Die Farben der Sonne. Brita Rose-Billert
brutzelten.
„Die Fernbedienung liegt auf dem Couchtisch.”
Blue probierte alles aus, schaltete von Sender zu Sender und sog alles in sich hinein, wie es schien. Das letzte Mal hatte er ferngesehen, als er acht war, glaubte er. Dann war die alte Kiste kaputtgegangen. Geld für eine neue gab es nicht. Es reichte gerade für Miete, Strom, Wasser und manchmal auch für etwas zu essen. Als seine Mutter dann im letzten Jahr gestorben war, brachte man ihn, zusammen mit seiner kleinen Schwester Bonnie, in ein Heim. Sie war erst sechs. Als Blue von ihr Abschied nahm, hatte sie sich fest an ihn geklammert und geschluchzt. Er hatte die Freiheit der Straßen Chicagos gewählt und war aus dem Heim geflüchtet.
„Komm Blue! Das Essen ist fertig.”
Blue hörte Frank mit Tellern und Besteck klappern und stand auf. Er brachte es tatsächlich fertig, ein wenig zu lächeln, als er sich zu ihm an den Tisch setzte. Frank hatte es bemerkt und lächelte ebenfalls. Walter haute rein was das Zeug hielt, als befürchte er, jemand könne es ihm wegnehmen. Frank beobachtete ihn und grinste schließlich. Als der Junge sich den Teller ein zweites Mal voll packte, fragte er ihn: „Schmeckt‘s?”
„Hm. Dafür, dass du kein großartiger Koch bist, schmeckt es ganz gut.”
Frank lachte. „Danke.”
Walter sah ihn einen Augenblick verwundert an, zuckte mit den Schultern und aß weiter. Als er schließlich fertiggekaut hatte, trank er das große Glas Cola in einem Zug aus und rülpste laut, während er es abstellte. Dann wischte er sich mit dem Handrücken über den Mund. Frank kaute noch.
„Warum bist du abgehauen?”, fragte Blue unvermittelt.
Frank würgte den Brocken hinunter. Vor solch einer Frage hatte er sich immer gefürchtet.
„Verdammt”, sagte er so leise, dass er es selbst kaum verstand. „Ich bin nicht abgehauen. Sie hat mich vor die Tür gesetzt!” Frank bemühte sich um Selbstbeherrschung.
Blue sah seinem Vater fragend in die Augen und schwieg. Der konnte seinen Blick kaum ertragen. Er wich ihm aus und schüttelte energisch den Kopf.
„Das ist eine lange Geschichte”, sagte Frank schließlich und trank sein Bier aus. Frank McKanzie wollte offensichtlich nicht darüber sprechen. Er hatte diesen Teil seines Lebens lange hinter sich gelassen und abgehakt. Der Blick seines Sohnes auf ihm behagte ihm nicht und er spürte den Anflug eines schlechten Gewissens. Er wusste nichts von ihm und er hatte nie an ihn gedacht, nicht mal zu Weihnachten.
„Sieben Jahre”, sagte Blue. „Ich wette, du hättest jeden mitgenommen, den dir die Bullen eingefangen hätten und du hättest nicht mal gewusst, ob ich es bin oder ein anderer. Vielleicht wäre es dir sogar egal gewesen.”
Frank versuchte sich mit der Situation anzufreunden.
„Du siehst genauso aus wie sie. Sie war wunderschön. Du hast ihre schwarzen Augen und ihr widerspenstiges, schwarzes Haar.”
„Ha! Jetzt werd‘ bloß nicht sentimental, Frank. Dafür ist es zu spät.”
Frank schlug leicht mit den Handflächen auf die Tischplatte und stand auf.
„Okay. Ich zeige dir das Gästezimmer. Morgen früh bringe ich dich nach Pine Ridge zu deinen Großeltern. Ich habe das Sorgerecht an sie abgetreten. War schön dich kennengelernt zu haben.” Blue kniff die Augen zu kleinen Schlitzen und presste die Lippen aufeinander. Das werden wir ja noch sehen, dachte er.
Gegen Morgen wälzte sich der Junge im Bett hin und her und zerwühlte seine Decken. Zwischen Wachen und Schlafen lag er auf dem Bauch und hielt die Zipfel des Kissens krampfhaft fest, das er sich über seinen Kopf gezogen hatte. Er war schweißgebadet und wehrte sich gegen das Aufwachen. Noch nicht! In seinem Traum rannte er. Er wollte es nicht, aber er lief und lief. Er rannte und wusste nicht wohin. Hauptsache weg! Es wurde dunkel und kalt, als er ein paar Zelte vor sich auftauchen sah. Was soll denn das, dachte er noch.
Zwischen den Bäumen standen sie: große, spitze Zelte mit Büffelhäuten bespannt und verschieden bemalt. Die dicke Schneedecke schien unberührt, als hätte sie nie ein menschliches Wesen berührt und glitzerte im Licht des Vollmondes. Walters Atemluft verwandelte sich zu Rauch und verflüchtigte sich.
Schnee mitten im Juni, fragte er sich in Gedanken und zog eine Büffelfelldecke enger um sich herum. Aber er spürte die Kälte nicht.
„Ist hier jemand?”, rief Blue laut.
Niemand antwortete. Gedämpftes Licht drang durch die Zelte nach außen und umgeben von völliger Stille ging er langsam, fast zögernd weiter. Nicht einmal die dösenden Pferde beachteten ihn. Er fand sich vor dem Eingang eines Zeltes und sah sich um. Dann fasste er seinen ganzen Mut zusammen und ging hinein. Was er dort sah, brachte sein Herz zum Trommeln. Eine junge Frau schürte das Feuer und legte zwei Holzscheite hinein.
„Mutter?”
Blue war verwirrt. Er kämpfte jetzt nicht mehr mit Decke und Kopfkissen. Die junge Frau sah auf und lächelte. Blue spürte eine starke, schwere Hand auf seiner Schulter und blickte erschrocken zu dem Mann, der wie aus dem Nichts neben ihm aufgetaucht war. Der Alte lächelte ihn freundlich an. Blue erschrak noch mehr. Er konnte sich an diesen Mann genau erinnern, der vor zwei Wochen zu ihm ins Kellerloch gekrochen war. Doch heute trug er Ledersachen mit Fransen, wie er es einmal in einem Western im Fernsehen gesehen hatte. Nur diese waren viel schöner und sie waren kunstvoll bestickt. Der Alte lachte leise, als er die sprachlose Verwunderung im Gesicht des Jungen sah. Dann sprach er Worte zu der jungen Frau, die Walter Blue Light Shadow nicht verstand. Sie nickte daraufhin. Blue erinnerte sich an die Geschichte, die der alte Mann im Kellerloch, während des Gewitters, erzählt hatte und ein kribbelnder Schauer kroch an seinem Nacken hoch. „Dein Kind soll leben”, hatte er zu der jungen Frau gesagt. Er hörte es noch genau in seinen Ohren.
Es dauerte eine Weile, bevor er realisierte, dass er aufgewacht war. Es roch nach frisch gewaschener Wäsche und es war warm und trocken. Ein schwacher Lichtschein fiel zum Fenster herein. Blue tastete nach seinen Sachen, die er am Leibe trug. Ein kurzer Baumwollpyjama. Keine Büffelfelldecke. Dann griff er in seine Haare und zerzauste sie, mehr als sie ohnehin schon waren. Nein. Er hatte keine Zöpfe. Einen Augenblick lang hatte er an sich gezweifelt. Er schüttelte den Kopf.
„Hm. Verrückt.”
Wenn Frank McKanzie gedacht hätte, sein Sohn wäre zur Vernunft gekommen und würde freiwillig zu ihm in das Sportcabriolet steigen, so hatte er sich geirrt. Blues Gedanken waren auf Flucht programmiert. Er wollte hier weg und zwar so schnell wie möglich. Sobald sie in der Tiefgarage angekommen waren, ließ er sich hinter Frank zurückfallen. Der steuerte geradewegs auf seinen Wagen zu, spielte mit dem Schlüssel in der Hand und sagte nebenbei: „Interessierst du dich für Autos? In deinem Alter habe ich bereits von so einem geträumt. Ich konnte es kaum erwarten, endlich alt genug zu sein, um selbst fahren zu dürfen.” Frank lachte. Es antwortete ihm niemand, aber so ungewöhnlich schien das bei Walter nicht zu sein. Dennoch sah er sich nach ihm um, als er aufschloss.
„Walter!”, rief er.
Der Bengel war nirgendwo zu sehen.
„Walter!”, rief er noch einmal.
„Blue Light Shadow!”, versuchte er es, in der Hoffnung, der Junge würde auf diesen Namen reagieren.
„Scheiße!”, fluchte Frank schließlich wutentbrannt und knallte die Fahrertür wieder zu, als er schließlich erkennen musste, dass der Junge entwischt war.
Blue hörte die Stimme seines Vaters und rannte so schnell er konnte aus der Tiefgarage hinaus, ein Stück die Straße entlang und um die nächste Ecke. Keuchend schnappte er nach Luft, blieb kurz stehen und lehnte sich gegen die Hauswand. Als sich sein Atem etwas gemäßigt hatte, lief er weiter. Er kannte Straßen, Wege und Gassen, durch die Frank noch nie in seinem Leben gekommen war. Schmale Schluchten, durch die nicht einmal ein amerikanischer Kleinwagen passte. Hier, in seinem Revier, fühlte er sich sicher und so schlenderte er, die Hände in den Hosentaschen, über eine der zweiundfünfzig Hebebrücken des Chicago River, bis zu seinem Kellerloch. Eine