Böser Zauber. Ulrich Wißmann

Böser Zauber - Ulrich Wißmann


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Vertrautheit eine Art stillschweigendes Abkommen zu geben. Begay hoffte, dass es zumindest für Daniel und für die sie umgebende Familie so das Beste war.

      Das Telefon läutete.

      „Hallo Frank, hier Blackhat“, hörte er vom anderen Ende der Leitung.

      Begay hatte sofort ein ungutes Gefühl. Wenn Captain Blackhat, sein Vorgesetzter bei der Navaho Nation Tribal Police ihn am Samstag zu Hause anrief, bedeutete das nichts Gutes für sein freies Wochenende.

      „Es tut mir leid, dass ich Sie heute stören muss“, sagte Blackhat dann auch, „ aber wir haben einen mehrfachen Mord.“

      Begay erschrak. „Was, hier auf der Reservation?“, fragte er.

      „Ja, in der Gegend am Big Mountain“, antwortete Blackhat.

      „Dann ist das doch im Hopi-Gebiet, oder?“

      „Ja, aber es handelt sich um eine Navaho-Familie. Die Hopi-Polizei will nichts damit zu tun haben!“

      „Und es sind mehrere Tote?“

      „Ja, offenbar die gesamte Familie“, meinte Blackhat. „Ein Hirte hat sie entdeckt, als er seine Schafe dort vorbeitrieb und der Familie einen Besuch abstatten wollte.“

      Begay verschlug es für kurze Zeit die Sprache. So etwas hatte er auf der Big Res noch nie erlebt.

      „Deshalb brauche ich Sie sofort, Frank! Ist das möglich?“

      „Natürlich“, antwortete Begay.

      „Sie wissen ja“, fuhr Blackhat fort, „dass ich das FBI informieren muss.“

      Begay wusste das. Die Indianerreservationen hatten zwar den Status von halbautonomen Gebieten mit eigener Rechtsprechung und Polizei, aber bei Kapitalverbrechen schalteten sich automatisch die Bundesbehörden ein.

      „Und wenn erstmal ein Tross FBI-Beamter und die sogenannte Spurensuche am Tatort war, gibt es dort nicht mehr viele Spuren zu entdecken“, führte Blackhat weiter aus. Begay verstand das Problem. Der Captain wollte von ihm, dass er vor dem FBI am Ort des Verbrechens war.

      „Können Sie die Nachricht noch zurückhalten?“, fragte Begay.

      „Wenn das FBI aus Flagstaff kommt, sind sie wahrscheinlich noch vor mir am Tatort!“

      „Ich habe schon mit Agent Caldwalder aus Flagstaff gesprochen“, antwortete Blackhat. „Er kommt mit Ihnen allein zum Tatort und bestellt den FBI-Trupp erst von unterwegs, so dass Sie zumindest eine Stunde vorher da sind und sich umsehen können, okay?“

      „Das müsste reichen“, meinte Begay.

      Blackhat gab ihm eine genaue Wegbeschreibung durch, wie er zum Ort des Mordes kommen konnte und sie verabschiedeten sich.

      Begay schrieb einen Zettel für seine Frau und seinen Sohn, dass er unvorhergesehen zum Dienst gerufen worden war und machte sich auf den Weg zum Gebiet am Big Mountain.

       III

      Als Begay am Tatort eintraf, war der Agent schon da. Caldwalder hatte aus Flagstaff einen weiteren Weg gehabt als Begay von seinem Haus bei Chinle, wenn er auch von dort aus die bessere Straßenanbindung gehabt hatte. Aber der Weg hierher war für einen Ortsunkundigen nicht leicht zu finden. Die einzige Möglichkeit, hierher zu kommen, bestand darin, circa vierzig Meilen weit die Bundesstraße 160 in Richtung Kayenta zu fahren, dann auf eine „Gravel Road“ abzubiegen und schließlich eine Staubpiste zu nehmen, die oft kaum auszumachen war oder durch „Arroyos“ oder „Dry Washs“, also ausgetrocknete Bachbetten führte, die man schwer und nur zu bestimmten Jahreszeiten befahren konnte. Zum Glück lagen sie jetzt im Spätsommer tatsächlich trocken, sonst hätte man die letzten zehn Meilen zu Fuß zurücklegen müssen, wenn man für den Rest der Strecke kein Reittier mitführte. Agent Caldwalder fuhr einen Geländewagen und hatte offensichtlich auch keine Probleme bei der Orientierung gehabt. Er stand neben seinem Auto und wartete offenbar schon auf Begay. Caldwalder war mittelgroß und wirkte relativ durchtrainiert, obwohl er auch nicht mehr der Jüngste war. Begay schätzte ihn auf fünfzig, also wären sie etwa gleich alt. Er hatte dunkelblondes, an manchen Stellen ergrautes und nicht mehr ganz dichtes Haar und machte mit seinem einnehmenden Lächeln einen sympathischen Eindruck auf Begay.

      Offenbar machte der Navaho, der Caldwalder entgegentrat und ungefähr gleich groß war wie der Agent, mit seinem halblangen Haar, dem indianischen Gesichtsschnitt und dem etwas untersetzten, kräftigen Körperbau ebenfalls einen positiven Eindruck auf ihn.

      Er streckte ihm die Hand hin. „Hallo! Ich bin Agent Jackson Caldwalder vom FBI. Meine Freunde nennen mich Jack!“, sagte er verbindlich.

      „Frank Begay, Navaho Nation Tribal Police.“ Unter Indianern hätte er sich an dieser Stelle mit der Nennung seiner Eltern und seiner Clanzugehörigkeit vorgestellt, aber er wusste, dass unter Weißen etwas anderes Vorrang hatte. Er gab dem Agent die Hand.

      „Darf ich Sie Frank nennen, oder muss es ‚Häuptling‘ sein?“, fragte Caldwalder in Anspielung auf die Unsitte vieler Anglo-Amerikaner, die Ureinwohner anzusprechen und lachte.

      „Frank wäre mir lieber. Wir Navaho haben überhaupt keine Häuptlinge“, antwortete Begay.

      „Ach so“, meinte Caldwalder und klopfte Begay auf die Schulter. Nachdem sie sich vorgestellt hatten, gingen sie zusammen zum Haus der Ermordeten.

      Margret und Bernhard Tsosie und ihre Kinder hatten, wie auch immer, ein Mobil Home als Behausung hierher transportiert. In circa zwanzig Metern Abstand davon stand aber auch der traditionelle Hogan der Dineh, eine Erdhütte, die, auf einem achteckigen Gerüst aus Kiefernstämmen aufbauend und mit Lehm bedeckt, eine kuppelförmige Wohnung ergab.

      Die Tür des Mobil Homes war offensichtlich aufgebrochen worden und klappte im lauen Wind gespenstisch auf und zu. Caldwalder und Begay zogen ihre Waffen und während Caldwalder sicherte, trat Begay schnell ins Innere des Hauses. Ihm gefror das Blut in den Adern. Vor ihm, in der Tür, die vom Eingangsbereich in das nächste Zimmer führte, sah er das Bein eines Toten, wahrscheinlich eines Jugendlichen, in Jeans und Turnschuhen. Er stieß die Tür zu dem Raum auf und sah auf die blutüberströmte Leiche eines vielleicht zwölfjährigen Jungen herab. Caldwalder war ihm gefolgt und zusammen betraten sie den nächsten Raum. Auch hier lag, in einer großen Lache getrockneten Blutes, ein Jugendlicher, vielleicht ein oder zwei Jahre älter als der andere Tote. Wie dieser war er offensichtlich von mehreren Geschossen getroffen worden. Er hatte noch versucht, wegzukriechen, da eine braunrote Spur quer durch das Zimmer bis zu dem Platz führte, wo er gestorben war. Begay würgte und hielt sich die Hand vor den Mund, worauf Caldwalder, der vielleicht wusste, was der Kontakt mit Toten für einen Navaho bedeutete, ihm eine Hand auf die Schulter legte. Sie steckten ihre Waffen weg und sahen sich im Haus um. Auch in der Küche war überall Blut. Wahrscheinlich hatte der jüngere der beiden Brüder, nachdem er angeschossen worden war, noch durch den Eingangsbereich bis zum Zimmer seines Bruders kommen können, um ihn zu warnen. Nachdem sie alles gesehen hatten, gingen Caldwalder und Begay vom Mobil Home zum Hogan der Familie, jetzt wieder mit erhobenen Waffen, und traten durch die offenstehende Brettertür in den tief liegenden Eingang der Hütte. Ein Bild des Grauens erwartete sie auch hier. Margret Tsosie lag an der Rückwand des Hogans mit einem großen, roten Loch an der Stelle, wo einmal ihr linkes Auge gewesen war. Von der Wunde ausgehend war ihr ein Schwall Blut über Gesicht und Oberkörper gelaufen.

      Ihr Mann lag in seinem Blut in der Mitte des Raumes. In der Hand hielt er noch ein altes Jagdgewehr. Er hatte offensichtlich versucht, seine Familie zu beschützen, hatte aber wohl keine Chance gegen die Angreifer gehabt. Begay und Caldwalder ließen abermals ihre Waffen sinken und warfen sich einen vielsagenden Blick zu. Nachdem sie sich eine Weile im Hogan umgesehen hatten, ging Begay mit gesenktem Kopf wieder hinaus und begann, die Umgebung zu untersuchen.

      Die Pferde der Tsosies standen in einer Koppel. Begay überprüfte, ob sie genügend zu fressen und Wasser hatten, und sah sich, nachdem er beides bestätigt gefunden hatte, weiter um. Die Schafe und Ziegen der Familie, von denen er Spuren gefunden hatte, liefen offenbar frei herum, so dass man sich um sie auch keine


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