Als ich verlor, was ich niemals war. Matthias Dhammavaro Jordan

Als ich verlor, was ich niemals war - Matthias Dhammavaro Jordan


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der Meditation angeleitet. Nach vierzig Minuten ging wieder der Gong.

      Santikaro erklärte noch ein paar organisatorische Abläufe und dann hatten wir Zeit, die Waschräume und Toiletten aufzusuchen, im Wald herumzulaufen, den Ort langsam kennenzulernen, denn Frühstück gab es erst um sieben Uhr. Das bestand aus Reis, verschiedenen thailändischen Gemüsesorten und Früchten, kein Fleisch. Das Essen war vegetarisch und zu trinken gab es Sojamilch in allen Variationen.

      Wir nahmen unser Essen, serviert auf Blech- oder Plastiktellern, auf kleinen Holzstühlen sitzend im Freien ein. Es schmeckte richtig gut.

      Es war sehr seltsam, mit dreißig Menschen zusammenzusitzen und nicht zu reden. Nicht nur ungewohnt, fast schon peinlich fühlte es sich zuweilen an.

      Dann wieder die laute, dunkle Glocke, und um neun Uhr waren wieder alle in der Halle versammelt. Ich riskierte einen Blick auf die andere Seite der Halle, wo die Frauen saßen, und entdeckte sogleich einige, die recht attraktiv aussahen.

      Andy saß auch in der Halle, etwas weiter vorne.

      Santikaro nahm wieder vor dem Buddha Platz und hieß uns nochmals offiziell willkommen.

      Er wünschte uns eine fruchtvolle und erkenntnisreiche Zeit und meinte, wir sollten das Beste aus dieser Zeit herausholen, denn es gehe auch darum, neu auf das Leben zu schauen und es dadurch vielleicht auch neu zu bewerten.

      Was er da sagte, kam mir sehr entgegen. Sprach er nicht genau das an, was ich am Strand sitzend gefühlt hatte? Diese Sattheit und Unerfülltheit und auch die Ratlosigkeit, in welche Richtung ich gehen sollte?

      Ich fühlte mich sehr wohl mit dem, was ich da hörte, und es gab keinen besseren Platz auf der ganzen Welt, wo ich in diesem Moment lieber gewesen wäre.

      Dann leitete er wieder eine Meditation an und erklärte anschließend die Gehmeditation.

      Das heiße, einfach nur zu gehen und sich sehr bewusst darüber zu sein, wie sich der Fuß hebt, nach vorne bewegt und wieder senkt. Und wir müssten nirgendwo ankommen, außer immer nur in diesem Moment. Alles klar, kein Problem, mach ich!

      Dann lief ich hin und her, wie alle anderen auch, und dachte über alles Mögliche nach.

      Was macht Anna eigentlich gerade? Meine Freunde in Berlin, ja und Reinhold, mein jüngerer Bruder, Mama und Papa in Fulda, gut, dass ich immer mal eine Postkarte schrieb. Michael, mein älterer Bruder, und seine Frau Uschi. Hoffentlich kommen genug Aufträge im Frühjahr rein … upps … Also, habe ich gerade den rechten oder linken Fuß oben? Der Fuß geht hoch, bewegt sich durch den Raum und setzt vorne wieder auf. Das war Gehmeditation. Gehen, ohne anzukommen, und zu wissen, dass man das tut, das sei Achtsamkeit, erläuterte Santikaro später.

      Und die Aufmerksamkeit immer, so gut es halt geht, im Moment zu halten bei allem, was man gerade tut, sei ein Aspekt der Meditation.

      Vom Gehen habe ich kaum etwas mitbekommen. Ich bemerkte im Nachhinein nur, wie viele Gedanken ständig in meinem Geist kreisten, dass ich ständig an etwas dachte und das Gehen gar nicht mitkriegte.

      Dann wieder zurück in die Halle, schweigend, leise, achtsam sein, sich wieder in die Meditationshaltung begeben und ab jetzt die Aufmerksamkeit auf den Atem lenken, einatmen, ausatmen und spüren, wo ich den Atem gerade fühle.

      Und so wurden wir in das Meditationssystem von Anapanasati eingeführt, was heißt, die Ein- und Ausatmung achtsam wahrzunehmen.

      Mit diesen wechselnden Übungen verbrachten wir den ersten Tag, dazwischen eine Mittagspause, dann wurden Texte rezitiert, wieder meditiert, Abendessen, und am Abend gab es einen Vortrag.

      Santikaro war, wie ich anfangs schon erwähnte, ein Schüler von Ajahn Buddhadasa, dem achtzigjährigen Abt des Klosters.

      Er gründete dieses Kloster schon vor vielen Jahrzehnten, und später erfuhr ich, dass ich bei einem der bekanntesten und wohl auch einflussreichsten Meditationslehrer gelandet war, die es in Thailand gab. Er hatte den Buddhismus lange studiert und schließlich erkannt, dass der gelebte Buddhismus in Thailand stark vom Ursprünglichen abwich, und er wurde zu einer Art Reformator.

      Ajahn Buddhadasa meinte, dass nichts geglaubt werden solle, sondern man müsse etwas selbst erforschen und erleben, um dessen praktischen Nutzen zu erfahren.

      Er versuchte den Aberglauben abzuschaffen. Zum Beispiel opfern die Thais verschiedenen Hausgeistern kleine Speisen und glauben an alle möglichen Arten von Geistern, die überall seien und mit Opfergaben befriedet werden müssten. Sie sind davon überzeugt, dass Amulette eine beschützende und Glück bringende Kraft haben, und treffen keine wichtige Entscheidung, ohne zuvor irgendwelche Geister um Beistand gebeten zu haben.

      Ajahn Buddhadasa lehnte das alles ab, denn das habe mit Buddhismus nichts zu tun. Er brachte den ursprünglichen Buddhismus wieder zurück in sein Land. Mir war das sehr sympathisch und machte mich noch neugieriger und interessierter. Nicht glauben müssen – ja, das war es, was ich brauchte. Ich hatte genug davon, etwas glauben zu müssen, denn ich bin ja katholisch erzogen worden und hatte von der Aufforderung: „Du musst glauben und gehorchen!“ wirklich die Nase voll.

      Ajahn Buddhadasa hatten wir bis jetzt noch nicht zu Gesicht bekommen. Es war der amerikanische Mönch Santikaro, der Vorträge hielt, die Meditation leitete und uns praktische Hinweise gab.

      Ja, das Schweigen hatte es in sich. Da saßen wir Teilnehmer nun schweigend zusammen in der Meditationshalle, liefen schweigend zu den Mahlzeiten nebeneinander her und schwiegen uns beim Essen an – und ich fühlte mich irgendwie alleine. Allein mit meinen Gedanken, meinen Gefühlen, meinen Meinungen, und es schien, als würde es in mir immer lauter werden.

      Der Abendmeditation folgte dann ein Vortrag einer Thailänderin, die Ajahn Ranschuan hieß.

      Sie war zirka sechzig Jahre alt und sprach sehr gutes Englisch. Sie lebte in Suan Mokkh, war Professorin in Bangkok gewesen, was erklärte, warum sie so gut Englisch sprach, und sie hatte eine sehr gesammelte, ruhige und klare Ausstrahlung.

      Sie begann ihren Vortrag mit den Worten: „Meine lieben Freunde im Dhamma2.“

      Und dann erlebte ich etwas, was ich sehr selten zuvor erlebte hatte. Ich bildete mir ein, dass sie über mich sprach, mich beschrieb, und mich beschlich das Gefühl, sie könne in mich hineinschauen.

      „Mit unseren Gedanken sind wir immer woanders und denken meist an Vergangenes oder Zukünftiges. Unser Geist wird ständig von verschiedenen Kräften bewegt, die uns dazu bringen, Dinge zu tun oder nicht zu tun, die uns in die verschiedenen mentalen und emotionalen Zustände verleiten, so dass wir manchmal nicht wissen, was mit uns geschieht.“

      Dann sprach sie über Gier, Hass und Verblendung und meinte, dass diese Kräfte ständig in uns aktiv seien und wenn wir das nicht erkennen würden, es uns schlecht gehe.

      Ja, das konnte ich so unterschreiben.

      Dann meinte sie noch, dass wir diese Kräfte kennenlernen müssten, damit sie nicht die Macht über uns haben, und dass hier die Meditation ins Spiel komme, denn Meditation heiße ja auch, seinen Geist mit etwas zu verbinden, was jetzt stattfinde, wie der Atem.

      Als Nächstes sprach sie über Achtsamkeit. Es bedeute, sich, so gut es geht, darüber bewusst zu sein, was gerade geschieht. Also sich immer auf den gegenwärtigen Moment zu beziehen, um die Wirklichkeit so zu erfahren, wie sie tatsächlich ist, egal, was man gerade erlebte.

      Und so wurden wir immer wieder angehalten, bei der Sitzmeditation den Atem zu spüren, den Körper zu fühlen, beim Essen wirklich das Essen zu sehen und zu schmecken und beim Gehen uns der sich bewegenden Füße bewusst zu sein.

      Die Theorie dahinter war, dass Gedanken einen immer weniger in ihre Geschichte verstricken könnten, wenn man seine Aufmerksamkeit immer auf das lenkt, was gerade passiert und was man gerade tut, und so würde man auch seine Gedanken und Gefühle besser kennenlernen.

      In einem Nebensatz sagte sie dann noch: „Achtsamkeit ist der Schlüssel zur Weisheit.“

      Sie erläuterte das nicht weiter, aber in mir wurde


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