Die Farben der Sonne. Brita Rose-Billert

Die Farben der Sonne - Brita Rose-Billert


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gleichzeitig, Walter McKanzie zu seinem Großvater zu bringen und ihn dort persönlich und wohlbehalten abzuliefern.”

      „Sie sind verrückt!”

      „Ich darf ja wohl bitten!”

      „Entschuldigen Sie. Aber warum kann ihn der Großvater nicht einfach selber abholen? Er war doch hier, denke ich.”

      „Er ist ein Reservatsindianer.”

      „Und?”

      „Er kann ihn nicht holen.” Mrs Cooper schnappte nach Luft.

      „Jetzt fragen Sie mich bloß nicht, warum!”, fegte sie ihn an, sodass selbst Frank McKanzie es nicht wagte, ihr zu widersprechen. „Also gut. Wo finde ich Walter?”

      Margret Cooper druckte das Schreiben aus und lächelte nun wieder, als sie antwortete: „In Chicago.”

      „Warum sagen Sie nicht gleich im Amazonas.”

      „Lassen Sie ihn sich bringen. Sie haben doch die nötigen Mittel dazu, Mr McKanzie. Die Polizei hat ihn schon ein paar Dutzend Mal eingefangen, aber nie ist er auf einem Polizeirevier angekommen. Er war so clever, ihnen immer wieder zu entwischen. Einigen Polizisten hat er einfach in die Finger gebissen, sodass sie ihn losließen. Ein paar hat er getreten und, weiß Gott, er wusste genau wohin.”

      „Das sind ja tolle Aussichten.” Frank schüttelte den Kopf. „Von mir hat er das nicht!”

      „Wissen Sie, wie sie ihn nennen? Blue Light Shadow.”

      „Blaulichtschatten?”

      Seit zwei Stunden saß Walter McKanzie, genannt Blue, im Polizeirevier im 23. District und wartete. Worauf? Man hatte ihn zur Sicherheit mit Handschellen an einem der Heizungsrohre gefesselt. Vergeblich hatte er versucht, seine Hand hindurch zu zwängen. Irgendwann hatte sich der Junge damit abgefunden. Das Handgelenk schmerzte. Seine Jeans war auf der Flucht an mehreren Stellen zerrissen. Sein Shirt stand vor Schmutz und Schweiß. Die nackten Füße steckten in offenen Turnschuhen. Die Wut ließ seine schwarzen Augen funkeln und seine zusammengepressten Lippen waren nach unten gezogen.

      Blue war wütend auf die Polizisten, die ihn aufgegriffen hatten und es gewagt hatten, ihm sein Messer wegzunehmen. Und er war wütend auf sich selbst, weil er es dieses Mal nicht geschafft hatte, ihnen zu entkommen. Sie sagten ihm nicht einmal warum sie ihn festhielten. Die Turnschuhe hatte er schon vor vier Wochen gestohlen. Das konnte es also nun wirklich nicht sein. Blue streckte den Hals, um einen Blick nach draußen zu erhaschen. Das türkisfarbene Sonnenschutzsegel vor dem Fenster ließ nur einen Blick an der Ampel vorbei auf die Straßenkreuzung und die gegenüberliegende Tankstelle zu. Er beobachtete die vorbeifahrenden Autos eine Weile.

      Die Zeit schien endlos. Der quälende Durst ließ Blues Zunge schließlich am Gaumen kleben. Zweimal hatte er einen der Männer ansprechen wollen, aber sein Stolz ließ seine Zunge da, wo sie klebte. Schließlich hockte er sich wieder neben die Heizung. Der Officer, der ihm gegenüber am Schreibtisch saß, hob hin und wieder den Kopf und nickte ihm lächelnd zu. Blue ignorierte das. Mit geneigtem Kopf beobachtete er stattdessen alles und jeden aufmerksam durch die langen Strähnen seines zerzausten Haares, das ihm über die Augen fiel. Seine Hoffnungen schienen zu schwinden. Was habt ihr mit mir vor verflucht, dachte er wütend Ich habe nichts verbrochen!

      Irgendwann kam eine ältere Lady durch die Tür, gefolgt von einem jüngeren Mann im Anzug. Beide steuerten geradewegs auf den Jungen zu. Blues ganze Aufmerksamkeit richtete sich auf die Ankömmlinge. Doch er bemühte sich um Gleichgültigkeit.

      „Ist er das?”, fragte der Mann.

      Walter blickte dem Fremden auf die Schuhe. Es waren keine Turnschuhe. Er mochte weder den Tonfall, in dem er seine Frage gestellt hatte, noch seine schwarzen Slipper.

      „Ja. Darf ich vorstellen: Das ist Walter McKanzie. Walter, das ist Frank McKanzie, dein Vater.”

      Blue zuckte innerlich zusammen. Als er aufspringen wollte, hinderte ihn die Heizung daran und das Handgelenk, um das er die Handschellen trug, schmerzte erneut unter dem Ruck, sodass er hätte aufjaulen können. Aber er biss die Zähne hart aufeinander. „Hi, Walter”, grüßte Frank, nur um überhaupt etwas zu sagen. Blue schwieg. Er sah ihn nicht einmal an.

      „Ich bin Margret Cooper vom Jugendamt. Dein Großvater, Mr Stone Horse, hat sich an mich gewandt. Willst du deinem Vater nicht Guten Tag sagen, Walter?”, fragte die ältere Dame freundlich.

      „Es gibt keinen Vater.”

      „Jeder Mensch hat einen Vater, Walter, und das hier ist deiner.” Der Junge begann den Kopf zu heben und blickte an dem fremden Mann hinauf. Er musterte den Anzug, das weiße Hemd, sein skeptisches Gesicht, mit dem kaum sichtbaren Brillengestell. Die kurzen, dunklen Haare glichen einer Frisur aus einem Modemagazin und glänzten übertrieben. Dann spürte Walter plötzlich den scharfen Blick des Fremden unangenehm auf seiner Haut, in der er sich nun nicht mehr wohl fühlte.

      „Und?”, fragte er schließlich.

      „Walter. Dein Vater und auch dein Großvater haben beschlossen, dass es besser für dich ist, wenn du zu Hause wohnst, die Schule besuchen und ein geregeltes Leben führst.”

      „Mein Leben ist geregelt!”

      „Das sehe ich”, meinte Frank McKanzie. „Ich bringe dich nach Hause.”

      „Woher willst du wissen, wo mein Zuhause ist?”, schnaufte Blue.

      Mrs Cooper hatte die Hände ineinander gefaltet, atmete tief durch und hüllte sich in Schweigen.

      „Hör zu, Walter. Dein Großvater will dir helfen. Er hat lange nach dir gesucht. Ich werde dich zu ihm bringen. Ich glaube, bei ihm bist du in den besten Händen.”

      Blue schluckte seine Wut schweigend hinunter. Bis gestern war sein Leben noch völlig in Ordnung gewesen und heute tauchten plötzlich, wie aus dem Nichts, ein Vater auf, der von einem Großvater faselte, den er nicht einmal kannte. Verflucht nochmal! Wer zum Teufel hatte ihn gefragt, ob er einen Großvater wollte, der es gut mit ihm meint und einen Vater, der sich nie um ihn gekümmert hatte.

      „Komm, Walter! Es ist besser so.”

      Und wahrscheinlich die einzige Möglichkeit, hier rauszukommen und diese verdammten Handschellen loszuwerden, dachte Walter und stimmte schließlich zu. Erstmal raus hier, dann konnte man weitersehen.

      „Okay. Gehen wir”, sagte Frank.

      Mrs Cooper schien ehrlich überrascht von Walters rascher Vernunftsanwandlung und nickte. Der Officer, der die ganze Zeit über am Schreibtisch gesessen hatte, stand auf und gab Walter McKanzie frei.

      „Passen Sie gut auf Ihren Sprössling auf!”, mahnte er und grinste Frank McKanzie hintergründig an.

      Blue ging mit seinem Vater aus dem Polizeirevier. Er blieb skeptisch, als sie das zweistöckige Backsteingebäude verließen und sich von Mrs Cooper verabschiedeten. Dann schob Frank seinen Sohn am Arm voran um die Ecke in die North Halsted Street, in der sein Wagen unter dem Schatten eines Baumes parkte. Vor dem Sportcabriolet blieb er stehen und Walter betrachtete es genau. Sein Erstaunen war Frank nicht verborgen geblieben. Er lächelte, als er Blue die Tür öffnete.

      „Steig ein”, sagte er, als er das Zögern des Jungen bemerkte. Blue zögerte, doch dann folgte er der Anweisung. Es konnte nicht schaden, einmal mit so einem Nobelschlitten durch die Straßen kutschiert zu werden. Zum Flüchten würde sich noch eine passende Gelegenheit finden. Walter ließ sich auf den Beifahrersitz gleiten und schlug die Tür zu.

      „Anschnallen!”

      Walter folgte dem Befehl seines Vaters ohne Widerworte. Dann spürte er den Fahrtwind um seine Ohren pfeifen, der mit seinem Haar sein Spielchen trieb. Walter genoss den Augenblick. Er lächelte sogar, ohne dass er es wollte. Schnell verschwanden das Polizeirevier, die Tankstelle, das Haus an der Kreuzung, aus seinem Blick.

      Blue sah nach vorn. Entlang der Straße parkten an beiden Seiten Autos. Er sah die alten Häuser und las die Wegweiser. Frank blinkte und bog nach


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