Als ich verlor, was ich niemals war. Matthias Dhammavaro Jordan

Als ich verlor, was ich niemals war - Matthias Dhammavaro Jordan


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freute sich darauf, nach Japan zu fliegen und eine neue Erfahrung zu machen, und ich freute mich darauf, mich mit der Meditation und der Lehre Buddhas eingehender zu beschäftigen, auch wenn das in den nächsten Monaten in Berlin sein würde statt in einem Kloster.

      Im Flughafengebäude fanden wir noch zwei freie Plätze in einem Restaurant, tranken noch eine Cola und aßen einen Hamburger. Dann brachte ich sie zum Check-in. Dort umarmten wir einander innig und verabschiedeten uns mit einem liebevollen Kuss und ich wünschte ihr alles Gute in Japan. Natürlich wollten wir in Kontakt bleiben, ab und zu mal schreiben, ab und zu mal telefonieren. Dann ging alles sehr schnell. Ihr Flug wurde aufgerufen, sie ging zum Check-in und weg war sie. Mutige Frau, dachte ich so bei mir, als ich den Flughafen verließ und mich ein Taxi zurück ins Hotel fuhr.

      Ich hatte noch drei Tage in Bangkok, bis auch mein Flieger nach Berlin zurückflog. Ich wandte mich wieder der Meditation zu. Auf der Dachterrasse des Hotels übte ich mich in Gehmeditation, ging tagsüber zur Schlangenfarm, machte ein paar Ausflüge, besuchte das Kloster Wat Po, kaufte mir ein Buch über Zen-Buddhismus, verbrachte ein paar Stunden den Spiegel lesend im Goethe-Institut und war alles in allem zufrieden mit dem, wie es gerade war.

      Im Goethe-Institut kam ich mit einem Deutschen ins Gespräch.

      Er hatte sich kürzlich mit einer Thailänderin vermählt und freute sich darauf, den Rest seines Lebens in diesem wunderbaren Land zu verbringen. Doch er hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht und nicht daran gedacht, mit seiner Frau, die mittlerweile von ihm schwanger war, zu besprechen, an welchem Ort sie zukünftig gemeinsam leben wollten. Wie sich dann herausstellte, war sie der festen Überzeugung gewesen, dass sie gemeinsam nach Deutschland gehen würden, um dort zu leben. Der junge Mann wirkte recht verzweifelt.

      Die Griechen prägten für diesen Zustand das Wort ‚Dilemma‘, und auf Thai heißt das: Glühn mai gao, gleih mai ork – was so viel bedeutet wie: ‚Man kann es nicht herunterschlucken, aber auch nicht ausspucken.‘

      Ich wünschte ihm trotzdem alles Gute und war froh, nicht in seiner Haut zu stecken.

      Das Flugzeug landete irgendwann mittags in Berlin, ich nahm Bus und S-Bahn und war wieder in Berlin-Moabit. Mein Bruder Reinhold, der mittlerweile bei mir wohnte, war gerade in Fulda und ich schlief erst mal für den Rest des Tages. Ich hatte noch keine Lust, irgendjemanden zu sehen. Ich kaufte ein paar Lebensmittel und verbrachte den Abend bei mir, mit mir, und es fühlte sich gut an. Ich spürte weiterhin diese innere Gesammeltheit und Gelassenheit, meditierte ein paar Stunden und genoss die Ruhe und Stille und das Schweigen, denn es war ja niemand da, und die Geräusche der Straße störten mich nicht.

      Am nächsten Tag traf ich dann meine Freunde und Bekannten wieder.

      Ich wohnte im zweiten Stock eines vierstöckigen Hauses und fast direkt unter mir machte eine neue Kneipe auf. Die Betreiber waren ehemalige Mitglieder der „Bewegung 2. Juni“, ein Ableger der RAF. Sie wurden durch die Lorenzentführung berühmt und berüchtigt, und nachdem sie ihre Haftstrafe abgesessen hatten, eröffneten einige von ihnen diese Kneipe, die sie bezeichnenderweise ‚Untergrund‘ nannten.

      Fritz Teufel saß immer mal morgens dort und frühstückte und ich lernte Gerald, der als Geschäftsführer fungierte, kennen und mögen. Er war einer der Köpfe der „Bewegung 2. Juni“ gewesen. Seine Frau hatte, glaube ich, sieben Jahre auf ihn gewartet, bis er wieder aus dem Gefängnis entlassen wurde. Wir trafen uns regelmäßig im ‚Untergrund‘, tranken Bier, aßen Pommes, spielten Karten und ließen die Zeit an uns vorüberziehen.

      Diesmal wusste ich schon, wann mein nächster Flieger zurück nach Bangkok gehen würde, und somit hatte ich ein klares Datum und genügend Zeit, um hoffentlich genug Geld zu verdienen. Wir schreiben das Jahr 1987, es ist Mai und ein paar Aufträge für Platten legen, Zäune bauen und Rasen anlegen kommen herein.

      Immer noch zehrte ich von diesen Tagen in Suan Mokkh, auch meditierte ich fast regelmäßig, aber der Alltag hatte mich wieder mit den gewohnten Freizeitbeschäftigungen, den Treffen mit meinen Freunden und Kneipenbesuchen eingefangen.

      Anna ruft an und erzählt, dass sie ein kleines Zimmer und auch einen Job gefunden habe. Sie arbeite in einem Club und verdiene dabei eine Menge Geld. Es gehe ihr gut, sie vermisse mich auch ein wenig, aber ansonsten habe sie ein paar Mädels aus England und Deutschland kennengelernt, mit denen sie ab und zu durch Tokio streife. Ich freute mich für sie. Mutige Frau, dachte ich mal wieder.

      In Suan Mokkh hatte ich mir ein paar Bücher in englischer Sprache gekauft und machte mich daran, mit den Lehren des Buddha vertraut zu werden, las, was Ajahn Buddhadasa lehrte, und versuchte auch im Alltag Achtsamkeit zu üben.

      An diesem Nachmittag musste ich am Geldautomaten warten, bis eine Frau vor mir fertig war, und als ich meine Karte reinsteckte, bemerkte ich, dass da noch zwanzig Mark im Schlitz steckten. Sie konnte noch nicht weit sein und tatsächlich nahm ich den Schein, lief hinter ihr her und sagte, dass sie etwas vergessen habe. Vor wenigen Monaten noch hätte ich mir allerdings überlegt, ob ich ihn nicht lieber selbst behalten sollte. Ich staunte über mich und ordnete diese Ehrlichkeit dem meditativen Prozess zu, der bereits Früchte zu tragen schien.

      An einem Abend ging ich mal wieder in den ‚Untergrund‘. Die meisten Stühle waren besetzt, an der Theke standen zwei Männer, die sich unterhielten, und ich verfolgte die Unterhaltung ein wenig. Ich weiß nicht mehr den Inhalt des Gesprächs, aber ich bemerkte an einem Punkt der Unterhaltung, dass der eine die Frage des anderen nicht verstanden hatte, aber trotzdem eine Antwort darauf gab. Dem anderen fiel das gar nicht auf und sie redeten weiter.

      Und dann hörte ich mal genauer hin, auch auf das, was ich so sagte.

      Ich erschrak darüber, wie wenig man sich gegenseitig zuhörte und wie emsig jeder darauf bedacht war, seine Geschichten loszuwerden.

      Da meine Achtsamkeit auch weiterhin alles erfasste, bemerkte ich, wie ich schneller atmete, nur um mit der nächsten Ausatmung auch meine Geschichten zum Besten geben zu können. Ich fühlte mich langsam davon gestresst, kaum einen Satz entspannt zu Ende sprechen zu können, und es begann mich zu nerven. Hörte überhaupt irgendjemand zu?

      Ich hatte keine Lust mehr, abends zu saufen, zu kiffen, in Kneipen zu sitzen und Karten zu spielen oder mit irgendwelchen Frauen zu schlafen. Es machte mir keine Freude mehr und fühlte sich so sinnentleert an.

      Während einer Meditation in Suan Mokkh hatte ich eine entsprechende Erkenntnis und sagte zu Santikaro: „Ich glaube, dass achtzig Prozent der menschlichen Kommunikation aus Missverständnissen besteht.“ Und er meinte nur: „Nein, neunundneunzig.“

      Da ich nicht jeden Tag arbeitete, begann ich Gedichte und Geschichten aufzuschreiben, hängte mir abends eine Leinwand an die Wand und malte abstrakte Bilder mit Titeln wie ‚Der Abstand zwischen zwei Punkten ist immer gleich‘ oder ‚Alle bedingt entstandenen Erscheinungen vergehen‘ oder ‚Offene Verbindungen‘.

      Es machte mir viel Freude, und ich hatte das erste Mal das Gefühl, Kunst zu machen. Ich entdeckte zwar den Gedanken in mir: Wie werden diese Bilder anderen gefallen? Aber auch hier hatte ich genug Achtsamkeit, die das Gieren nach Beifall und Anerkennung entlarvte und diese Gedanken sofort verwarf. Ich fühlte mich so frei und präsent wie noch nie zuvor in meinem Leben.

      Als ich gerade von einer Baustelle zurückkam, rechnete ich einige Posten im Lkw schnell durch, schaute auf die Straße, sah die Autos, sah die vorbeieilenden Menschen und fragte mich, wohin die denn alle gehen. Plötzlich kam der Gedanke: „Will ich das eigentlich mein ganzes Leben lang machen?“ „Nein!“, war die entschiedene Antwort aus irgendeiner Ecke meines Gehirns – oder kam es aus meinem Herzen?

      Ich will dich, Leser, nicht mit weiteren, belanglosen Geschichten langweilen, die sich sowieso immer nur wiederholten.

      Die Tage zogen ins Land, der Sommer kam und ging auch wieder und eine leise, aber stetige Ernüchterung und Übersättigung machte sich in mir breit.

      Mit meinem Bruder


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