euren Geist dadurch nicht aus der Ruhe bringen …“ Ja zum ersten Teil und nein zum zweiten.

      Ich ärgerte mich über den Schmerz, ärgerte mich über die langen Sitzzeiten, ärgerte mich über das Rascheln und Husten eines Nachbarn, ärgerte mich über … eigentlich alles an diesem Tag.

      Ja, ich kannte diesen Ärger, er brannte, und ich merkte, wie der Ärger mir seine Gedanken aufzwang. Wie ich versucht war, meinen hüstelnden Nachbarn zurechtzuweisen, wie ich die Meditationshalle verlassen wollte, weil der Gong zu spät ging, ärgerte mich über das frühe Aufstehen, über das Essen, das Wetter – über alles.

      Ich erschrak und fühlte mich hilflos, ich hätte laut aufschreien können, und es wurde immer stärker. Ich fing an, gedanklich die Mönche zu kritisieren, wie sie aussahen, was sie sagten, kritisierte andere Teilnehmer aufgrund meiner Ansichten, die ich über sie hatte – einfach alles.

      Aber ich blieb sitzen und spürte einfach nur den Ärger, denn so lautete der Rat von Santikaro: „Egal, was im Geist geschieht, beobachte das einfach nur.“ Und ich beobachtete – immer mehr.

      Ich dachte eigentlich bislang, ich sei ein freundlicher junger Mann – und jetzt das. Das sollte niemand mitbekommen, und ich hätte es am liebsten auch nicht mitbekommen. Aber es gab kein Entrinnen, keine Ablenkungen, kein TV, keinen Kühlschrank und nicht einmal ein zerstreuendes Schwätzchen, denn wir sollten ja schweigen. Niemand reagierte auf mich und ich reagierte nicht auf andere, nur gedanklich. Ich bekam keinerlei Rückmeldung über mich. Es fühlte sich plötzlich sehr einsam an und ich war, im wahrsten Sinne des Wortes, auf mich selbst zurückgeworfen.

      Ging es den anderen auch so? Erlebten sie das Gleiche wie ich? Und, wer war das, auf den ich hier zurückgeworfen wurde?

      Da waren meine vielen Gedanken, Gefühle, Geisteszustände und Meinungen, und es gab niemanden, dem ich das mitteilen konnte, niemanden, den ich daran Anteil haben lassen konnte, niemanden, der etwas dazu sagte, und es wurde immer deutlicher, wie schnell sich das alles in meinem Geiste abspulte und wie sich Gedanken und Gefühle die Klinke in die Hand gaben.

      Vipassana3-Romanze

      In der Meditationshalle saß ich etwa in der Mitte des Raums und konnte so mindestens die Hälfte der anderen Teilnehmer sehen.

      Vorne links saß dieser Franzose. Er kam nicht achtsam und leise in die Meditationshalle gelaufen, sondern polterte, laute Geräusche machend, herein. Er setzte sich nicht auf das Meditationskissen, sondern schmiss sich darauf und saß in einer Art und Weise, die mich an einen verkümmerten Baum erinnerte. Sein ganzes Verhalten ging mir auf den Wecker, und nur wenn ich ihn schon sah, stieg in mir heftiger Ärger hoch.

      Aber vorne rechts, bei den Frauen, saß dieser Engel, eine wunderschöne, blonde Schwedin. Sie lief nicht in die Meditationshalle, sondern schwebte eher herein, anmutig, schön, tadellos. Und auch wenn sie sich zur Meditation niedersetzte, wobei ‚setzen‘ für diese bezaubernde Bewegung schon viel zu irdisch formuliert ist, strahlte sie in einer anziehenden Schönheit, die nicht nur bestechend, sondern einfach nur umwerfend war.

      Ich hatte mich sofort verliebt, und Meditation, den langweiligen Atem beobachten und dieses Gehen, immer nur hin und her, erachtete ich bei der Größe meiner Empfindungen als absolut zweit-, wenn nicht drittrangig, wenn ich sie überhaupt noch irgendwie erachtete.

      Und nun war ich in einer fast neuen und doch bekannten Welt angekommen – der Welt der Sinnlichkeit, und sie schmeckte süß.

      Wer wollte mir jetzt noch etwas erzählen? Welcher Mönch konnte da noch mithalten? Und ich fantasierte die schönsten Vorstellungen und Unternehmungen, die ich nach dem Retreat mit dieser jungen Frau haben könnte.

      Der Atem kam und ging auch ohne mich, und ich war nun einige Stunden damit beschäftigt, mich mit diesem neuen ‚Verliebtsein‘ anzufreunden. Ich suchte mir einen Gehpfad in ihrer Nähe aus, schaute oft in ihre Richtung mit der sicheren Gewissheit, dass es ihr bestimmt auch so gehen würde. Es war schon der vierte Retreat-Tag, und ich müsste ihr doch schon längst aufgefallen sein.

      An diesem Abend war Santikaro an der Reihe, wieder eine Belehrung in Form eines Vortrages zu halten. Er begann allgemein über die Wirkungsweise des Geistes zu sprechen, über die wechselnden geistigen Inhalte, aber was viel interessanter war als das, was er anfangs erzählte, war: Mein Engel hatte heute Abend ein langes, weißes Kleid an, ihre blonden Haare lagen lang und sanft auf ihren Schultern und sie saß in einer bestechenden, edlen Haltung da, und meine Schwärmereien wollten nicht enden.

      Santikaro meinte dann, dass es bei Schweigeseminaren ein interessantes Phänomen gebe, allgemein bekannt als Vipassana-Romanze. Bei dem Wort Romanze wurde ich aus meinen Fantasien herausgerissen. Schaute er gerade in meine Richtung? Hatte er meine Gedanken gelesen und mich dabei ertappt? Ich fühlte mich ertappt!

      Er erklärte weiter, dass wir im Schweigen noch stärker mit unserem Bewertungssystem konfrontiert würden und alles, was wir sehen, ganz gewohnheitsmäßig in positiv und negativ, mögen oder nicht mögen einteilen würden, und wir sollten erkennen, wenn das passiert.

      Und es könnte schon mal vorkommen, dass man sich verlieben, also jemanden übersteigert aufwerten und gleichzeitig jemand anderen maßlos abwerten würde. Und er ergänzte, dass das ein Versuch des Geistes sei, eine gewisse Sicherheit in der gewohnten und bekannten Bewertungsstruktur zu finden.

      Ich war sprachlos, nicht nur, weil das ein Schweigekurs war, sondern weil mein schönes, buntes, verliebtes Kartenhaus, bei so viel nüchterner Erklärung, einfach in sich zusammenfiel. Ich fühlte mich ertappt, erwischt, entlarvt – und plötzlich wieder alleine und ernüchtert, so, als hätte mir jemand etwas Schönes weggenommen. Es war wie das Zerplatzen einer Seifenblase, in der sich alles Bunte und Schöne dieser Welt widergespiegelt hatte.

      Natürlich wusste ich tief drinnen, dass ich letztendlich diesen Impulsen nicht gefolgt wäre, denn ich war ja mit Anna zusammen, und doch hatten diese Gedankenspiele einen besonderen Reiz.

      Am nächsten Morgen gab es keinen ‚Engel‘ und keinen ‚blöden Franzosen‘ mehr.

      Ich fühlte mich entlarvt und bekam nun etwas Abstand zu meinen Fantasien – und musste plötzlich schmunzeln, ja schon fast laut loslachen.

      Ich war beeindruckt, auch über die Vorhersagbarkeit solcher Ereignisse. Ich wollte mehr über meinen Geist erfahren, über die Gedanken und Gefühle, ich wollte diese Weisheit haben, ich wollte Erkenntnisse und Wissen und natürlich die Erleuchtung, worüber ich schon einiges gelesen hatte.

      Die nächsten Tage verliefen im gleichen Rhythmus wie zuvor. Ich befolgte weiterhin die Anleitungen und lauschte interessiert den Vorträgen. Ich hatte jetzt ein Ziel, irgendwie.

      Nachmittags wurde eine Fragestunde eingerichtet, bei der man aber nur Fragen stellen sollte, die mit der Meditation zu tun hatten.

      Buddhismus ist dafür bekannt, dass an Wiedergeburt geglaubt wird. So ergab es sich, dass neben Fragen über den Sinn und Zweck der Meditation, Meditationserlebnisse und die Bitte um weitere Erklärungen viele Fragen über Karma und Wiedergeburt gestellt wurden.

      Ajahn Buddhadasa lehne es aber ab, so Santikaro, über die Art von Wiedergeburt zu sprechen, die angeblich nach dem Tod des Körpers stattfinden würde, sondern er erkläre Wiedergeburt auf eine


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