Die Farben der Sonne. Brita Rose-Billert

Die Farben der Sonne - Brita Rose-Billert


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sie auf, die Zelte mit ihrem schwachen Lichtschein. Der Neuschnee des letzten Abends hatte sie eingehüllt und verbarg alle Spuren ringsum, so als hätte nie ein Lebewesen den Boden mit den Füßen berührt. Ich ging durch das Dorf und niemand bemerkte mich. Nicht einmal der Junge, der auf seinem Rappen lag und die Pferde bewachte, bemerkte mich. Er hatte sich in eine Büffelfelldecke gehüllt und sah auf. Aber er sah durch mich hindurch, wie es schien. Vor dem letzten Zelt blieb ich stehen und lauschte. Schließlich entschied ich mich, hineinzugehen. Eine alte Frau, die gegenüber des Einganges saß, sah mich an, nickte und winkte mich heran. Neben ihr lag eine junge Frau, die gerade ihr Kind geboren hatte. Die alte Frau durchtrennte die Nabelschnur und schnitt ein Stück davon ab, um es gut für das Kind aufzubewahren. Ich sah die Angst in den Augen der jungen Frau, als sie mich betrachtete und sie schmiegte ihr Kind sanft an sich.

      Wo ist dein Mann, fragte ich sie.

      Tot, antwortete sie kaum verständlich.

      Ich setzte mich zu ihr und betrachtete das Neugeborene. Dein Kind wird leben, sagte ich zu ihr.”

      „So ein Blödsinn! Wer glaubt schon solchen Scheiß?”, unterbrach Blue ihn wütend und leise fügte er hinzu: „Alter Spinner.”

      „Ein Märchen, mit dem du Kinder beeindrucken kannst”, bemerkte der andere Junge, der inzwischen den Apfel aufgegessen hatte und den Rest des Kerngehäuses mit einer schwungvollen Bewegung hinaus in den Regen feuerte.

      „Ihr seid keine Kinder”, stellte der Alte fest.

      „Nein. Wir sind Männer und das hier ist die Realität. Wer braucht schon Geschichten!”, antwortete Blue nicht gerade freundlich.

      „Gut. Wer lehrt euch?”

      „Pff!”, pfiff Blue mehr als genervt durch die Zähne.

      „Wo ist euer Zuhause? Wo wohnt ihr?”

      Blue drehte den Kopf zu dem alten Mann und kniff die Augen zusammen.

      „Die Straße gehört uns. Die Stadt gehört uns.”

      „Wo sind eure Eltern?”

      „Was geht dich das an?!”, herrschte Blue ihn an und sah dann wieder hinaus.

      Der andere Junge zuckte mit den Schultern und bequemte sich zu einer Antwort: „Zwei Querstraßen weiter wohne ich. Vater ist auf Montage. Er baut Brücken über den Missouri. Riesengroße Brücken. Mutter liegt im Wochenbett. Ich habe fünf kleine Geschwister. Sie warten auf mich. Vielleicht bringe ich ihnen etwas zu essen mit.”

      „Wie ist dein Name?”

      „Gabriel. Wie der Erzengel.” Der Junge grinste.

      Der Alte lächelte. „Du glaubst an Gott?”

      „Nein. Er liebt mich nicht und deshalb ist er mir scheißegal.”

      Der alte Mann schüttelte den Kopf.

      „Und was ist mit dir, Blue?”

      Blue lächelte spöttisch, als er antwortete: „Gott liebt mich. Er hat mir die ganze Stadt geschenkt. Chicago gehört mir. Ich habe alles, was ich zum Leben brauche.”

      „So? Und wie ist dein richtiger Name?”

      „Hab‘s vergessen.”

      Der Alte legte den Kopf etwas schräg, hob die Augenbrauen und schien ihn mit seinem Blick durchbohren zu wollen. Er wartete.

      „George Washington.”

      „Wer hat dich eigentlich Respekt gelehrt?”

      „Das Leben.”

      „Deinem Vater und deiner Mutter würde das Herz weh tun.”

      „Keine Sorge, alter Mann. Mutter ist tot und einen Vater gibt es nicht.”

      „Du redest nicht wie ein zwölfjähriger Junge.”

      „Stimmt. Ich bin als Mann zur Welt gekommen. Ich war nie zwölf.”

      „Moment mal. Woher willst du wissen, dass Blue zwölf ist?”, mischte sich Gabriel ein.

      „Ich habe geraten.”

      Gabriel grinste, als er sagte: „Der weiß es ja selbst nicht so genau.”

      „Weshalb seid ihr nicht in der Schule?”, fragte der Alte unbeirrt weiter.

      „Das ist unsere Schule. Hier lernst du alles, was du zum Leben brauchst”, klärte ihn Blue auf.

      „Was brauchst du denn zum Leben, Blue George Washington?”

      „Was zu essen, einen trockenen Schlafplatz und eine Wasserleitung.” Blue wies mit dem Kopf in Richtung Keller, wo einige alte Rohre zu sehen waren. „Da kommt wirklich gutes, kühles Wasser raus, auch wenn‘s nicht so aussieht.”

      Der Alte bemerkte wohl, dass der Junge bei diesen Worten verstohlen auf den Apfel schielte.

      „Er gehört dir. Hast du Hunger?”

      Blue antwortete nicht, drehte den Kopf zur Seite und starrte wieder in den nicht abreißenden, heftigen Regen.

      „Du besitzt nicht viel, Junge, aber eine ordentliche Portion Stolz hat dir dein Großvater mitgegeben.”

      „Woher willst du das wissen?”, fragte Blue, ohne den Kopf zu bewegen.

      „Vielleicht kenne ich ihn.”

      „Hm!”, bekam der Alte von ihm nur zur Antwort.

      „Bist du vielleicht sein Großvater?”, fragte Gabriel.

      Der Alte lächelte geheimnisvoll, nickte und sagte: „Sein Großvater, dein Großvater und der aller meiner Enkel.”

      Der Junge schien verwirrt über diese Antwort. Gabriel starrte den alten Mann mit großen Augen an. „Aber … du bist ein … ein Indianer.”

      Wieder nickte der Alte und lächelte nachsichtig. Blue verließ ohne ein Wort zu sagen seinen Platz und floh in den strömenden Regen hinaus. Binnen weniger Sekunden war er bis auf die Haut durchnässt. Er presste die Hände auf seine Ohren, um nichts mehr hören zu müssen. Der alte Mann erhob sich und kroch ebenfalls hinaus. Der Regen ließ nach und hörte schließlich ganz auf. Der alte Indianer trat zu Blue und sagte leise: „Großmutter wartet auf dich. Geh nach Hause.”

      Blue schrie so laut er konnte: „Ich bin kein Indianer! Verdammt noch mal! Lasst mich in Ruhe!”

      Als er sich umdrehte, stand sein Freund vor ihm.

      „Ist ja schon gut”, sprach Gabriel besänftigend auf ihn ein.

      „Haut ab!“, rief Blue wütend. „Lasst mir einfach meine Ruhe!“

      „Ich sag doch gar nichts!“, verteidigte sich Gabriel. „Und der Alte ist längst verschwunden! Wo ist der überhaupt so schnell hin?“

      Sie sahen sich beide suchend um, doch der alte Mann war wie vom Erdboden verschluckt.

       Kapitel 2

       Oben und unten

      Die Absätze der jungen Dame, die einen engen Rock und eine weiße Bluse trug, knallten auf dem Laminatboden, als sie mit schnellen Schritten von ihrem Schreibtisch zur Zimmertür eilte. Ihre rotblonden Locken wippten im Takt dazu. Sie hielt ein Schreiben in der Hand und atmete tief durch, bevor sie an die Bürotür ihres Bosses, Frank McKanzie, klopfte.

      „Was gibt es Mrs Hanson”, fragte der junge Mann im blau gestreiften Hemd und sah vom Computerbildschirm auf. Die Gläser seiner randlosen Brille funkelten. Er hatte sein Jackett über die Lehne des Bürostuhls gehängt und die Krawatte gelockert. McKanzies Zimmer in der Anwaltskanzlei, die in der Michigan Avenue in Downtown Chicago lag, war wesentlich großzügiger ausgestattet, als das Büro seiner Sekretärin. Es beherbergte unzählige Aktenordner, die wie Zinnsoldaten in Regalen standen, die vom Boden bis zur Zimmerdecke reichten. Eine große Fensterfront, hinter dem Schreibtisch des Vierunddreißigjährigen,


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