Böser Zauber. Ulrich Wißmann

Böser Zauber - Ulrich Wißmann


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lebten noch bei den Eltern. Edward ist sechzehn und geht auf ein Internat bei Flagstaff. Jenny Mead vom Bezirk Kayenta wusste das. Die haben früher das Big Mountain-Gebiet mitverwaltet.“ „Aha“, machte Begay und versuchte, schnell hinunterzuschlucken, „dann war Edward wohl gerade zu Besuch. Irgendeine Ahnung, wer der andere junge Mann sein könnte?“

      „Nein, überhaupt nicht“, antwortete Blackhat.

      Sie beendeten das Telefongespräch und Begay blieb nachdenklich am Küchentisch sitzen. Einer der beiden Jungen war also ein Sohn der Tsosies, der gerade zu Besuch gewesen war. Das erklärte einiges. Die beiden hatten offensichtlich den Mord mitangesehen und waren deshalb in den Canyon geflüchtet. Warum hatten sie nicht versucht, Kontakt mit der Polizei aufzunehmen, sondern waren in die Wildnis geflohen? Offensichtlich hatten sie Grund zu der Annahme, dass die Mörder auf sie warten würden, wenn sie das Heim der Tsosies auf dem normalen Wege verlassen würden. Die Männer mussten sie aus dem Weg schaffen und so sahen sie ihre einzige Chance darin, in das unwegsame Canyonland zu fliehen. Nachdem Begay aufgegessen hatte, setzte er sich mit Caldwalder in Verbindung. Sie verabredeten, am nächsten Tag gemeinsam das Internat aufzusuchen, um dort vielleicht mehr herauszufinden.

       V

      Caldwalder und Begay trafen sich am Internat. Mrs. Waldon, die Klassenlehrerin von Edward Tsosie, war bereit gewesen, sie dort auch am Sonntag zu treffen. Da die beiden jüngeren Männer offensichtlich auf der Flucht waren und als Augenzeugen der Tat womöglich verfolgt wurden, duldete die Angelegenheit keinen Aufschub. Die Lehrerin, eine attraktive Mittvierzigerin, hatte die Polizisten in ihren Raum geführt.

      „Mrs. Waldon, vielen Dank, dass Sie sich heute Zeit für uns genommen haben“, eröffnete Caldwalder das Gespräch. „Edward Tsosie ist ihr Schüler?“

      „Ja“, antwortete Waldon, „und ein sehr guter Schüler, wie ich anmerken möchte.“ Sie lächelte dabei Begay an, der annahm, dass sie ihm wohl zeigen wollte, dass sie keine Ressentiments gegen Ureinwohner hatte.

      „War Edward dieses Wochenende denn zu Besuch bei seiner Familie?“, fragte Begay.

      „Ja, das hatte er vor“, antwortete Waldon. „Er ist schon am Donnerstag nach dem Unterricht losgefahren. Wir hatten ja ein verlängertes Wochenende. Darf ich fragen, was überhaupt passiert ist?“

      Begay und Caldwalder wechselten einen Blick.

      „Mrs. Waldon, die gesamte Familie von Edward Tsosie wurde ermordet. Wir haben Grund zu der Annahme, dass Edward die Tat womöglich beobachtet hat und jetzt in größter Gefahr ist“, führte Caldwalder aus.

      „Oh, Gott“, entfuhr es Waldon und sie hielt sich schnell eine Hand vor den Mund.

      „Es waren aber offensichtlich zwei junge Männer dort. Haben Sie irgendeine Ahnung, wer der zweite gewesen sein könnte? Ein Bekannter von Edward vielleicht?“

      „Ja, natürlich“, meinte Waldon, „Edward ist mit seinem Freund Adam Nicks nach Hause gefahren. Die beiden sind die besten Freunde. Edward hat Adam öfter mitgenommen. Er hat niemanden, wo er hinkann“, fügte sie erläuternd hinzu.

      „Haben Sie vielleicht Fotos von den beiden?“, fragte Caldwalder.

      „Ja, sicher“, antwortete Waldon und ging zu einem Schrank, aus dem sie ein Buch hervorholte.

      „Hier, das ist Edward!“ Sie deutete auf einen etwas verlegen in die Kamera schauenden jungen Mann mit indianischen Zügen auf einem Klassenfoto. „Und gleich daneben, das ist Adam.“ Der Junge, auf den sie zeigte, hatte dunkle Haare, eine schmale Statur und einen südeuropäisch wirkenden Gesichtsschnitt.

      „Sehen Sie mal“, sagte Begay zu Caldwalder, „Tsosie trägt Cowboystiefel!“

      „Oh, ja“, warf Waldon ein, „er hat ein Faible für Cowboy-Boots! Er ist ja sehr stolz auf seine Herkunft und betont immer seine Navaho-Tradition, aber seine Cowboystiefel müssen sein!“ Sie lachte und schüttelte gleich darauf mit trauriger Miene den Kopf.

      „Dann wissen wir ja, welche Spur zu wem gehört“, sagte Begay.

      „Das könnte uns helfen.“

      „Sind denn die beiden jetzt auf der Flucht?“, fragte Waldon sichtlich betroffen.

      „Ja, das müssen wir annehmen“, antwortete Caldwalder.

      „Ob Adam das durchhält?“, fragte Waldon besorgt. „Er war immer sehr kränklich, müssen Sie wissen.“

      „Wieso?“, fragte Caldwalder. „Was hatte er denn?“

      „Ach, allgemein war er nicht so leistungsfähig und oft krank.“

      „Wir müssen dann mit den Eltern von Adam reden“, sagte Begay.

      „Adam hat keine Eltern. Er ist Waise.“

      „Wer hat ihn denn hierher gebracht“, fragte Begay.

      „Das war eine Sozialorganisation. Die haben sich auch weiter um ihn gekümmert. Ab und zu kam jemand von denen vorbei und hat ihn besucht. Ein Doktor Robbin.“

      „Wieso haben die sich um ihn gekümmert?“

      „Er wurde wohl als Kleinkind aufgefunden. Und in dem Ort, Woodville, gab es eine Organisation, die sich um sozial Schwache und ähnliches kümmert.“

      „Was für eine Organisation war das denn“, hakte Caldwalder nach.

      „Von einer Firma. Der Name fällt mir jetzt nicht ein. Irgendwas mit Biologie“, meinte Waldon.

      „Können Sie das bitte nachsehen?“, fragte Begay.

      Waldon kramte in ihren Akten und stutzte, dann sagte sie: „Hier! BioTech Woodville. Das ist sie!“

      „Wo finden wir die?“

      Waldon las die Adresse vor und Caldwalder schrieb mit.

      „Dass Adam Nicks als Waisenkind auf ein Internat ging, leuchtet mir ein“, sagte er, „aber warum war Tsosie hier?“

      Begay antwortete für Waldon: „Die Stammesschulen sind alle zu weit weg, wenn man im Big Mountain-Gebiet lebt. Gehört ja nicht mehr zur Navaho-Reservation. Und auch die Hopi-Schulen sind unerreichbar. Wenn man in der Gegend wohnt und eine gute Schulausbildung haben will, muss man auf ein Internat gehen.“

      „Seine Brüder sind wohl nur auf die Grundschule gegangen. Edward hat mir erzählt, dass viele Kinder dort bis heute gar nicht zur Schule gehen“, ergänzte Mrs. Waldon.

      „Ach so“, machte Caldwalder. „Wir müssten Sie dann um Fotos der beiden Jungen bitten.“

      „Ja, natürlich, die gebe ich Ihnen mit.“

      „Wir haben Sie dann lange genug belästigt“, fuhr Caldwalder, nachdem er sich mit Begay mit einem Blick verständigt hatte, fort. „Wir danken Ihnen sehr für Ihre Hilfe.“

       VI

      Begay und Caldwalder saßen zusammen bei einer Tasse Kaffee in einem kleinen Lokal in Flagstaff.

      „Dass Navahos die Tat begangen haben könnten, können wir also ausschließen?“, fragte Caldwalder.

      „Ich denke ja. Navahos töten, wie gesagt, nur aus Notwehr, im Affekt oder unter Alkoholeinfluss. Ein solches Verbrechen passt dazu einfach nicht“, antwortete Begay.

      „Und was ist mit den Hopi?“

      Begay lachte. „Wissen Sie, was Hopi bedeutet?“, fragte er.

      Caldwalder verneinte und Begay fuhr fort: „Hopi heißt ‚Frieden‘ oder ‚die in Frieden leben‘, führte er aus und fügte hinzu: „Gegen die sind wir Dineh geradezu kriegerisch.“

      „Aber haben denn nicht auch die Pueblo-Indianer und die Navaho Kriege geführt?“, fragte Caldwalder verwundert.

      „Naja, in den alten Zeiten haben wir die Pueblo-Indianer manchmal überfallen, aber dabei wurde selten


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