Sitting Bull, sein Leben und Vermächtnis. Ernie LaPointe
Überlieferung – und Ernie ist ein solcher Meister – ist ein wahrer Performance-Künstler, der die Zuhörer in seinen Bann zieht.
Mündliche Überlieferung unterscheidet sich auch vom Inhalt her von einer schriftlichen Standardbiographie. Die konventionelle Biographie stützt sich auf eine chronologische Entfaltung der wichtigsten Ereignisse im Leben ihres Protagonisten. Es wird ein hohes Maß an Anstrengung aufgewendet, um einen Überblick über das Leben des Individuums in seinem geschichtlichen Kontext zu einer Chronik zusammenzufassen. Ursache und Wirkung, Reiz und Reaktion werden zu Kriterien, nach denen die Hauptfigur eingeschätzt, erklärt und am Ende bewertet wird.
Bei der mündlichen Überlieferung ist die Absicht etwas anders. Chronologie ist nicht so wichtig, und es wird weniger Wert darauf gelegt, jede Einzelheit detailliert wiederzugeben. Statt-dessen rückt die episodische Erzählung in den Mittelpunkt, und jede dieser Episoden hat eine Pointe. In diesen intensiven, Wert beladenen Geschichten geht es um die Moral. Im Grunde genommen kann eine Standardbiographie ihren Lesern das Bild eines sorgfältig gewebten Wandteppichs vermitteln, wo jeder Faden straff und präzise platziert ist, um durch diese Genauigkeit in der Gesamtdarstellung ein sachliches Bild zu gewährleisten. Eine mündliche Geschichte hingegen ist mehr mit einem gut gearbeiteten Quilt vergleichbar, deren einzelne Flecken aus leuchtenden Farben zusammenarbeiten, um ein warmes, impressionistisches Muster zu schaffen.
Eine der Herausforderungen beim Schreiben dieses Buches war es, beide Formen zu verschmelzen, den Fluss gesprochener Überlieferung in die Struktur der schriftlichen Form einzubinden. Ernie bestand darauf, dass nichts in diesem Buch, das nicht absolut und unbedingt die Wahrheit ist, und zwar so wie er sie kennt und persönlich erlebt hat, mit einbezogen werden durfte.
Dies brachte das zweitwichtigste Problem bei der Erstellung dieser schriftlichen Erzählung hervor: Die Wahrheit, die Ernie in dieser Arbeit zu vermitteln versucht, ist eine Lakota Wahrheit.
Ernie ist wirklich ein zweisprachiger Mensch. Trotzdem gibt es Übersetzungsprobleme, die zwischen der Lakota Sprache und dem Englischen aufkommen. Es ist ein konzeptionelles Problem, eine Frage von sehr unterschiedlichen Weltanschauungen. Die Sicht der Lakota über unseren Platz als Menschen im Universum steht im krassen Gegensatz zu den Vorstellungen, wie sie in den Vereinigten Staaten gelebt werden. Diese Unterschiede sind grundlegend und prägen die Form der gesamten Kultur.
Das Verständnis der Natur unseres Seins und der Zweck unserer Existenz sind Werte, mit denen wir alle tief verwurzelt sind, und die uns vom ersten Aufblitzen unseres Bewusstsein an gelehrt wurden. Sie bilden die zentrale Basis für unsere Weltanschauung und wie wir mit anderen umgehen. Aber was sind ehrenwerte Ziele, und wie sollten wir Erfolg definieren?
In der Kultur der Vereinigten Staaten wird uns beigebracht, unsere unveräußerlichen Rechte auf „Leben, Freiheit und dem Streben nach Glück“ zu schätzen. Dieses sind jedoch kulturelle Wertvorstellungen, die zwar von entscheidender Bedeutung für unsere Gesellschaft sind, vielleicht aber eine weniger große Rolle in Bezug auf die Werte in anderen Kulturen spielen könnten.
Ich könnte zum Beispiel nicht aufzählen, wie oft ich gehört habe, dass Ernie Werte wie Ehre, Respekt, Demut und Mitgefühl hervorgehoben hat. Wenn Sie dieses Buch lesen, werden Sie diesen Kern-Werten immer wieder begegnen. Wenn Sie auch ein Angehöriger der Lakota Kultur sind, haben diese Werte wahrscheinlich ebenfalls eine grundlegende persönliche Bedeutung für Sie.
Wenn Sie wie in meinem Fall kein Lakota sind, dann wird Ihr Verständnis, so einfühlsam und gut gemeint es auch sein mag, durch die Wertvorstellungen der Kultur geprägt sein, die Ihnen Ihre Grundeinstellung über das Leben gelehrt hat. Es ist diese unausweichliche Tatsache der Existenz, die zu so vielen unserer interkulturellen Missverständnisse führt. Kommunikation über kulturelle Grenzen hinweg ist oft außergewöhnlich kompliziert.
In der Entstehungsphase dieses Werkes traf ich mich regelmäßig mit Ernie und seiner Frau Sonja und hatte mit ihnen Kontakt. Ich konnte beobachten, wie Ernies Vertrauen in seine Fähigkeiten, die Geschichte seines Urgroßvaters schriftlich wiederzugeben, Früchte trug. Dies ist das Produkt seines Geistes – oder noch wichtiger – das seines Herzens.
Es ist mir eine große Ehre und ein Privileg, an diesem Unternehmen beteiligt gewesen zu sein.
Pilamaya.
DR. LANI VAN ECK Professor für Anthropologie und Mitbegründer von Wounded Knee: Das Museum
Vorwort
Mein Name ist Ernie LaPointe. Mein Lakota Name ist Kangi Sie (Crowfoot). Ich bin eines von vier Urenkelkindern von Sitting Bull (Tatanka Iyotake). Ich schreibe dieses Buch über die Familiengeschichten – traditionelle mündliche Überlieferungen – die mir, meiner älteren Schwester Marlene Andersen sowie meiner Nichte und meinem Neffen von meiner Mutter, Angelique Spotted Horse-LaPointe erzählt wurden. Dieses Buch ist keine vollständige Biographie, weil ich nur die Geschichten wiedergebe, die mir meine Mutter über meinen Urgroßvater erzählte. Meine Nichte und mein Neffe haben bereits die Reise in die Geisterwelt gemacht, und meine Schwester Marlene hat mir die rechtliche Vollmacht gegeben, die Angelegenheiten, die unseren Urgroßvater betreffen, zu regeln. Wir sind die direkten Nachkommen von Sitting Bull.
Die Lakota glauben, dass die Zahl vier in allen Dingen heilig ist. Wir sind vier verschiedene Wege gegangen, um unsere Abstammungslinie zu Sitting Bull zu ermitteln, weil unsere Familienbande heilig sind. Zuerst führte uns unser Weg durch die mündlichen Überlieferungen, die in diesem Buch wiedergegeben wurden. Anschließend beschritten wir den zweiten Weg durch den „Pfad des Papiers“ – rechtliche Dokumente, Landzuweisungen, Einschreibungen in Stammeslisten, Geburtsurkunden und andere Stammesdokumente. Wir haben diese Informationen dazu benutzt, um einen gründlichen und gut dokumentierten Familienstammbaum zu erstellen. Der dritte führte durch unsere heiligen Zeremonien, als der Geist unseres Urgroßvaters uns während einer Rückführungszeremonie für seine Leggins und seine Haarlocke als seine Enkel anerkannte.
Der vierte Weg wird durch unsere DNA bestätigt werden; eine moderne Methode, um aus genetischen Codes Verwandtschaft zwischen Menschen aus der Vergangenheit und der Gegenwart festzustellen. Der DNA-Test wird derzeit von einem Spezialisten in Dänemark durchgeführt, der sich in erster Linie auf alte DNA konzentriert. Der Test ist kompliziert, weil die Haarsträhne vom Museum zur Konservierung chemisch behandelt wurde. Wir erwarten die Untersuchungsergebnisse bis Ende 2010. Es ist wichtig, dass die Abstammungslinie nachvollzogen und anerkannt wird, weil das den Wahrheitsgehalt unserer Geschichten über Tatanka Iyotake untermauern wird.
Es ist meine Absicht, alle Menschen über den wahren Sitting Bull aufzuklären. Der Versuch, die mündlichen Geschichten, die mir von meiner Mutter erzählt wurden, in eine schriftliche Biographie einzubinden, war problematisch, weil diese Geschichten über unseren Urgroßvater in Lakota wiedergegeben wurden, und es ist nicht leicht, diese Worte in die amerikanische Schriftsprache zu übersetzen. Ich schrieb dieses Buch in der dritten Person, auf die gleiche Weise, wie die mündliche Geschichte mir erzählt wurde. Ich benutze den Namen Tatanka Iyotake, wenn ich von meinem Urgroßvater spreche, denn das war sein Name: Büffelstier-Der-Im-Begriff Ist-Sich-Hinzusetzen. Ich glaube, der Name, den ihm die weißen Amerikaner gaben, bezeichnet nicht den wahren Tatanka Iyotake. Sitting Bull bedeutet nicht: Büffelstier-Der-Sich-Hinsetzt oder Sitzender Büffelstier.
Es wurden viele Geschichten über unseren Urgroßvater geschrieben und es sind Filme über ihn und sein Leben gedreht worden, aber die Ironie des Ganzen ist, dass keines dieser Werke besonders genau ist. Die erste Person, die etwas über unseren Urgroßvater schrieb, war ein Mann namens Walter Campbell, der das Pseudonym Stanley Vestal verwendete. Er kam in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren zur Standing Rock Indian Reservation, weil man damals wie auch heute davon ausging, dass alle Verwandten von Sitting Bull dort leben würden.
Doch das entspricht nicht ganz der Wahrheit. Er interviewte die Verräter und Mörder unseres Urgroßvaters: Sitting Bulls Neffe One Bull und One Bulls Tochter Cecilia nebst Bull Head und Eugene Little Soldier – nicht zu verwechseln mit Sitting Bulls Stiefsohn Henry Little Soldier – waren die wichtigsten Informationsquellen. Es scheint, dass Cecilia diejenige war, die behauptete, ihr Vater sei Sitting Bulls Adoptivsohn gewesen. Tatanka Iyotake aber hat One Bull niemals adoptiert,