Die Farben der Sonne. Brita Rose-Billert
er von dort sein altes Revier sehen. Der Lake Short Drive führte direkt am Ufer des Michigan Lake nach Süden. Eine beliebte Touristenroute. Das gegenüberliegende Ufer des Sees war nicht zu sehen.
Heute war es fast windstill, sodass er friedlich wirkte. Aber Blue wusste nur zu gut, wozu der Wind fähig war. Dann peitschten die Wellen ziemlich hoch und man konnte fast vergessen, dass hier kein Meer, sondern nur ein See vor einem lag. Blue schielte zur Landseite, als sie am Big John, dem zweithöchsten Wolkenkratzer der Stadt, vorbeifuhren.
„Schlappe vierundneunzig Stockwerke”, sagte Frank, wie zu sich selbst. „Von da oben hat man einen phantastischen Ausblick auf die Stadt und den Michigan.”
Blue antwortete nicht und hoffte inständig, niemals hinauf zu müssen. Er hob die Hand als Sonnenschutz vor die Augen und sah, eine Handbreit daneben, den Old Water Tower in weiterer Entfernung auftauchen. Er grinste. Das Gebäude hatte wirklich Ähnlichkeit mit einer überdimensionalen Pfeffermühle. Dabei war es einst das Wasserlager der Feuerwehr gewesen und war heute eine zentrale Pumpstation der städtischen Wasserwerke. Mehrere Geschäfte und Restaurants mit Seeblick reihten sich entlang der Promenade aneinander. Wenig später bog Frank McKanzie zum Lake Point Tower am Navy Pear ein und steuerte direkt auf eines der Hochhäuser zu.
Oh mein Gott! Das ist nicht dein Ernst, dachte Blue noch, als das Sportcabriolet viel zu früh stoppte, um schließlich mit ihm in einer Tiefgarage zu verschwinden. Als er die Tür öffnen wollte, um auszusteigen, packte ihn eine starke Hand am Arm. Blitzschnell wandte er sich um und blickte in Frank McKanzies Augen.
„Denk nicht mal dran”, zischte sein Vater drohend.
Blue schwieg und wich Franks Blick aus. Wie ferngesteuert folgte er dem Mann, der sich sein Vater nannte, zum Aufzug. Er hasste diese Dinger, aber noch mehr hasste er es, zuzugeben, dass er Angst hatte dort einzusteigen. Er versteckte sich hinter einer Maske des Schweigens und wandte Frank den Rücken zu, damit dieser seine Angst nicht bemerkte. Himmel, muss er ausgerechnet eine Wohnung unter dem Dach dieses Wolkenkratzers haben, dachte Blue, während er sich im Hochgeschwindigkeitsaufzug fast schwerelos fühlte. Der Lift stoppte abrupt, noch ehe er zu Ende gedacht hatte.
Frank schob den Jungen voran in den Flur und öffnete seine Wohnungstür.
„Bitte”, sagte er mit einer Geste.
Blue trat hinein, blieb stehen und sah sich um.
So sieht also die obere Etage Chicagos aus, dachte er.
„Hey! Willst du Wurzeln schlagen? Fühl dich wie zu Hause!”
„Wohnst du allein hier?”
„Ja.”
„Und das gefällt dir?”
„So ist es.”
„Erwarte nicht von mir, dass ich Dad oder so was zu dir sage.”
„Okay.” Frank lachte. „Für dich also Frank.”
„Wer hat mir eigentlich den beschissenen Namen verpasst?”
„Walter?”
Blue nickte.
„Ich finde ihn gut.”
„Ich hasse ihn.”
Frank zuckte mit den Schultern. „Du hast eine ordentliche Dusche bitter nötig, Junge. Hier liegen neue Sachen für dich. Ich hoffe sie passen dir. Mrs Cooper hat sie eingekauft. Die Tür rechts neben dir geht zum Badezimmer.”
„Sag nicht Junge zu mir, verstanden!” Blue hasste diese Bezeichnungen. Er war erwachsen!
„Okay. Was dann?”
„Blue.”
„Du spinnst!”
„Sie nennen mich Blue Light Shadow.”
„Also doch.”
„Weißt du, dass du da unten umgebracht werden kannst, nur weil du Walter heißt?”
„Verstehe.” Frank lachte leise.
„Nichts verstehst du!”
Blue ließ die Badezimmertür hinter sich ins Schloss fallen. Er genoss das Wasser im Überfluss, welches prickelnd über seine nackte Haut perlte. Dann griff er nach dem Duschgel, auf dem ‚for man‘ stand. Mit dem Duschtuch um die Hüften schüttete er den Plastikbeutel aus, in dem sich die neue Kleidung befand.
„Wow!”, entfuhr es ihm. „Die Alte ist cooler, als ich dachte”, murmelte er vor sich hin, als er die nagelneue Jeans, das Shirt und die Unterwäsche untersuchte.
Blue zog alles an und er konnte nicht leugnen, dass er sich so wohl fühlte, wie schon lange nicht mehr. Für die nächste Zeit würde das reichen. Jetzt wurde es Zeit, abzuhauen. Frank war weder zu sehen noch zu hören und Blue drehte den Türknauf der Wohnungstür auf.
„Scheiße”, zischte er leise, als er bemerkte, dass die Tür abgeschlossen war.
Dann begann er die Fenster näher zu untersuchen. Nirgendwo fand er etwas, um sie zu öffnen. Die Nase an die Scheibe gedrückt, sah er hinaus und schlug schließlich wütend mit der flachen Hand gegen das dicke Fensterglas. Das erste Mal in seinem Leben sah er die Straßenschluchten der großen Stadt von oben. Die Strahlen der sich neigenden Abendsonne brachen sich auf den kleinen Wellen des Chicago River und schaukelten sanft auf dem türkisblauen Wasser des Michigansees, als wollten sie ihn necken. So verharrte Walter McKanzie, bis er irgendwann zusammenzuckte, als ihn Franks Stimme aus seinen Gedanken riss.
„Na. Keine Erfahrungen im Fassadenklettern?”
„Noch nicht. Aber ich bin lernfähig”, meinte Blue zynisch.
„Das freut mich. Ich meine, dass du dich als lernfähig einschätzt.”
„Bist du auch einer von denen, die Menschen für dumm halten, nur weil sie nicht in so feinen Anzügen rumlaufen wie du?”
Frank schien zu überlegen. Dann sagte er: „Darüber habe ich noch nie nachgedacht.”
„Hm”, machte Blue und wandte sich vom Fenster ab.
Frank stand in Jeans und schlabberigem Shirt vor ihm.
„Ich mach uns was zum Essen. Hast du Hunger?”
Blue schob die Daumen in die Gesäßtaschen der neuen Jeans und nickte.
„Du solltest vielleicht die Preisschilder von den Sachen abmachen”, lächelte Frank und wies mit einer Geste zu ihm. Blue sah suchend an sich herab und riss einen Zettel ab. Frank trat einen Schritt auf ihn zu und griff zum Halsausschnitt des Shirts. Blue verstand das als Angriff und ging reflexartig in Abwehrposition. „Schon gut, Blue Light Shadow.” Frank hielt inne. „Da hängt noch eins. Hinten.”
Blue angelte selbst danach und zog es ab, während Frank seine Hand wieder sinken ließ.
„Du lässt dir nicht gerne helfen”, stellte er fest.
„Da unten hilft dir niemand. Ich musste lernen, mir selbst zu helfen und das kann ich ganz gut.”
Frank nickte, sagte aber nichts darauf und wandte sich um. In der Küchenecke im großen Wohnraum kramte er scheppernd eine große Pfanne hervor und schob sie auf das Kochfeld.
„Ich habe uns Steaks gekauft und Backkartoffeln. Ich hoffe, du magst das. Ich bin kein großartiger Koch”, meinte er, während er die Kartoffeln aus der Tüte auf ein Blech schüttete.
Blue hatte Hunger. Weiß Gott, er hatte großen Hunger. Ihm war völlig egal, was der Mann namens Frank McKanzie da zusammenrührte. Hauptsache es gab etwas zu essen und es duftete so gut, dass ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Blue beschloss, zum Essen zu bleiben. Zum Flüchten war später noch Zeit. Sein Hunger war größer als sein Stolz es jemals sein konnte. Doch dann wollte er gehen. Er hatte nicht vor, sich von Frank oder irgendjemandem zu irgendwelchen Großeltern bringen zu lassen. Und schon gar nicht in ein Indianerreservat! Blue setzte sich in den großen Ledersessel und lehnte sich an.